Die ethischen Dimensionen von Supervision
Da es sich bei Supervision um ein zwischenmenschliches Ereignis handelt, das wiederum zumeist zwischenmenschliche Ereignisse thematisiert, muß ein Supervisionsmodell auch seine Anthropologie, d.h. ethischen Positionen festlegen.
Nun strebt Supervision die Förderung beruflicher Praxis an. Diese Praxis wird dann innerhalb des supervisorischen Dialogs einer kritischen Analyse unterzogen. Bei solchen kritischen Analysen sind aber grundsätzlich zwei Aspekte relevant (HÖFFE 1979):
- Das Bestehende läßt sich zum einen daraufhin überprüfen, ob es effektiv, wirkungsvoll, praktisch usw. ist, dann geht es um die Analyse und Bewertung in instrumenteller Absicht.
- Das Bestehende kann aber auch daraufhin untersucht werden, ob es dem jeweiligen Gegenüber als Mensch gerecht wurde. Dann geht es um eine ethische Analyse und Bewertung der jeweiligen Praxis bzw. ihrer Veränderung.
3.1. Die instrumentelle Bedeutung von Supervision
Jede professionelle Praxis zielt zunächst auf effektive Veränderungen. Der Supervisand, der als Therapeut seinen Klienten von einer Depression befreit, hat seine professionelle Aufgabe ebenso effektiv bewältigt, wie der Lehrer, der seine Schüler für einen neuen Unterrichtsstoff begeistern kann. Und der Supervisor erfüllt seine Aufgabe unter pragmatischen Gesichtspunkten gut, wenn er etwa Supervisanden von übertragungsbedingten Einschränkungen gegenüber Interaktionspartnern befreit.
In allen diesen Fällen findet positive Veränderung zunächst nur in einem instrumentellen Verständnis statt. Der Arbeitsauftrag eines Therapeuten oder Lehrers besteht dann ganz formal gesehen darin, effektive Veränderungen bei Klienten oder Schülern zu erzeugen. Und der Auftrag des Supervisors besteht darin, auf Supervisanden so einzuwirken, daß effektivere Veränderungen bei den professionellen Interaktionspartnern von Supervisanden angeregt werden.
Übungsaufgabe 5.: Notieren Sie sich bitte drei zentrale Ziele Ihrer Beratungsarbeit.
Wenn wir aber nun die Qualität professionellen Handelns ausschließlich nach ihren Effekten beurteilten, wäre das eine einseitige Sicht. Wir würden dann nämlich ein Praxisverständnis transportieren, bei dem alle professionellen Interaktionen selbst instrumentalisiert sind. In diesem Verständnis müßten Supervisor wie Supervisand als professionelle Akteure nur über möglichst vielfältige theoretische und methodische Qualifikationen, umfassende personale Entfaltungsmöglichkeiten, einen optimalen kontextuellen Rahmen usw. verfügen, um ihren jeweiligen Interaktionspartner immer effektiver zu "modellieren". Praktiker mit solchen verengten Perspektiven von professioneller Praxis dienen aber dann im Extrem jeder beliebigen Zielsetzung von Auftraggebern.
Beispiel 5.: Eine Firma für die Entwicklung von Software in Firseursalons opierierte im gesamten Bundesgebiet der BRD und in zwei westlichen Bundesländern Österreichs. Die 30 Mitarbeiter gehörten zwei Segmenten an: Auf der einen Seite waren die "Haustiere", die die Software im Stammhaus produzierten, auf der anderen Seite die "Außendienstler", die die Software in den jeweiligen Salons zu implantieren hatten. Bei den Außendienstlern war in den Anfangsjahren der Firma eine hohe Fluktuation zu beobachten, später ein relativ hoher Krankenstand. Der Firmeninhaber fürchtete dadurch finanzielle Einbußen und engagierte einen Coach, damit dieser in Kleingruppen die "Arbeitszufriedenheit" dieser Mitarbeiter verbessern sollte. Im Verlauf seiner Arbeit entdeckte der Coach, daß die Firma ausgesprochen monozentrisch geführt wurde, daß nämlich die Außendienstmitarbeiter kaum Entscheidungen treffen konnten und bei allen anfallenden Problemen immer erst den Chef oder seine "rechte Hand" in der Zentrale konsultieren mußten. Vom Coach auf dieses Problem angesprochen, reagierte der Firmeninhaber nur mit Bagatellisierungen. Er zeigte jedenfalls keinerlei Bereitschaft, sich mit den Statements der Außendienstmitarbeiter außeranderzusetzen. Nach einem nochmaligen Anlauf zur Klärung, der auch wieder erfolglos blieb, kündigte der Coach den Auftrag. "Ich will keine Symptome kurieren," meinte er.
3.2. Die ethische Bedeutung von Supervision
Ethische Fragestellungen wurden im Bereich der Supervision bislang kaum thematisiert. NEWMAN (1981), SCHMIDT/MEARA (1984) bezogen sich im Anschluß an amerikanische Psychologenverbände auf eine Prinzipien-Ethik, die lediglich auf die Interaktion zwischen Supervisor und Supervisand bezogen war. Der Supervisor sollte "Respekt haben vor dem Supervisanden", "keine sexuellen Beziehungen" mit ihm eingehen usw. Ethische Bewertungsmaßstäbe, an denen die Supervisandenarbeit zu messen ist, wurden dagegen nicht thematisiert. Für die Entwicklung einer Modellkonstruktion von Supervision sind aber auch diese von Belang. Deshalb muß eine Ethik von Supervision umfassender orientiert sein.
Dabei ist zu fragen,
- welche ethischen Implikationen professionelle Praxis und ihre Konsequenzen enthalten,
- welche Themen ethisch verstandene Supervision aufwerfen muß und
- wie sich ethische Entscheidungen innerhalb der Supervision treffen lassen.
