Die Bedeutung organisationsanalytischer Muster für die Supervision

Die Bedeutung organisationsanalytischer Muster für die Supervision

Wie schon in der "Einführung in die Integrative Supervision" deutlich wurde, kommt organisationsanalytischen Deutungsmustern in diesem Ansatz zweifache Bedeutung zu. Sie dienen:

- zur Systemdiagnostik supervisorischer Themen und der Supervisionssituation sowie
- zur Veränderung organisatorischer Systeme.

1. Als Systemdiagnostikum

Konzepte zur Analyse des Kontextes sind unverzichtbar zum angemessenen Erfassen supervisorischer Themen und zur Auseinandersetzung mit der Supervisionssituation.

1.1. Zur Analyse supervisorischer Themen

Wie immer wieder betont, ist jede Praxis durch ihren Kontext mitbestimmt. Die Mehrzahl aller professionellen Handlungsvollzüge findet heute in organisatorischen Kontexten statt, also in Kliniken, Beratungsstellen, Unternehmungen, Verbänden usw. Dementsprechend stehen auch die meisten Themen von Supervisanden in einem Zusammenhang mit organisatorischen Phänomenen. Oder anders gesagt, viele Fragestellungen, die von Supervisanden zunächst auf einer  individuellen oder interaktionalen Ebene angeboten werden, erweisen sich bei sorgfältiger Rekonstruktion als kontextuell bedingt.

Übungsaufgabe 1.: Überlegen Sie bitte, welches berufliche Problem Sie in den letzten Jahren als besonders gravierend erlebt haben. Wie deutlich hatte es mit Bedingungen eines organisatorischen Systems zu tun?

In solchen Fällen muß der Supervisor über ein möglichst umfassendes Inventarium an organisationsanalytischen Mustern verfügen, damit er den Supervisanden nicht unangemessen "klientifiziert" oder auch seine Fragestellungen nicht unangemessen emotionalisiert.

1.2. Zur Analyse der Supervisionssituation

Heute aktualisiert sich auch supervisorische Arbeit selbst sehr häufig in organisatorischen Systemen. So stellt bei der "Teamsupervision" die Organisation den unmittelbaren kontextuellen Zusammenhang dar, der das professionelle Handeln nicht nur von einzelnen Teammitglidern oder des Teams als Gesamt beeinflußt, sondern auch die Interaktionen zwischen Team und Supervisor. Organisatorische Konzepte sind hier unverzichtbar, damit der Supervisor sein Handeln und das der Teammitglieder in konkreten Supervisionssituationen angemessen genug erfassen kann.

Übungsaufgabe 2.: In "hierarchie-freien" Drogeneinrichtungen kommt es immer wieder vor, daß Supervisoren ganz unangemessen scharf attackiert werden. Haben Sie eine Vorstellung, warum das gerade in hierarchie-freien Systemen geschieht? Diskutieren Sie diese Frage bitte in Ihrer Arbeitsgruppe.

2. Als Orientierung für organisatorischen Wandel

In diesem Supervisionsansatz werden unter bestimmten Voraussetzungen, auch Aufgaben von "Organisationsberatung" als Gegenstand von Supervision betrachtet. Organisationsanalytische Deutungsmuster dienen dabei als diagnostische Grundlage zur Ermittlung des Ist-Zustandes einer Einrichtung und zur Orientierung für mögliche Veränderungen (siehe Abschnitt "Geplanter organisatorischer Wandel").

Beispiel 1.: Die Mitglieder eines Fortbildungsinstitutes, das rund fünf Jahre bestand, fragten um Teamsupervision an, weil sie sich laufend in heftige Auseinandersetzungen verstrickten. Nach einer eigehenden Analyse stellte sich heraus, daß hier weniger personale Divergenzen relevant waren, als dysfunktionale organisatorische Muster. Durch sein Größenwachstum hatte das System einen Umfang erreicht, bei dem die bisherigen improvisatorischen Handlungsformen der Organisationsmitglieder zu laufenden Reibungsverlusten führen mußten. Bei der Beratung ging es im weiteren Verlauf primär darum, aktuell funktionalere Verfahrungsweisen implantieren zu helfen.

II. Der Begriff "Organisation" und die Differenzierung organisationstheoretischer Muster

In einem ersten Schritt will ich den Begriff "Organisation" und die grundlegenden Zugänge zur Analyse von Organisationen erläutern.

1. Der Begriff "Organisation"

Entsprechend der modernen organisationstheoretischen Literatur sind Organisationen "soziale Gebilde, die dauerhaft ein Ziel verfolgen und eine formale Struktur aufweisen, mit deren Hilfe die Aktivitäten der Mitglieder auf das verfolgte Ziel ausgerichtet werden sollen" (KIESER/KUBICEK, 1983, S. 1).

Eine Organisation unterscheidet sich durch ihre "Organisiertheit" ganz grundsätzlich von anderen sozialen Systemen wie z.B. Familien oder psychotherapeutischen Kleingruppen. Zwar werden auch in diesen Systemen Ziele verfolgt und koordinierte Aktivitäten entwickelt. In einer Organisation verfestigen sie sich aber zu formalen Regelungen. Sie zielen hier als schriftlich oder mündlich präzisierte Festschreibungen darauf, das Verhalten der Organisationsmitglieder dauerhaft planmäßig zu steuern.

Organisationsmitglieder, die in der einen oder anderen Weise gegen diese Formalien verstoßen, müssen dann mit formalen Sanktionen rechnen (LUHMANN 1964).