3.2.1. Ethische Implikationen professioneller Praxis und ihrer Konsequenzen
Die klassische Moralphilosophie unterscheidet seit Aristoteles zwei Klassen menschlichen Tuns: "Herstellen" und "Handeln". Herstellendes Tun besteht im Bearbeiten von Naturprodukten, wie z.B. bei einem Schreiner, der einen Tisch aus Holz herstellt usw. Er muß sich ausschließlich instrumentell kundig machen, damit aus dem Naturgegenstand, Holz, ein möglichst optimales Werk, der Tisch, entsteht. Handeln dagegen, auch als "Praxis" bezeichnet, meint dagegen menschliches Tun, das zwischen Menschen vollzogen wird. Als zwischenmenschliches Ereignis ist es immer wechselseitig, findet also im Rahmen eines Kommunikations- bzw. Interaktionsprozesses statt (vgl. APEL et al. 1984). Die ethisch relevante Fragestellung ist nun, wie die jeweiligen Interaktionspartner in ihrem Handeln der Tatsache Rechnung tragen, daß ihr Tun auf ein menschliches Gegenüber, also ein Subjekt, bezogen ist. Ihr Ziel kann dabei nicht, wie gegenüber einem Gegenstand, darin bestehen, beim Partner einen modellhaften Idealzustand herbeizuführen, sondern das Ziel von Praxis muß, nach Auffassung der praktischen Philosophie/ Ethik, im Handlungsprozeß selbst liegen.
Bei der Frage nach der ethischen Bedeutung eines Handlungsprozesses muß dann gefragt werden, inwieweit in diesem Interaktionsprozeß das Humanum des jeweils anderen gewahrt ist.
Nun thematisiert die traditionelle und die moderne Moralphilosophie allerdings nicht professionelle Praxisvollzüge, sondern Handlungsprozesse, bei denen sich die Partner gleichberechtigt gegenüberstehen und sich nicht vorsätzlich, d.h. planmäßig zu verändern suchen. Im Bereich professioneller Praxis begegnen wir aber Relationen, bei denen sich die Interaktionen oft
- asymmetrisch konstellieren und
- von einem Interaktionspartner, dem Professionellen, eine planmäßige Veränderung herbeigeführt werden soll.
Bei professioneller Praxis in sozialen Arbeitsfeldern, wie Sozialarbeit, Psychotherapie, Pädagogik und Supervision handelt es sich deshalb um einen Sondertyp von Kommunikation (HABERMAS 1981).
In solche Konstellationen tritt der Klient, z.B. als psychisch Kranker oder als einer der zu "beschulen" ist, aus einer Unterlegenheitsposition ein. Er soll dann durch die Interaktion mit dem Praktiker "erstarken", sich entwickeln usw. Das Ziel professioneller Aktivitäten besteht idealiter darin, daß sich Klient und Professioneller am Endpunkt des Prozesses als Gleichberechtigte gegenüberstehen.
Professionelle soziale Praxis enthält somit einen Widerspruch: Der Praktiker muß gegenüber dem Klienten auf eine asymmetrische Rollendefinition eingehen, damit überhaupt eine symmetrische Beziehung entstehen kann.
Dabei wird im Sinne einer Komplexitätsreduktion von vielen Praktikern die professionelle Situation in der Weise ausgedeutet, daß sie in dieser asymmetrischen Relation den unterlegenen Partner, den Klienten, zu modellieren und damit zu objektivieren suchen. Im Verständnis phänomenologischer Autoren (STRASSER 1962) resultiert aber aus Asymmetrie zwischen Menschen nicht notwendigerweise Objektivierung. Auch Kinder können von ihren überlegenen Eltern oder Betreuern durchaus als Subjekte auf ihrem jeweiligen Entwicklungsniveau ernst genommen werden (BETTELHEIM 1962).
Auch aus der Planmäßigkeit professionellen Handelns, die der Berufstätige regelmäßig dem Klienten gegenüber zu realisieren hat, muß nicht notwendigerweise Objektivität re-sultieren. Aus phänomenologischer Sicht (ebenda) unterliegt eine solche Praxissituation bei den Interaktionspartnern lediglich einer unterschiedlichen Deutung mit unterschiedlichen Handlungsanforderungen. Der professionelle Aktor bereitet die Kommunikation vor und organisiert sie. Er verwendet zur Einordnung der ihm am Klienten begegnenden Phänomene fachspezifische Begriffssysteme, also planmäßige Deutungsmuster und beantwortet sie, soweit immer möglich, mit fachspezifischen Handlungsmustern. Der Klient dagegen kennt die Wahrnehmungs- und Handlungssysteme des Professionellen in der Regel nicht. Für ihn steht seine Veränderungsbedürftigkeit im Vordergrund.
Damit bleibt berufliche Praxis auf der Ebene der Supervisanden- wie der Supervisorenarbeit, obwohl sie durch Asymmetrie, wie Planmäßigkeit, charakterisiert ist, immer wechselseitige Kommunikation zwischen zwei Subjekten.
Über diese grundlegenden ethischen Implikationen professioneller Praxis hinaus hat diese aber auch ethisch relevante Konsequenzen, so wie jedes mitmenschliche Handeln derartige Konsequenzen hat. Derjenige, auf den sich Praxis richtet (passio), Supervisand wie Klient, erlebt die Wirkungen der Handlungen des anderen an sich. Der aktive Handlungspartner (actio) löst bei seinem Gegenüber etwas aus, für das er verantwortlich ist. So sind auch Supervisor und Supervisand, als professionelle Akteure, verantwortlich für die Wirkungen ihres Handelns. Sie haben für Personen oder auch Gegenstände einzustehen, für die sie Aufgaben übernommen haben, d.h. sie sind verantwortlich für diese (RIEDEL 1980).
Und jede Übernahme von Verantwortung berührt letztlich Schuldfragen in rechtlicher oder ethischer Hinsicht. Wer handelt, kann sich schuldig machen, indem er "unverantwortlich" oder "verantwortungslos" agiert.
"Verantwortlichkeit" ist allerdings kein individuelles Phänomen. Sie bezeichnet ein Entsprechungsverhältnis zwischen Menschen. Ein Mensch ist immer einem anderen gegenüber verantwortlich für das, was er getan oder unterlassen hat; denn dieser kann ihn zur Verantwortung ziehen. Von "Selbstverantwortung" läßt sich also nur dann sprechen, wenn in ein- und derselben Person, derjenige, der zur Verantwortung zieht und derjenige, der zur Verantwortung gezogen wird, in einen inneren Dialog eintritt (RIEDEL 1980).
Professionelle aller Arbeitsfelder sind ständig damit konfrontiert, wieviel Verantwortung sie für ihren jeweiligen Interaktionspartner übernehmen müssen. Sie können sich nicht pauschal auf die Selbstverantwortung von Klienten berufen, wie z.B. die Arbeit mit Suizid-Patienten verdeutlicht. So kann auch ein Supervisor nicht grundsätzlich auf die Selbstverantwortlichkeit eines Supervisanden bauen.
Über die Kommunikationsgemeinschaft mit dem Supervisanden ist er nämlich immer in einen Verantwortungszusammenhang zwischen dem Supervisanden und seinem Klienten oder anderen Interaktionspartnern eingebunden.
Beispiel 8.: Im Dezember 1993 berichtete der Spiegel folgenden Vorfall: In einem Montessori-Kindergarten hatten sich einige Mütter umfassend mit sexuellem Mißbrauch von Kindern beschäftigt. Nun meinte erst eine, dann eine andere an ihrem Kind Hinweise auf Mißbrauchserfahrungen wahrzunehmen. Sie zogen einen "Experten" als Berater hinzu, der die Mütter ermunterte, ihren Verdacht durch genaues Befragen der Erzieher und vor allem der Kinder zu erhärten. Die zwei Erzieherinnen zeigten sich nur irritiert, ein männlicher Erzieher hochgradig beunruhigt. Der Verdacht des Mißbrauchs richtete sich nun vorrangig auf den Erzieher. Darauf produzierten die Kinder eine Vielzahl von Geschichten, was "der Onkel so alles für Spiele mit ihnen gemacht hat." Bald wurde die Angelegenheit aktenkundig und der Erzieher in Untersuchungshaft genommen. Obwohl ihm kein Mißbrauch nachgewiesen werden konnte, hatte er bis zum Zeitpunkt des Spiegelberichtes schon ein halbes Jahr Haft hinter sich. Die Redakteure des Magazins mutmaßten, daß dieser Berater, der die Mütter so umfassend ermutigt hatte, ihrem Verdacht nachzugehen, ein hohes Maß an Schuld auf sich geladen hat, denn nun ist der männliche Erzieher, selbst wenn ihm nichts nachgewiesen werden kann, beruflich erledigt.
3.2.2. Themen ethisch verstandener Supervision
Nun ist zu fragen, was Supervision, die auch ethische Themen umfaßt, im einzelnen zu behandeln hat.
Hier kann es nicht nur, wie NEWMANN (1981) oder SCHMIDT/ MEARA (1984) postulieren, um Interaktionen zwischen Supervisor und Supervisand gehen, sondern hier muß auch die zwischen Supervisand und Klient thematisiert werden.
Wenn es um ethisch relevante Fragestellungen geht, denken die meisten Menschen zunächst an manifeste Moralitätsprobleme von Praxis, etwa an solche, die im Zusammenhang mit "Liebe", Sexualität oder unterschiedlichen Formen von Gewalt stehen. Fraglos ist Supervision gerade oft mit diesen Themenkomplexen befaßt. Deshalb sollte sich jeder Supervisor eine möglichst reflektierte Haltung zu den gesamten Fragen erarbeiten, die mit verschiedenen Varianten von Gewalt oder mit verschiedenen Formen von "love in the office" in Zusammenhang stehen. Am Ende dieses Abschnittes zeige ich am Beispiel von "Liebe am Arbeitsplatz", wie derartige Themen in der Supervision aufgefächert werden sollten.
Ethische Fragestellungen, die im Rahmen eines Supervisionsmodells besonderer Konzeptualisierung wert sind, müssen aber grundsätzlicher gestellt werden, d.h. sie sollten die gesamten ethischen Implikationen professionellen Handelns betreffen.
Zur Systematisierung ethischer Praxisreflexionen, die auch differenzierte Probleme erfaßt, bietet sich ein Raster aus der praktischen Philosophie/Ethik an (vgl. KRINGS nach HÖFFE 1979): Dort wird vorgeschlagen, zunächst
(1) das ethische Vorverständnis des jeweiligen Handlungspartners zu untersuchen und zu bewerten,
(2) sodann die sich im Sprechen und Handeln aktuell manifestierenden Vorstellungen von ethisch richtigem Handeln, die begleitenden Probleme und vor allem die Handlungskonsequenzen zu untersuchen
(3) und als zentrale Aufgabe ethischer Auseinandersetzung betrachtet die Moralphilosophie das Formulieren eines letzten Beurteilungsmaßstabes für ethisch richtiges Handeln.
ad (1) Das ethische Vorverständnis eines jeweiligen Professionellen resultiert aus seiner individuellen lebens- und arbeitsgeschichtlichen Situation. Sie kann, je nachdem, ob sie stärker sozialwissenschaftlich oder stärker naturwissenschaftlich orientiert ist, sehr unterschiedlich sein. Alle Aspekte dieses Vorverständnisses sind dann potentiell Gegenstand ethisch verstandener Reflexion.
Beispiel 7.: In stationären Alkoholikereinrichtungen mußten aufgrund eines Erlasses des Bundessozialgerichts ab 1968 immer einige Krankenpfleger angestellt werden. Es zeigte sich schnell, daß das Krankenpflegepersonal bei allen körperlichen Beschwerden, die die Klienten vorbrachten, sofort eilten, sie mit Umschlägen, Tabletten usw. zu versorgen, so wie sie es aus ihrem Klinikalltag gewohnt waren. Das stieß aber nun bei den bisherigen Mitarbeitern dieser Systeme in der Regel auf größte Vorbehalte. Die Aktivitäten der Krankenpfleger wurden schnell als "versorgende Medizin" definiert, die einer qualifizierten Entwöhnung entgegenstünde. In diesen Milieus werden nämlich Klienten regelmäßig verdächtigt, sich durch körperliche Symptome eine Entlastung vom Druck der Entziehungskur verschaffen zu wollen. Es dauerte in den jeweiligen Einrichtungen immer eine gewisse Zeit bis das Krankenpflegepersonal die Gründe für die "härtere Gangart" der Suchtkrankentherapeuten als "sinnvoll" zuordnen konnte und ihre beufsethischen Standards revidierte.
ad (2) Eine zentrale Aufgabe ethischer Praxisreflexion stellt die kritische Auseinandersetzung mit konkreten Handlungsweisen von Professionellen und ihre Konsequenzen dar.