Übungsaufgabe 3.: Haben Sie in Ihrer Berufsgeschichte schon erlebt, daß jemand gegen formale Regelungen eines Systems verstoßen hat? Wurden Sanktionen angewandt und welche waren es? Fanden Sie diese gerechtfertigt?

2. Die Differenzierung organisationstheoretischer Muster

Organisationstheoretische Ansätze lassen sich grundsätzlich danach unterscheiden, ob sie den Ist-Zustand eines organisatorischen Systems oder seinen Prozeß beschreiben.

2.1. Konzepte zur Analyse des Ist-Zustandes

Die meisten Organisationstheorien beschäftigen sich mit dem Ist-Zustand von organisatorischen Systemen. Hierbei lassen sich aber auch wieder zwei Konzept-Gruppen unterscheiden, nämlich Ansätze, die

- planmäßige organisatorische Phänomene verhandeln oder Konzepte, die
- nicht-planmäßige Erscheinungen zu strukturieren suchen.

Diese Konzept-Gruppen implizieren unterschiedliche theoretische Grundmuster, die für die Organisationsanalyse, aber auch für die Gestaltung von Organisationen je unterschiedliche Bedeutung haben.

2.1.1. Zur Analyse formaler Muster

Da sich Organisationen im Gegensatz zu anderen Sozialsystemen vorrangig durch geplante Regelungen auszeichnen, setzten sich Organisationstheoretiker auch über große Strecken nur mit diesen auseinander. Viele postulieren gar bis heute, daß Organisationen ausschließlich durch diese determiniert sind.

Solche traditionellen Organisationsansätze ergeben in supervisorischen Zusammenhängen analytische Anhaltspunkte, wie Praxis und supervisorische Praxis durch geplante organisatorische Vorgaben beeinflußt wird.

Nun erweist sich aber manche, ursprünglich gut gedachte Regelung, im Laufe der Zeit doch als untauglich oder nur begrenzt tauglich, um ein bestimmtes Organisationsziel zu erreichen. Sie erzeugt dann dysfunktionale Erscheinungen. Vielfach führen Regelungen, an denen unbesehen festgehalten wird, zu Erstarrungen des Gesamtsystems oder sie werden innerhalb einer Organisation immer rigider interpretiert usw. Auf dem Hintergrund dieser Gruppe von Organisationskonzepten läßt sich dann vielfach erklären, wie formale organisatorische Regelungen dysfunktionale Erscheinungen in Organisationen und der in ihnen ausgeübten Praxis nach sich ziehen.

Übungsaufgabe 4.: Fällt Ihnen eine Regelung an Ihrem Arbeitsplatz ein, die Sie dysfunktional finden? Wenn ja, welche ist das?

2.1.2. Zur Analyse nicht-formaler Muster

Im Verständnis moderner Organisationstheoretiker erschöpft sich die Auseinandersetzung mit innerorganisatorischen Phänomenen aber nicht in der Analyse ihrer formalen Besonderheiten. Jede Organisation läßt sich nämlich im Verständnis LEWINs (1958) auch als menschliches Sozialsystem begreifen, das durch seine Besonderheiten das Denken und Handeln des Einzelnen, seine Interaktionen und sogar sein kollektives Dasein bestimmt. So ergeben sich auch innerhalb von Organisationen eine Vielzahl von zwischenmenschlichen Beziehungsformen, die das organisatorische Geschehen mitbestimmen.

Sie stehen allerdings hier, anders als in nicht-formalen Gruppierungen wie in Familien oder in Freundesgruppen, auf dem Hintergrund eines formalen Sozialsystems.

Beispiel 2.: Besonders in vielen Familienunternehmen zählt nicht so sehr die Meinung des "Chefs", sondern der Chefsekretärin.

Übungsaufgabe 5.: Kennen Sie solche oder vergleichbare Situationen? Versuchen Sie solche Phänomene zu begründen.

In organisatorischen Gebilden ergeben sich jedenfalls immer eine Fülle von nicht-geplanten Vorgängen, die allerdings nur für Organisationen spezifisch sind. Auch diese wurden Gegenstand vielfältiger Konzeptbildung.

Solche Ansätze dienen dann in der Supervision als Deutungsmuster für ungeplante, also nicht beabsichtigte, organisatorische Phänomene und ihren Einfluß auf professionelles Handeln von Supervisor wie Supervisand.

2.2. Konzepte zur Analyse von Prozeßphänomenen

Nun stellen Organisationen wie andere soziale Systeme keine statischen Gebilde dar, sondern sie sind im Laufe der Zeit Wandlungen unterworfen. Auch hierzu finden wir allerlei Konzeptbildungen. In ihnen wird die Organisation entweder

- einem Organismus vergleichbar als sich phasenweise entwickelnd betrachtet oder sie wird primär
- als Produkt ihrer Umwelt gesehen oder man sucht sie
- als sich aktiv selbstentfaltetes soziales Phänomen zu begreifen.

Prozeßmodelle dienen in der Supervision zur Auseinandersetzung mit der historischen Genese von Organisationen und der Prognose ihrer Zukunftsperspektiven in einer jeweiligen organisatorischen Umwelt.

Beispiel 3.: In einem alternativen Verlag, der sich in den 10 Jahren seines Bestehens einen beträchtlichen Ruf erworben hatte, sollten alle internen und externen Abläufe stärker formalisiert werden. Das erwies sich aber als großes Problem. Zum einen konnten die geplanten Veränderungen nur gegen den ausdrücklichen Widerstand der Mitarbeiter durchgesetzt werden, zum anderen erlitt der Verlag seit dieser Zeit deutliche Umsatzeinbußen.