Hier sind zunächst die dem Handeln unterlegten Konzepte relevant. In sozialen Arbeitsfelder, aber auch z.B. im Management-Bereich orientieren sich Professionelle explizit oder implizit an öffentlich publizierten Ansätzen. Eine kritische Reflexion in ethischer Absicht untersucht dann, inwieweit von einem jeweiligen Ansatz das Humanum erfaßt wird. Dabei interessieren allerdings häufig nicht so sehr die ethischen Verlautbarungen, wie sie von den jeweiligen Autoren offiziell propagiert werden, sondern die verdeckten ethischen Implikationen. In der Supervision muß es dann um die Analyse dieser ethischen Implikate von Handlungsmodellen gehen.
Nun ist es aber natürlich immer ein Mensch, der Ansätze einem anderen Menschen gegenüber anwendet. Praktiker sind mit laufenden komplizierten Entscheidungsprozessen bewußter wie unbewußter Art konfrontiert, wie sie personen- und situationsgerecht handeln sollen. Sie werten, beeinflussen und lösen Wirkungen aus. Alle diese Phänomene können ebenfalls Gegenstand von ethischer Praxisreflexion sein.
ad (3) Aus Sicht der Moralphilosophie/Ethik besteht die zentralste Aufgabe ethischer Auseinandersetzungen darin, einen "letzten Beurteilungsmaßstab" für ethisch richtiges Handeln zu formulieren (HÖFFE 1979).
Idealerweise sollten für ein Handlungsmodell Beurteilungsmaßstäbe formuliert werden, die dann für Supervisor und Supervisand als grundlegende Sollensanforderungen dienen könnten.
An dieser Stelle ist jedoch klarzustellen, daß es auch für die praktische Philosophie/Ethik unmöglich ist, für jeden Fall von Mensch-Mensch-Relationen schon vorab einen verbindlichen ethischen Maßstab festzusetzen. Ethisches realisiert sich nämlich in unterschiedlichen Handlungssituationen, deren Anforderungsfülle unendlich groß ist. So kann auch eine einmal getroffene ethische Entscheidung nie auf andere Situationen übertragen werden. Für das Treffen ethischer Entscheidungen sieht die kommunikative Ethik dann auch wieder einen interaktiven Zusammenhang vor (LORENZEN 1975, HABERMAS 1981, APEL et al. 1984).
Nach dem Vorbild des sokratischen Dialoges sollen in Rede und Gegenrede zwischen zwei oder mehr Personen Argumente über ethische Sachverhalte ausgetauscht werden. Als "ethisch richtig" gilt dann das, was kein vernünftiges Argument mehr widerlegen kann (ebenda). Hier ist also ein rein rationaler Dialog vorgesehen, der wiederum eine Reihe von Voraussetzungen erfüllen muß: Er sollte "herrschaftsfrei", "täuschungsfrei", von beiden Partnern "gutwillig" geführt werden usw. (ebenda). Dabei besteht aber vor allem die Anforderung, daß sich die Partner als Subjekte begegnen.
Mit diesen Postulaten fordert die moderne Moralphilosophie dann letztlich die Einhaltung eines Kataloges von Prinzipien, nach denen die Dialogsituation strukturell und inhaltlich zu gestalten ist.
Da nun auch Supervision in einer Kommunikationsgemeinschaft zwischen Supervisor und Supervisand besteht, kann auch sie, im Sinne kommunikativer Ethik, als Forum dienen, in dem ethische Maßstäbe auf zwei Ebenen verhandelt werden: Für die Arbeit des Supervisors und für die Arbeit des Supervisanden.
Wenn der Supervisor die Arbeit des Supervisanden nicht nur in einem instrumentellen, sondern auch ethischen Verständnis verbessern will, also die Veränderung bei seinen Interaktionspartnern nicht nur als erfolgreich im Sinne von Effektivität begreift, muß im supervisorischen Dialog auch Ethisches thematisiert werden. In solchen Fällen untersuchen die Gesprächspartner die Supervisandenarbeit auf ihre ethischen Gehalte und entwickeln Beurteilungsmaßstäbe für das jeweils ethisch "Richtige".
Nun läßt sich allerdings in der Supervision kaum je eine Dialogsituation konstituieren, die den Anforderungen der kommunikativen Ethik standhalten könnte. Da es aber nach allen vorhergehenden Ausführungen wichtig ist, über ethische Fragestellungen in der Supervision zu verhandeln, muß der Versuch unternommen werden, die Dialogsituation an die Maßstäbe der kommunikativen Ethik anzunähern.
Und im Gegensatz zu den Postulaten der kommunikativen Ethik ist der Dialog über ethische Themen in der Supervision breiter anzulegen. Wenn die Qualität einer Praxisinteraktion in ethischer Hinsicht untersucht werden soll, müssen auch erlebnishafte Kommunikationsmuster in den supervisorischen Dialog einfließen. Die mitmenschliche Bedeutung von Praxis erschließt sich nämlich nur, wenn die Interaktionspartner, als Körper-Seele-Geist-Subjekte, im Rollentausch nachspüren, was die Praxispartner in "actio" und "passio" (KAMLAH 1980) erleben. Wir müssen dann oft mit "unterstellter Intersubjektivität" (PETZOLD 1978) operieren, weil der Interaktionspartner des Supervisanden ja zumeist nicht anwesend ist, weil in manchen Settings, wie etwa der Teamsupervision, unumschränkt offene Dialoge zur unangemessenen Selbsteröffnung führen würden usw.
Die erlebnishafte Beteiligung ist allerdings auch immer auf dem Hintergrund eines je gegebenen historischen und raumzeitlichen Kontextes auszuspüren. Was in einer Situation zu unverantwortlichen Konsequenzen führt, mag in anderen für die Betreffenden durchaus akzeptabel sein.
Übungsaufgabe 6.: Lassen Sie bitte eine Beratungssequenz vor Ihrem innerem Auge auftauchen, von der Sie persönlich sehr berührt waren und wo Sie sich kaum in der Lage fühlten, eine ethische Bewertung vorzunehmen. Können Sie begründen, warum das in diesem Fall so schwer war?
Aus allen bisher aufgezeigten Zusammenhängen ergibt sich zweierlei:
- Jeder konkreten beruflichen Praxis sind anthropologische Setzungen unterlegt, die in der Supervision Gegenstand der Reflexion werden können.
- Aus Sicht der praktischen Philosophie/ Ethik sollten anthropologische Positionen immer möglichst ausführlich expliziert sein und dementsprechend schon bei der Konstruktion von Handlungsmodellen berücksichtigt werden.
Beispiel 8.: "Love in the office"
Im folgenden soll am Beispiel von "Liebe am Arbeitsplatz" umrissen werden, wie eine Horizontstruktur für diesbezügliche ethische Diskurse aussehen kann. Dabei ist zunächst ein historischer, bzw. wissenssoziologischer Rahmen für unterschiedliche Formen von Liebe zu entfalten, sodann das Verhältnis von Liebe und Arbeit in modernen Gesellschaften zu klären. Daran anschließend wollen wir die unterschiedliche Bedeutung von Liebesphänomenen in instutionellen Zusammenhängen und in unterschiedlichen Arbeitsfeldern beleuchten. Den Abschluß bilden Anregungen, wie die ethischen Aufgaben des Supervisors im Hinblick auf "love in the office" aussehen können.
(1) Varianten des Liebesbegriffes
Wenn in der Supervision "Liebe" thematisiert und auf ihre ethischen Implikationen reflektiert werden soll, muß zunächst geklärt werden, auf welche Phänomene sich die Erörterung genau bezieht; denn unterschiedliche Epochen haben je unterschiedliche Begrifflichkeiten von Liebe hervorgebracht, die bis heute in verschiedenen Kulturen oder Subkulturen eine Rolle spielen. Je nach ihrem historischen Kontext weisen sie je unterschiedliche Relationen zu Sexualität, Freundschaft und Ehe auf.
Die historisch älteste Form begegnet uns im griechischen Eros. Abgesehen von frühen mythischen Formen, wo ihm eine geradezu kosmische Dimension zugesprochen wurde, gestaltete sich eros in der Hochantike als homosexuelle, genauer als päderastische Liebesform aus. In dieser asymmetrischen Relation förderte ein älterer Mann einen jüngeren. Diese Interaktionsstruktur dient übrigens bis heute auch als Folie für heterosexuelle Beziehungen, in denen ein "erfahrener" Mann, eine junge "unerfahrene" Frau zu fördern sucht (BÖHME 1985). Schon im "Symposion" von Platon wird die spezifische Riskanz dieser Liebesform thematisiert: Wenn der vordergründig dominante, der werbende Partner vom umworbenen nicht erhört wird, entsteht umgekehrte Asymmetrie, d.h. der ältere "verzehrt sich vor Sehnsucht". Wenn aber der jüngere den Werbungen, besonders in sexuellem Sinne nachgibt, wird er zum "gefallenen Engel"; denn die Bedeutung von eros liegt im Lieben selbst und nicht in der Erfüllung. Diese Liebesform ist also ursprünglich nicht sexuell gedacht, sie besteht eher "im Spielen mit dem Feuer". Als dauerhaft unerfüllte Haben-Relation dient sie dem Liebenden vielmehr als Motor für überdurchschnittliche Leistungen künstlerischer oder sonstiger Art. Durch ihren unerfüllbaren Charakter ähnelt sie inzestuösen Beziehungen und befördert eine Vielzahl gegensetiger Projektionen, die bis zu grotesken Formen der Wahrnehmungsverzerrung reichen (PAGES 1968).
Ein ganz anders gelagerter Liebesbegriff begegnet uns in der christlichen Agape. Seine ethymologische Bedeutung als "Gernhaben" signalisiert geringere Emotionalisierung als der Eros-Begriff. Agape resultiert aus der neutestamentarischen Tradition als "Gottesliebe", die sich in der Gestalt Jesu manifestiert. In der Nachfolge Jesu sollen Menschen "Hingabe an den nächsten" üben. Auch hierin grenzt sie sich deutlich vom Eros ab. Der Hingebende soll nichts für sich selbst wollen. Agape ist dann nicht nur die Folie für die traditionelle Brüderlichkeitsethik, die in Dienst-leistungen oder Almosen für andere ihren Ausdruck findet, sie bildete auch lange die Vorlage für das Ideal "weiblicher Hingabe." Auch dieser Liebesbegriff ist grundlegend asymmetrisch gedacht und auch er birgt eine Reihe von Risiken; denn derjenige, der Almosen erhält, wird leicht zum Objekt. Er dient nämlich der Selbsterhöhung des Gebenden (BÖHME 1985). Als Vorbeugung gegen solche Phänomene wurde besonders im Pietismus die Selbsterniedrigung des Hingebenden gefordert, was allzu leicht paradoxe oder verwirrende Gefühle erzeugt. Die Amalgamierung mit Sexualität ist hier zunächst nicht vorgesehen. Wenn sie den Gebenden aber doch "überkommt" geht sie mit besonders starken Selbstanklagen einher (LUHMANN 1982). Diese müssen aber immer geheimgehalten werden, weil schon der auslösende Affekt selbst "sündig" war.
Das bevorzugte Liebesschema des Mittelalters ist die Minne. Wie Eros und Agape stellt auch sie ein Konzept dar, das nur in "höheren Kreisen" relevant war. Ein Ritter oder Knappe bringt der Frau seines Lehnsherren seine Verehrung entgegen. Hier wird also die ranghöhere Frau vom rangniederen Mann verehrt. Aufgrund der basalen Konstellation muß auch diese Liebe von Anfang an unerfüllt bleiben, also eine "Liebe auf Distanz" (BÖHME 1985). Sie beflügelt dann, wie beim Eros, den Ritter zu großen Taten. Es handelt sich aber gleichfalls um eine Haben-Relation, bei der sich der Ritter in den Augen seiner "Dame" als mehr oder weniger großartig widergespiegelt sieht. Diese Relation bildet bis heute die Vorlage für "Ritterlichkeit" von Männern gegenüber Frauen. Sie dient aber auch als Folie für "Schwärmereien" rangniederer Männer gegenüber ranghöheren Frauen. Wenn es hierbei entgegen den Spielregeln doch zur Sexualität kommen sollte, rückt auch solche Relation in die Nähe des Inzestes. Das wiederum wird als umso probematischer gewertet, je patriarchalischer das Umfeld ist; denn im Partiarchat sollte ja immer der Mann in der ranghöheren Position sein.