Übungsaufgabe 6.: Können Sie sich vorstellen, warum die organisatorischen Veränderungen im Beispiel 3. weder von innen noch von außen akzeptiert wurden? Versuchen Sie eine Begründung.

Durch Verwendung von Organisationsprozeßmodellen läßt sich bei Supervisanden zum einen ein tieferes Verständnis von ihrem Arbeitsplatz fördern. Zum anderen dienen Prozeßmodelle zur Handlungsorientierung, wie sich ein bestimmtes System in bestimmten Stadien sinnvoller als bisher gestalten läßt.

III. Konzepte zur Analyse der Ist-Situation von Organisationen

Wie soeben angesprochen, lassen sich bei der Analyse von organisatorischen Ist-Situationen zwei unterschiedliche Phänomengruppen von Organisationen akzentuieren, die formalen und die nicht-formalen. Dementsprechend können wir auch die Konzepte zur Analyse von Ist-Zuständen nach zwei Gruppen von Konzepten differenzieren:

- Eine Gruppe von Ansätzen stellen formale, d.h. planmäßige Phänomene von Organisationen ins Zentrum, die anderen
- nicht-formale, bzw. nicht-geplante Erscheinungen.

1. Konzepte zu geplanten organisatorischen Mustern

Ansätze zur Strukturierung geplanter organisatorischer Phänomene gründen sich auf die "Bürokratieforschung" von Max Weber (1921). Spätere Generationen von Organisationstheoretikern entwickelten seine grundlegenden Überlegungen fort. Auf dem Hintergrund empirischer Untersuchungen suchten sie die von WEBER beschriebenen Variablen und Determinanten entweder weitergehend auszudifferenzieren oder sie versuchten umgekehrt, sie  zu mildern oder sie gar "abzuschaffen".

1.1. Das theoretische Grundmuster und seine Kritik

Da das Bürokratiemodell von WEBER den Dreh- und Angelpunkt aller Konzepte zur Analyse formaler organisatorischer Muster darstellt, soll es an dieser Stelle als basale Denkfigur dieser Gruppe von Ansätzen dargestellt und kritisch umrissen werden.

1.1.1. Das Grundmuster

Ausgangspunkt des Bürokratiekonzeptes war eine soziologische Analyse. WEBER ging urspünglich der Frage nach, wie in der Moderne im Gegensatz zu traditionellen Gesellschaften Herrschaft ausgeübt wird. Als typische Herrschaftsform demokratischer Gesellschaften beschrieb WEBER dann die "Bürokratie".

Sie ist seiner Meinung nach durch eine ganz spezifische Binnenstruktur charakterisiert (MAYNTZ 1974, 1968):

- Sie weist ein arbeitsteiliges Strukturmuster auf, in dem jedes Mitglied festgelegte Einscheidungsbefugnisse und Pflichten mit der entsprechenden Befehlsgewalt hat. Entscheidungsbefugnisse und Befehlsgewalten sind durch Regeln personenunabhängig festgelegt. Dadurch entsteht eine formale, personenunabhängig gedachte Struktur. Organi-sationsmitglieder werden dann so ausge-sucht, daß sie in diese Struktur "hinein-passen".

- Ein bürokratisches System beinhaltet ein festgefügtes Muster von Über- und Unterordnungsverhältnissen, eine sogenannte Amtshierarchie, die die Abstimmung zwischen Aufgabenbereichen garantieren soll. Die Befehlsgewalt jeder Amtsinstanz ist klar geregelt. Treten Konflikte auf, daß etwa einzelne Positionsinhaber Kompetenzen überschreiten oder Aufgaben nicht wahrnehmen, muß die nächsthöhere Instanz eingeschaltet werden. So ist neben dem Befehlsweg von oben nach unten ein sogenannter Appellationsweg, bei Beschwerden oder interpersonellen Konflikten, von unten nach oben vorgesehen.

- Auch die Aufgabenerfüllung erfolgt nach festgesetzten Regelungen. Diese schreiben fest, welche Leistungen vom einzelnen zu erbringen sind und wer mit wem über welche Angelegenheiten wie kommunizieren darf oder muß.

- Alle Aktivitäten werden aktenmäßig abgewickelt, d.h. die Kommunikation erfolgt über den Dienstweg, also über Briefe, Formulare, Aktennotizen usw. Diese Schriftstücke werden aufbewahrt. Sie sollen alle entscheidenden innerorganisatorischen Maßnahmen kontrollierbar machen.

Diese Organisationsform konstituiert sich also durch eine perfekt geplante, formalisierte Binnenstruktur, die maximale Zielerreichung garantieren soll.

Übungsaufgabe 7.: Ermitteln Sie bitte, welche dieser Merkmale ein System aufweist, dem Sie selbst angehören oder früher angehörten. Versuchen Sie auch zu ermitteln, in welchem Ausprägungsgrad diese Merkmale vorhanden sind oder waren.

1.1.2. Kritik des Grundmusters

Dieses organisatorische Grundmuster erweist sich auf zweifache Weise als problematisch:

- aus instrumenteller und
- aus anthropologischer Sicht.

a. Kritik in instrumenteller Hinsicht

In der modernen Organisationssoziologie (vgl. MAYNTZ 1968) und vor allem in der modernen Managementlehre (vgl. GROCHLA 1972, STEINMANN/SCHREYÖGG, G. 1993) blieb die bürokratische Organisationsform nicht unwidersprochen.

Auf dem Hintergrund TAYLORscher Prinzipien, wonach eine Organisation rigoros strikt arbeitsteilig zu gestalten ist, erwies sich das bürokratische Modell in seiner reinen Form in vielen Fällen als wenig effizient. Seine Strukturen sind so starr, daß innerorganisatorische Innovationen, die ja meistens durch nicht kontrollierbare Umweltveränderungen notwendig werden, nur unter Mühe oder gar nicht realisierbar sind.

Die strukturelle Festlegung des Gesamtsystems führt auch zur Lähmung von Initiativfreude und Kreativität des Einzelnen, wodurch eine Organisation immer innovationsfeindlich ist. Diese Argumentation spielt vor allem bei neuen Organisationsansätzen, wie sie durch die "lean organization" (CORSTEN/WILL 1993) intendiert sind, eine Rolle. Hiernach wird dann der generelle Abbau bürokratischer Strukturen gefordert.

Beispiel 4.: In Jugend- und Sozialämtern finden wir häufig Konstellationen, wo auch die  kleinste  Anschaffung erst von überge-

ordneten Instanzen genehmigt werden muß. In solchem Ambiente begegnen uns dementsprechend überdurchschnittlich viele Mitarbeiter, die keinerlei Initiative mehr entfalten.

b. Kritik in anthropologischer Hinsicht

Mit der "Bürokratie" umreißt WEBER einen stilisierten Typus beruflicher Systeme in modernen Gesellschaften. Das einzelne Organisationsmitglied hat sich gewissermaßen entpersönlicht und vor allem auschließlich rational in das organisatorische Gesamt einzufügen. Individuelle menschliche Handlungsräume in Organisationen sind dadurch auf ein Minimum reduziert, ja bereits das Bedürfnis nach ihnen erscheint schon fast als "Störfall".

Unter historischen Gesichtspunkten besteht nach WEBER (1921) der gesellschaftliche Fortschritt der Bürokratie gerade in der Einschränkung individueller und emotional bestimmter Handlungsmöglichkeiten. In vorbürokratischen, patriarchalischen Gesellschaften erfolgte Machtausübung durch Einzelne oder Personengruppen, die ausschließlich auf dem Hintergrund individueller, nicht-rationaler Herrschaftsformen Macht nach Belieben ausüben konnten. In der Bürokratie begegnet uns demgegenüber eine Form der Herrschaft, die "aus dem Verlangen nach Rechtsgarantien gegen Willkür" (WEBER 1976, (1921), S. 565) individuelle Machtausübung durch strukturelle, rational bestimmte Macht ersetzt. Sie ist dementsprechend auch eine typische Begleiterscheinung von Massendemokratien, in denen soziale und ökonomische Unterschiede nivelliert werden.

Übungsaufgabe 8.: Hatten Sie schon mal Kontakt mit einem Familienunternehmen, das von einem "starken Patriarchen regiert" wird? Können Sie sich vorstellen, welche Probleme dort für die Mitarbeiter auftreten? Diskutieren Sie bitte die Konsequenzen eines solchen nicht-bürokratischen Systems für die Mitarbeiter.

Der "gesellschaftliche Fortschritt", der dem Bürokratiemodell innewohnt, wird aber "durch den potentiellen Freiheitsentzug des einzelnen erkauft" (HABERMAS 1981, S. 477). Und wie GOFFMAN (1961) zeigt, führt diese Organisationsform in ihrer pervertierten Extremvariante, als "totale Institution", zu vielfältigen psychischen Deformationen.

In dieser Besonderheit ist auch die Abneigung humanistisch-psychologischer Ansätze gegen bürokratische Systeme begründet. Äußert sich diese Abneigung bei psychotherapeutischen Autoren mehr als allgemeine Kulturkritik (vgl. PERLS 1973), hat sie sich bei Organisationstheoretikern in manifesten Neugestaltungsvorschlägen von organisatorischen Strukturen niedergeschlagen. Wie wir im Zusammenhang mit "geplantem organisatorischen Wandel" noch sehen werden, versuchte besonders die "Human-Resources-Bewegung" auf dem Hintergrund der humanistisch- psychologischer Positionen "humanisierte" Organisationsformen zu entwickeln (LIKERT 1967, AGYRIS 1975 u.a.).

1.2. Modifikationen des theoretischen Grundmusters

Heute finden wir selten extrem bürokratische Systeme, die Bürokratie bildet aber doch meistens das strukturelle Grundmuster moderner Organisationsgestaltung - und weithin auch das gedankliche Muster von Organisationsanalysen.

Im weiteren Verlauf der Entwicklung haben Autoren die Variablen und Determinanten bürokratischer Systeme

- zunächst immer weitergehend auszudifferenzieren versucht und erst in neuerer Zeit beobachten wir
- mit der "Lean Organization" Versuche, bürokratische Strukturen grundlegend zu modifizieren.

1.2.1. Differenzierende Positionen

Im Verständnis von Organisationstheoretikern (KIESER/KUBICEK 1983) fordern hochkomplexe Gesellschaften arbeitsweltlichen Systemen immer vielfältige Aufgabenspezialisierungen und deren Koordination ab. Im Sinne der eingangs beschriebenen Definition verfügen deshalb heute alle realen Organisationen über eine mehr oder weniger ausgeprägte formale Binnenstruktur, mit deren Hilfe das Handeln der Organisationsmitglieder auf das Organisationsziel in planmäßiger Weise ausgerichtet werden soll.