Bei Leidenschaft oder "Passion" (LUHMANN 1982) handelt es sich um eine relativ junge Variante des Liebesbegriffes. Sie entstand in der Romantik. Nach dem Rokoko, in dem Liebe und Sexualität oft getrennt wurden, bzw. neben der Ehe planmäßig außereheliche Beziehungen üblich waren, finden wir in der Romantik nun eine Bündelung intimer Phänomene, d.h. Freundschaft und Sexualität sollen in die rechtlich legitimierte Form der Ehe münden. Im Gegensatz zu den bisher beschriebenen Liebesbegriffen ist sie nicht mehr Privileg höherer Stände, sondern gleichlaufend mit der "Entdeckung individueller Subjektivität" einerseits und der zunehmenden Vergesellschaftung des einzelnen andererseits soll sie jedem Menschen maximale Intimität garantieren. Als grundlegend demokratisierte und symmetrische Liebesvariante treffen zwei Menschen aufeinander, um ihre existielle Einsamkeit zu überwinden. Sie suchen im anderen maximale Verständigung, bzw. sie steuern sich auf ein beidseitig entwickeltes Extremmaß von Intersubjektivität ein. Das Risiko dieser Liebesform liegt fraglos in ihrer emotionalen und privatistischen Überfrachtung, die dann auch noch in einem rechtlich legitimierten Rahmen, also in der Ehe realisiert werden soll. Die "romantische Liebe" ist so immer von Enttäuschungsreaktionen des einen oder anderen Partners bedroht; wenn sich nämlich der zuerst geteilte Sinn als doch nicht so umfassend oder dauerhaft wie gewünscht erweist oder er zu stark projektiv überinterpretiert wurde. PAGES (1968) sieht das Risiko dieses Liebesphänomens aus existentialphilosophischer Perspektive in der Verleugnung existentieller Einsamkeit. "Wahre Liebe" könne erst entstehen, wenn jeder der Partner seine eigene Einsamkeit akzeptiert und dann zum anderen als ebenfalls einsamen ein solidarisches Verhältnis aufbaut.
Neuerdings finden wir eine Reihe emtionaler Verflachungen, die sich in Begriffen wie "Beziehung", "Beziehungskiste" usw. verdichten lassen. Sie entstanden vermutlich einerseits als Antwort auf die Riskanz der romantischen Liebe, andererseits aus der generellen Liberalisierung von Sexualität, aber auch als Konsequenz zunehmender Vereinnahmung des Menschen durch versachlichte Lebenswelten.
(2) Zum Verhältnis von Liebe und Arbeit
"Liebe" einerseits und "Arbeit" andererseits müssen wir als zwei unterschiedliche anthopologische Kategorien begreifen.
Liebe ist, wie wir gesehen haben, in all ihren historischen Begrifflichkeiten als emotionales Phänomen charakterisiert. Sie weist, abgesehen von der klassischen Agape, immer Aspekte von Gefühlseskalationen auf. In der heute am weitesten verbreiteten Form, der romantischen Liebe, bildet sich eine Intimitätsdichte, die automatisch andere ausschließt. Und in sexualisierten Varianten von Eros, Minne oder Agape tritt zu dem exklusiven Charakter meist noch die Tabuisierung, bzw. das Verbergen der Liebe vor anderen hinzu.
"Arbeit" dagegen bezeichnet strukturiertes Tätigsein. Sie fordert dem einzelnen Disziplin, oder mindestens Selbstbedrängnis ab. Sie steht nicht auf der Basis von Gefühlen, sondern auf der Basis von Gefühlsregulationen. Und sie findet in "organisierten Gesellschaften" (WILLKE 1989) zumeist in organisierten Systemen statt, die vom einzelnen grundsätzlich das Primat von Rationalität einfordern. Gefühlsmäßige Regungen sind dann nur insoweit akzeptabel, als sie die Aufgabenerfüllung nicht beeinträchtigen (BÖHME 1985).
Es läßt sich also behaupten, daß Liebe und Arbeit geradezu entgegengesetzte anthropologische Phänomene darstellen. So ist es nur konsequent, wenn Liebe am Arbeitsplatz immer die Möglichkeit irgendwelcher Formen von Irritation bei den Liebenden und den anderen erzeugt. Trotzdem ist in einer Arbeitsgesellschaft (ebenda) gerade der Arbeitsplatz der Ort, wo sich die meisten Liebesbeziehungen anbahnen. In diesem Zusammenhang drückt sich eine generelle Paradoxie moderner Gesellschaften aus. "Love in the office" läßt sich dann auch als grundlegende Form des Widerstandes von Menschen gegen versachlichte Lebenswelten begreifen.
(3) Liebe in institutionellen Zusammenhängen
Wir hatten gesehen, daß es sich bei Liebesphänomenen um "Codierung von Intimität" (LUHMANN 1982) handelt. So steht sie prinzipiell im Widerspruch zu sozialen Systemen, d.h. die Liebenden schließen implizit die anderen aus. In institutionalisierten Zusammenhängen stellt sich dieses Faktum noch drängender: die Liebenden sondern sich aus dem rationalisierten Ensemble durch ihre emotional fundierte Zweisamkeit ab.
Auf diesem Wege werden sie automatisch zu Protagonisten einer "emotionalen Subkultur", was immer in das Gesamtsystem "abstrahlt." Plötzlich "blühen" nämlich auch bei den anderen die Emotionen auf, die sie oft nur mühsam im Zaun gehalten hatten. Es entwickeln sich allerlei "Eifersüchte-leien" und "Verdächtigungen, was sich die beiden wohl in ihrer Intimität gegen die anderen ausbraten". Solche Emotionen bleiben aber im allgemeinen verdeckt, d.h. sie manifestieren sich nur hinter dem Rücken der Liebenden; denn "man" möchte ja vermeiden, sich offen als eifersüchtig zu zeigen usw. So entsteht in Systemen prinzipiell eine "besondere" Interaktionsdynamik zwischen den Liebenden und den übrigen Systemmitgliedern, die nicht selten paranoide Akzente aufweist.
Nun finden wir allerdings in unterschiedlichen Organisationen oder Organisationstypen eine je unterschiedliche Bewertung von Liebesbeziehungen, aber auch unterschiedliche Formen von Liebe. Man kann sogar behaupten, daß in jeder "Organisationskultur" andere Muster üblich sind. So begegnen uns etwa in bürokratischen Institutionen, wie etwa Verwaltungssystemen, notorisch tabuisierte Formen. Jeder weiß, daß auch hier Liebe am Arbeitsplatz üblich ist, sie wird aber nur "hinter verschlossenen Türen" verhandelt. In Organisationen mit "technizistischen" Kulturen, wie etwa der pharmazeutischen Industrie bittet man die Liebenden offen, sich getrennt in neue Abteilungen zu begeben. In manchen Organisationen dagegen, die stark emotionalisierte Kulturen ausgebildet haben, wie es oft bei therapeutischen Fort- oder Ausbildungsinstituten zu beobachten ist, wird jede neue Liebesbeziehung sogar übermäßig enthusiastisch gefeiert.
Bei Liebesbeziehungen am Arbeitsplatz ist von besonderer Bedeutung in welcher Rollenkonstellation sich die Liebenden begegnen. Die Komplikationen sind vergleichsweise gering, wenn sie beide "noch zu haben sind." Problematischer stellt sich die Lage, wenn ein Partner verheiratet ist. In kirchlichen Tendenzbetrieben stellt Ehebruch einen fristlosen Kündigungsgrund dar und in Einrichtungen der katholischen Kirche sogar die Wiederverheiratung nach offizieller Ehescheidung. Solche Regelungen eröffnen den übrigen Systemmitgliedern automatisch einen Raum für "Erpressungen" der Liebenden. Solche Situationen führen aber auch zu Loyalitätskonflikten der Systemmitglieder gegenüber Trägervertretern, wenn sie von der Liebesbeziehung Kenntnis haben. Innerhalb des betreffenden Sozialsystems werden sich jedenfalls eine Vielzahl von Beunruhigungen ergeben, denn solche Beziehungen erhalten immer den Odem des "Illegitimen."
Eine besondere Variante von "love in the office" finden wir bei Liebe zwischen Vertretern verschiedener hierarchischer Ebenen. Handelt es sich bei Liebe auf gleicher hierarchischer Ebene häufiger um Formen "romantischer Liebe", begegnen wir bei Relationen aus unterschiedlichen Hierarchie-Ebenen meistens den anderen Formen. Wenn sie sexualisiert sind, werden sie von den Systemmitgliedern immer in die Nähe des Inzests phantasiert und als "illegitime Bündnisse" gewertet. Sie stellen prinzipiell einen stärkeren Unruheherd dar als andere Liebesbeziehungen, weil sie in aller Regel besonders stark tabuisiert sind. Selbst wenn sie in homoerotischer und nicht-sexualisierter Form praktiziert werden, geben sie Anlaß zu vielfältigen Verdächtigungen und Intrigen. So kann etwa die besondere Förderung, die das Vorstandsmitglied einer Bank, im Sinne von Eros, einem Mitarbeiter, der drei Ränge unter ihm angesiedelt ist, zukommen läßt, umfassenden Neid bei den Kollegen des Mitarbeiters erzeugen. Hier kommt es nicht selten zu verdecktem Boykott, so daß der Geförderte gar nicht umhin kann, den oder die Boykottierenden beim "hohen Herrn anzuschwärzen", dadurch wird er dann als "Denunziant" gebrandmarkt usw.
Es wäre allerdings ein Irrtum anzunehmen, daß nur als "illegitim" empfundene Beziehungen Belastungen für organisatorische Zusammenhänge darstellen. Oft gereichen gerade die durch Ehe legitimierten Relationen Systemmitgliedern "zur Plage". Ein ewig "clinchendes Pärchen", ein "ständig eifer-süchtiger Ehemann" oder auch ein Paar, das immer zusammensteht, lassen Peinlichkeiten oder Verdächtigungen entstehen. Ehepaare am Arbeitsplatz erzeugen oft noch stärker als Liebespaare durch ihren schon erworbenen, hohen Intimitätsgrad bei den anderen Systemmitgliedern "chronische" Irritationen.
(4) Liebe in unterschiedlichen Arbeitsfeldern
Nun wurde schon oben deutlich, daß Liebesphänomene in unterschiedlichen Organisationstypen eine je unterschiedlich "irritierende" Bedeutung erhalten und auch unterschiedlich ungünstige Konsequenzen für das Gesamtsystem haben, insbesondere, wenn sie zwischen unterschiedlichen hierarchischen Ebenen stattfinden.
Besonders prekär werden Liebes-Relationenen, vorrangig solche mit sexuellem Charakter, in Organisationen agogischer Arbeitsfelder. Hier finden wir ja prinzipiell zwei organisatorische Subsysteme, eines der professionellen Mitarbeiter und eines der "Klienten", von denen das professionelle auf die Klienten günstig einwirken soll. Wenn nun ein Vertreter des professionellen Subsystems zu einem Vertreter des Klientensystems eine sexuell eingefärbte Liebesbeziehung entfaltet, handelt es sich grundsätzlich um eine illegitime Form. Die legale Basis aller dieser Relationen, die historisch als säkularisierte Formen der Agape entstanden sind, muß eine primär Gebende in dem Sinne sein, daß der Professionelle seine Bedürftigkeit gegenüber dem Klienten zu kontrollieren und einzudämmen hat. Wenn sich etwa gegenüber jungen Klienten eine sexualisierte Beziehung im Sinne von Eros entfaltet oder gegenüber gleichaltrigen eine im Stile romantischer Liebe, hat der Professionelle sein berufliches Ziel an diesem Klienten verfehlt, und er hat den Klienten für seine Belange ausgebeutet, bzw. objektiviert.
Da Professionelle in aller Regel in der einen oder anderen Weise ursprünglich von den Klienten als idealisierte Eltern phantasiert werden, weisen solche Relationen alle Aspekte inzestuöser Relationen auf. Da professionelle Beziehungen aber per definitionem als entsexualisierte Agape angelegt sind, werden sie von den betreffenden Professionellen besonders eifrig vertuscht. Die umfassendsten Vertuschungsstrategien nicht nur einzelner, sondern gesamter Kolektive finden wir dann dort, wo die Agape offiziell in ihrer reinsten Form propagiert wird, nämlich in kirchlichen Einrichtungen.