Im Gegensatz aber zum Bürokratiemodell, bei dem das Ideal darin besteht, sämtliche Beziehungen und Aufgaben in ihrer Gesamtheit formal vorzuregeln, begreift die moderne Organisationstheorie

- formale Strukturmuster von Organisationen, wie z.B. Arbeitsteiligkeit, nur noch als einzelne, sich funktional entwickelnde Variablen,

- die von einigen grundlegenden Determinanten, wie etwa den Zielen einer Organisation oder ihrer Größe, abhängig sind.

a. Strukturvariablen

Eine planmäßige Organisationsstruktur läßt sich im Verständnis moderner Autoren (vgl. FRESE 1980, KIESER/KUBICEK 1983 u.a.) als ein formales Muster von Regeln betrachten, die mehr oder weniger intensiv ausgeprägt sind oder deren Ausprägung mehr oder weniger funktional ist. Diese Regeln beziehen sich vorrangig auf folgende organisatorische Variablen:

- die Arbeitsteilung,

- die Stellenverteilung und auf

- die Vorregelung der jeweiligen Aufgabenerfüllung.

(1) Arbeitsteilung

Als strukturelles Grundprinzip jeder Organisation wird die Arbeitsteilung gesehen. Da es in einer Klinik oder Unternehmung gänzlich unmöglich ist, daß ein Mensch allein alle anfallenden Aufgaben wahrnehmen und ausführen kann, bedarf es einer Reihe von Menschen, die sich dann zweckmäßigerweise auf bestimmte Teilaufgaben spezialisieren.

Beispiel 5.: In einem Krankenhaus sind die Schwestern und Pfleger für die Pflege zuständig, das Röntgenpersonal für die Strahlendiagnostik usw. Diese Mitarbeiter bekleiden dann bestimmte Positionen mit jeweiligen Rechten und Pflichten. Aus dieser Aufgabenspezialisierung ergibt sich dann ein arbeitsteiliges Muster.

Dabei kann die Arbeitsteiligkeit in einer Organisation mehr oder weniger ausgeprägt sein. Man spricht dann von "hoher" oder "niedriger Aufgabenspezialisierung".

Aufgabenspezialisierung kann aber nun problematische Konsequenzen nach sich ziehen, wenn sie unangemessen hoch oder unangemessen niedrig ist.

Beispiel 6.: So effektiv es etwa unter ökonomischen Perspektiven sein mag, wenn eine Fabrikarbeiterin immer nur einen bestimmten Handgriff schnell und sicher auszuführen hat, so wenig bekömmlich ist dies möglicherweise für ihre psychische Gesundheit (vgl. ARGYRIS 1975).Und so sinnvoll hohe Aufgabenspezialisierung eines orthopädischen Kinderheimes im Hinblick auf die somatische Behandlung der Kinder sein mag, kann sie sich für ihre psychische Entwicklung als dysfunktional erweisen. Wenn die verschiedenen "Spezialdienste" die Kinder zur Massage, zur Heilgymnastik usw. jeweils aus ihrer Bezugsgruppe herauslösen, haben sie möglicherweise kaum je Zeit und Ruhe, Sozialerfahrungen in einer stabilen Gruppe zu vollziehen.

Aber auch ein zu niedriger Grad formaler Aufgabenspezialisierung birgt Komplikationen.

Beispiel 6.: In alternativen Betrieben etwa, wo oft programmatisch auf formale Vorregelungen verzichtet wird, begegnen uns gelegentlich vielfältige Reibungsverluste, wenn die Aufgabenstellung für die einzelnen Mitarbeiter unklar bleibt und in der aktuellen Kommunikation ständig neu ausgehandelt werden muß. Allein die Aushandlungs-Prozesse binden eine Fülle von Energien.

(2) Die Stellenverteilung

Unterschiedliche Spezialaufgaben eines arbeitsteiligen Systems müssen aber nun koordiniert werden. Dies geschieht durch

- übergeordnete Instanzen und
- durch "unterstützende Stellen".

(2.1.) Übergeordnete Instanzen

Übergeordnete Instanzen, d.h. Führungspositionen sind mit Entscheidungsbefugnissen, Weisungsrechten und Pflichten ausgestattet. Sie erhalten das Recht, bestimmte organisatorische Entscheidungen nach innen oder nach außen zu treffen, anderen Stelleninhabern Anweisungen zu erteilen und die Aufgabenerfüllung von bestimmten Positionsinhabern zu überprüfen bzw. zu kontrollieren.

Beispiel 7.: Eine Stationsschwester hat die Aktivitäten des übrigen Pflegepersonals "ihrer" Abteilung zu koordinieren, zu beraten und zu kontrollieren. Sie kann diese Aufgabe wegen des Schichtdienstes natürlich nicht allein bewältigen, weshalb ihr jeweils eine Stellvertreterin zur Seite steht.

Diese Führungspositionen werden unter Umständen wieder von noch höheren Instanzen koordiniert. Die Stationsschwester untersteht dann wieder der Pflegedienstleitung usw. Aus allen über- und untergeordneten Stellen einer Organisation ergibt sich dann ein hierarchisches Muster (vgl. KIESER/ KUBICEK 1983), das als "Sollensstruktur" mithilfe von "Organigrammen" (JOSCHKE 1980) dargestellt wird.

Übungsaufgabe 9.: Fertigen Sie bitte eine Organigramm von einem System an, mit dem Sie besonders häufig zu tun haben. Achten Sie auf die Aufgabendifferenzierung und auf die Führungspositionen. Versuchen Sie ein grobes Anforderungsprofil für jede Stelle zu notieren.

Innerhalb eines solchen hierarchischen Musters hat jeder Vorgesetzte neben seinen Weisungs- und Kontrollaufgaben eine supervisorische Funktion im Sinne "admini-strativer Supervision." So ist es z.B. formale Aufgabe der Stationsleitung, die professionellen Deutungs- und Handlungs-muster des übrigen Pflegepersonals zu fördern und zu überwachen.

Je nachdem nun, wieviele Stelleninhaber einer Führungsperson unterstehen, spricht man von einer "Leitungsspanne". Eine große Leitungsspanne besteht, wenn Vorgesetze viele Stelleninhaber anzuleiten und zu kontrollieren haben, eine kleine Leitungsspanne dagegen, wenn ihnen nur zwei oder drei Mitarbeiter unterstellt sind. Große Leitungsspannen finden wir etwa in Werbeagenturen, wo viele Mitarbeiter nur einem "Chef" zugeordnet sind. Kleine Leitungsspannen dagegen bestehen in manchen Produktionsbetrieben, wenn etwa ein Vorarbeiter nur zwei oder drei Arbeiter zu beaufsichtigen hat und er selbst mit nur zwei oder drei Kollegen wieder einem Vorgesetzten untersteht.

Im Alltagsverständnis wäre eine Organisation mit geringen Leitungsspannen "sehr hierarchisch", eine mit großen dagegen "wenig hierarchisch". Die Mitarbeiter sind dann automatisch direkteren Kontrollen unterworfen. Ihr persönlicher Handlungsspielraum ist dementsprechend im zweiten Fall größer als im ersten. Es ist nämlich schon aus Praktikabilitätsgründen ganz unmöglich, daß ein Vorgesetzter zwanzig Mitarbeiter überwacht, oder ganz allgemein "führt", während zwei oder drei Personen in ihren relevanten Aktivitäten leicht zu überschauen sind.

Die spezifische Art einer hierarchischen Struktur wird als "Konfiguration" bezeichnet.

Gerade im Zusammenhang mit der Hierarchisierung können sich eine Vielzahl von Problemen ergeben.

In stark hierarchisierten Organisationen erleben sich die Mitarbeiter meistens durch die intensive Kontrolle in ihren persönlichen Handlungsräumen eingeschränkt, was nicht selten unproduktiven Widerstand nach sich zieht.

In schwach hierarchisierten Organisationen, also mit großer Kontrollspanne, entfalten die Mitarbeiter auf gleicher hierarchischer Ebene oft ein ausgeprägtes "Eigenleben", das nicht selten "symmetrische Eskalationen", also nur schwer auflösbare Rivalitätskonflikte befördert.

(2.2.) Unterstützende Stellen

Neben den ausführenden Positionen und Instanzen, den sogenannten Linienstellen, finden sich in vielen Organisationen "unterstützende Stellen" (KIESER/KUBICEK 1983). Sie tragen nicht direkt, sondern indirekt zur Aufgabenerfüllung bei. Positionsinhaber dieser, auch als "Stabsstellen" benannten Positionen, haben gegenüber den ausführenden Stelleninhabern und deren Vorgesetzten, keine Entscheidungs- und Weisungsbefugnisse, sondern unterstützende Funktion. Sie beraten, bereiten Entscheidungen vor usw.

Sie besetzen vielfach ganze Abteilungen, die sogenannten Stabsabteilungen, innerhalb derer dann allerdings auch wieder Vorgesetzten-Untergebenen-Verhältnisse im Sinne einer "Linie" bestehen.

Forschungs- und Werbeabteilungen von Produktionsbetrieben, Fortbildungsabteilungen von Verwaltungssystemen usw. sind solche Stabsabteilungen.

Beispiel 8.: Der Begriff "organisations-interner Supervisor" bezeichnet auch eine Stabsposition (vgl. NELLESSEN 1987). Das ist dann ein Berater, der in einem organisatorischen System nicht die dort sonst üblichen Aufgaben erfüllt, sondern ausschließlich für die Supervision der "Linienmitarbeiter" zuständig ist. Die ausführenden Stellen und Instanzen ziehen ihn bei Bedarf zur Beratung heran. Im Prinzip ist aber auch ein sogenannter freier Supervisor, wenn er eine Organisation oder eine organisatorische Einheit supervidiert, für den Zeitraum dieser Aktivitäten in die Organisation als "Stabsmensch" eingebunden.

Die formale Bewertung unterstützender Stellen als "nur" Stabsstellen könnte den Eindruck erwecken, daß ihren Aufgaben innerhalb von Organisationen ein geringerer Stellenwert zukommt. Als Finanz- oder Forschungsabteilung können Mitglieder von Stabsabteilungen zeitweise oder dauerhaft ein umfassendes Machtpotential in Organisationen akkumulieren, ja oft zur tragenden Gruppierung werden.

Gerade Mitarbeiter in Stabsfunktionen erhalten oft, durch ihre scheinbar unbedeutende Position, eine Vielfalt an Informationen, die ein Linienvorgesetzter nur schwer erlangen kann. Das begünstigt aber wiederum Mißtrauen seitens der "Linienleute". So muß auch ein organisationsex- oder -interner Supervisor vielfach mit der Skepsis übergeordneter Instanzen rechnen.