Solche Übergriffe lassen sich vermutlich am häufigsten dort beobachten, wo qua Aufgabenerfüllung intensive Gefühlsbezüge zu den Klienten gefordert sind, wo der institutionelle Rahmen schwach ist und wo die Klientel ein ähnliches Alter aufweist, wie die Professionellen. Das sind dann, wie sich auch neuerer Literatur entnehmen läßt (POPE/BOUHOUTSOS 1992 u.a.), "freie" psychotherapeutische Praxen.
Der Ausbeutungscharakter manifest sexualisierter Therapie-Relationen läßt sich nicht durch Beendigung der Therapie ungeschehen machen; denn die Beschädigung des Klienten ist meistens schon in seiner Genese angelegt und durch die therapeutischen Übergriffe nur noch zementiert worden. Im Ver-ständnis von Agape stellen aber selbst nicht-manifest sexualisierte Therapie-Beziehungen ein Unding dar; denn der Professionelle hat prinzipiell die Aufgabe seine Bedürftigkeit zu regulieren. Selbst Liebesbeziehungen, die erst nach Beendigung der Therapie aufgenommen werden, müssen meistens als problematisch beurteilt werden; denn Elternübertragungen erweisen sich in vielen Fällen als äußerst resistent, und so bilden auch sie meistens die Basis für eine Haben-Beziehung.
Das, was heute über sexualisierte Therapie-Beziehungen schon umfassender erarbeitet wurde, gilt im Grundsatz auch für supervisorische. Auch hier finden wir nämlich immer, wenn auch mildere Formen unterschiedlicher Übertragungen.
(5) Aufgaben von Supervisoren im Zusammenhang mit Liebesphänomenen in der Arbeit
Wie in den generellen Ausführungen zur Ethik von Supervision deutlich wurde, läßt sich auch bei "love in the office" nicht immer gleich eine bündige ethische Bewertung vornehmen, mit Ausnahme sexueller Übergriffe von Professionellen auf Klienten. Aus allem bisherigen wurde deutlich, daß es sich hier regelmäßig um ethisch inakzeptable Habenbeziehungen handelt. Komplizierter stellt sich die Bewertung schon bei "ehemaligen Klienten" und erst recht bei allen anderen derartigen Phänomenen, seien sie manifest sexualisiert oder nicht, seien sie zwischen Menschen gleichen oder anderen Geschlechts.
Hier muß dann oft erst eine umfassende, erlebnishafte Rekonstruktion der infragestehenden Beziehung unternommen werden. Dabei ist dann in einem multiparadigmatischen Verständnis nicht nur das Befinden der jeweiligen Individuen und ihre spezielle Rollenkonstellation zu untersuchen, sondern auch das Umfeld, in das die Beziehung eingebettet ist. Dann sind Organisationsstruktur und -kultur, die Kultur des Berufsfeldes, die möglichen Konsequenzen für die Systemmitglieder und andere Interaktionspartner zu betrachten.
Im Zuge der Rekonstruktion von Liebesphänomenen entfalten sich bei den supervidierten Personen eine Vielzahl von emotionalen Phänomenen, die ebenfalls Gegenstand des supervisorischen Dialoges sind. Aller Voraussicht nach sind diese am dichtesten, wenn der Supervisand selbst in ein hochgra-dig illigetimes Bündnis verstrickt ist oder sich gerade zu verstricken droht. In gravierenden Fällen widersetzen sich Supervisanden schon dem Aufdecken solcher Relationen, was gelegentlich sogar zum Abbruch der Supervision führen kann und damit zum Abbruch des Dialoges, in dem ethische Ausein-andersetzungen stattfinden könnten. Aus diesem Grund sollten Supervisoren ihre diesbezüglichen Vermutungen immer so behutsam wie möglich artikulieren; denn derartige Vermutungen stellen nicht nur einen Angriff auf die professionelle, sondern auch die menschliche Kompetenz der Supervisanden dar. Mißbrauch in therapeutischen und besonders in pädagogischen Arbeitsfeldern ist auch für die Professionellen selbst meist hochgradig tabuisiert, so daß sie ihre diesbezüglichen Gefühle und Handlungen zu vertuschen oder zu beschönigen suchen.
Wenn es bei solchen illegitimen Bündnissen, in die der Supervisand selbst eingebunden ist, gelingt, einen Dialog über diese zu führen, ist auch wieder äußerste Sensibilität geboten. Da sich in solchen Fällen oft auch der "Täter" unglücklich und suchtartig an sein "Opfer" gebunden fühlt, muß es dann vorrangig darum gehen, den Supervisanden zu unterstützen, wie er die Relation für sich und das Opfer verantwortlich beendet. In Fällen, wo keinerlei Unrechtsbewußtsein besteht oder die Ereignisse nur beschönigt werden, sollten Supervisoren ihren Kontrakt beenden und sich zunächst an einschlägige Berufsverbände wenden, mit der Bitte, daß dem "Täter sein Handwerk gelegt" werden soll. Da derartige Phänomene auch nur selten im Zusammenhang von Strafprozessen geahndet werden, bleibt dem Supervisor in vielen Fällen nur, sich mit seiner eigenen Ohnmacht zu arrangieren (Schreyögg 1993).
Literaturhinweise
Grundlagenliteratur zur Moralphilosophie/
Ethik
Apel, K.-O., Böhler, D., Rebel, K.-H. (Hrsg.), Praktische Philosophie/Ethik, Studientexte 1-3, Funkkolleg, Beltz, Weinheim und Basel 1984
Apel, K.-O., Böhler, D., Kadelbach, G. (Hrsg.) Praktische Philosophie/Ethik: Dialoge, Bd. 1 und 2, Frankfurt/M. 1984
Höffe, O., Kadelbach, G., Plumpe, G. (Hrsg.) Praktische Philosophie/Ethik Bd. 1 und 2, Frankfurt/M. 1981
Literatur zur Ethik von Supervision
Newman, A.S., Ethical issues in the supervision of Psychotherapy, in: Professional Psychology, 12/1981 6, p. 690-695
Schreyögg, A., Supervision - ein integratives Modell, Lehrbuch zu Theorie und Praxis, Junfermann, Paderborn 1992 (2. Auflage)