Übungsaufgabe 10.: Haben Sie schon einmal eine Stabsfunktion innegehabt? Welche Erfahrungen hatten Sie dann mit den "Linienleuten? Diskutieren Sie bitte diese Frage in Ihrer Gruppe.

(3) Vorregelung der Aufgabenerfüllung

Ein wesentliches Charakteristikum von Organisationen besteht, wie wir eingangs beschrieben haben, darin, daß die Aktivitäten der Organisationsmitglieder durch generelle Regeln festgelegt sind. Diese Regeln beziehen sich, im Sinne von Aufgabenspezialisierung und Hierarchisierung, nicht nur auf ihr Verhältnis zueinander, sie beziehen sich meistens auch auf bestimmte Verfahrensweisen bei Ausübung ihrer Aufgaben.

Beispiel 9.: Fließbandarbeiter erhalten Arbeitsanweisungen, Lehrer haben sich an Lehrpläne und didaktische Handreichungen zu halten usw.

Wie umfassend und präzise die Gesamtheit aller Regeln ist, die in einer Organisation bestehen, bezeichnet den "Standardisie-rungsgrad" (vgl. MAYNTZ 1963).

Eine bürokratisches System ist durch eine Vielzahl von Regeln charakterisiert. Es ist als "hochstandardisiert" zu bezeichnen. "Schwach standardisiert" sind demgegenüber "alternative" Betriebe, in denen laufend vorläufige Regelungen, also "Improvisatio-nen" und einmalige Einzelverfügungen, d.h. "Dispositionen" üblich sind (vgl. KOSIOL 1959).

Wie anhand des Bürokratiemodells schon angesprochen, leiden Organisationsmitglieder in hochstandardisierten Organisationen regelmäßig unter Verengungen ihrer persönlichen Handlungsspielräume, weil ihre Aufgabenerfüllung durch eine Vielzahl von Regulativen vorgeregelt ist. Ein unangemessen hoher Standardisierungsgrad kann auch sinnvolle Aufgabenerfüllung erschweren oder geradezu unmöglich machen.

Beispiel 10.: Extrembeispiele dysfunktionaler Standardisierung finden wir etwa in Kliniken, bei denen auch schwerst erkrankte Patienten erst eine große Zahl von Formalitäten erledigen müssen, bevor sie behandelt werden.

Umgekehrt führt aber auch ein zu geringes Maß an innerorganisatorischer Standardisierung zu dysfunktionalen Effekten. Die Organisationsmitglieder sind dann oft persönlich überlastet, zu all und jedem anfallenden Vorgang ad hoc eine entsprechende "selbstgebastelte" Regelung oder Entscheidung zu treffen.

Beispiel 11.: Besonders in neugegründeten Unternehmen begegnen uns chaotische Formen von Improvisation und Disposition, die nicht nur viele "Pannen" gegenüber Kunden nach sich ziehen, sondern auch zur totalen Überforderung der Mitarbeiter führen können.

b. Determinanten von Strukturvariablen

In der empirischen Organisationsforschung wurde zu ermitteln versucht, durch welche Determinanten, die ursprünglich dem Bürokratiemodell entlehnten organisatorischen Strukturvariablen, wie der Grad an Spezialisierung, Standardisierung usw. bestimmt werden (vgl. FRESE 1980, SCHREYÖGG, G. 1990).

Die Untersuchungen zeigen, daß neben der Zielsetzung insbesondere die Größe einer Organisation für ihren Strukturierungsgrad maßgeblich ist. Je größer eine Organisation, desto umfassender und vielfältiger werden planmäßige Regelungen getroffen. Das heißt im Prinzip, je größer, desto bürokratischer ist ein organisatorisches System.

Beispiel 12.: So zeigt die Erfahrung, daß etwa große pychiatrische Kliniken mit 900 und mehr Betten fast automatisch "bürokratischer" strukturiert sind, als kleine Einrichtungen mit 100 und weniger Patienten. In kleinen Kliniken oder solchen, die stark parzelliert, also in selbständige Unterabteilungen segmentiert wurden, finden wir dagegen einen generell niedrigeren Strukturierungsgrad. In solchen Einrichtungen entwickeln sich dann innerhalb der Mitarbeiterschaft unmittelbarere mitmenschliche Beziehungen. Das einzelne Organisationsmitglied erhält breitere Spielräume zur aktuellen Disposition usw. Und auch die Beziehungen der Mitarbeiter zu den Patienten, sowie der Patienten untereinander gestalten sich automatisch lebendiger (ROSENGREEN 1964).

1.2.2. Entwicklungen zur Lean Organization

Während Autoren in den USA und in Europa eine unendliche Mühe darauf verwandten herauszufinden, wie sich die beschriebenen organisatorischen Variablen auf die jeweils bestehenden Determinanten in der "richti-gen" Weise einstellen lassen, sprach es sich in den letzten Jahren zunehmend herum, daß erfolgreiche japanische Unternehmen ihren Organisationen völlig andere Prämis-sen zugrundelegen.

Die industrielle Entwicklung in Japan setzte viel später ein als die in Europa und den USA, dementsprechend war sie auch nicht durch das Bürokratiemodell und den Taylorismus geprägt.

Hier finden wir alle die beschriebenen organisatorischen Variablen in einer ganz geringen Ausprägung, d.h. viel weniger Arbeitsteiligkeit, viel weniger Hierarchie und viel weniger Standardisierung. Dadurch scheint sich bei den Mitarbeitern ein viel höhreres Maß an Kreativität sowie Bereitschaft zum Mitdenken und zur Mitgestaltung zu entfalten. Sie scheinen auch ein weitaus geringeres Statusdenken innerhalb der Systeme zu entfalten.

Beispiel 13.: Es wird immer wieder von japanischen Automobilherstellern berichtet, daß ihre Topmanager sequenzenweise im Verkauf tätig sind, um die Wünsche der Kunden aus erster Hand kennenzulernen. Das ist bei deutschen Automobilherstellern noch unvorstellbar.

So finden wir derzeit bei Organisationstheoretikern (CORSTEN/WILL 1993) und bei Firmenmitarbeitern gleichermaßen Intentionen, Unternehmen nach dem Muster japanischer Unternehmen umzugestalten.

Viel verwendete Schlagworte sind hier "Kaizen", kontinuierliche Verbesserungsprozesse, "Lean Production", hierarchiearme Organisation und "Re-engeniering", grundlegende Umorganisation.

Ziel ist, Organisationstrukturen zu schaffen, die es ermöglichen, auf alle aktuellen Entwicklungen des Marktes möglichst flexibel zu reagieren. Aus diesem Grund sucht man "schlanke Organisationen", also hierarchiearme Strukturen zu schaffen, in denen alle Entscheidungen möglicht weit nach unten verlagert sind. Auf diese Weise sollen die Arbeiter auch hierzulande ein Maximum an Entscheidungskompetenz erhalten, das ein neues Selbstbewußtsein und ein neues Verantwortungsgefühl für das Unternehmensgesamt erzeugt.

Beispiel 14.: Der Spiegel berichtet von einem Umstrukturierungsvorhaben in einer deutschen Firma, das die Unternehmensberatung "Gemini" mit dem Chef von Wintershall, Detharding, durchführte: "In einem deutschen Unternehmen, das hat Detharding dabei gelernt, werden viele Dinge doppelt und dreifach gemacht. Weil die Mitarbeiter in der Vergangenheit mit Mißtrauen behandelt wurden, mußte ständig kontrolliert werden - "ein unendlich teurer Prozeß. Für den Einkauf selbst von Lappalien waren zum Beispiel bis zu 17 Unterschriften notwendig, die Beschaffung dauerte bis zu 30 Tagen. Seit die Verwender ihr Material selbst bestellen, hat sich die benötigte Zeit auf wenige Tage reduziert. Und, im Gegensatz zu früher, wird jetzt nichts mehr auf Vorrat besorgt. Nun ist die Verwaltung viel schlanker - und vor allem billiger. Die Verwaltungskosten sanken um 40 Prozent (Spiegel 11/1994).

Oberstes Prinzip ist der sprarsame Umgang mit materiellen und menschlichen Ressourcen.
 
Im Gegensatz zu traditionellen Strukturkonzepten fällt am Konzept der Lean Organization vor allem zweierlei auf:

- Nun wird der einzelne Mensch als "zentrale Ressource" betrachtet, die nicht mehr beliebig austauschbar ist (SPRINGER 1993, THÖNNES 1993).

- Es beseht tendenziell die Idee, daß formale Strukturen unnötig sind. Das ist jedoch ein Irrtum, denn auch die schlankeste Organisation bedarf eines grundlegenden strukturellen Rahmens als Orientierung für die Mitarbeiter (PFEIFFER/WEIß 1993).

Übungsaufgabe 11.: Versuchen Sie bitte anhand der Kriterien, die eine schlanke Organisation chrakterisieren, zu ermitteln, ob das organisatorische System, mit dem Sie am meisten Berührung haben, diesen Kriterien entspricht. Stellen Sie fest, wieviele Hierarchie-Ebenen vorhanden sind, wo die relevanten Entscheidungen getroffen werden und ob den Mitarbeitern auf der "richtigen" Ebene Entscheidungen zugetraut werden.

1.2.3. Bewertung der Ansätze

Nun wollen wir auch für die Nachfolgemodelle des klassischen Ansatzes eine Bewertung unter pragmatischen und unter anthropologischen Gesichtspunkten vornehmen.

(1) Bewertung unter pragmatischen Gesichtspunkten

Selbstverständlich werden auch die Möglichkeiten, organisationsverändernde Maßnahmen durch Supervision einzuleiten, durch die Größe und den damit einhergehenden Grad der Strukturierung mitbestimmt. Läßt sich in kleinen Einrichtungen, die durch wenige Regulative charakterisiert sind, vieles noch in Dialogen aushandeln, gilt dies auch für den supervisorischen Dialog. Selbst in Fällen, wo Berater von übergeordneten Instanzen ausdrücklich für umfassende organisatorische Umgestaltungen großer Einrichtungen engagiert werden, erweist sich solches Unterfangen als ausgesprochen mühsam und langwierig.

Aus allem Bisherigen ergibt sich, daß Supervision, die auch Veränderungen planmäßiger Variablen anstrebt, am erfolgversprechendsten in kleinen Einrichtungen ist - aber auch nur dann, wenn hierarchie-hohe Organisationsmitglieder in die Supervision miteinbezogen werden. Letztlich kann nur durch sie eine legitime Modifikation dieser Bedingungen erfolgen. In vielen anderen Fällen kann es nur Aufgabe von Supervision sein, die Organisationsmitglieder darin zu unterstützen, daß sie ihre Praxisprobleme auf dem Hintergrund der organisatorischen Struktur zuzuordnen lernen, daß sie also neue Deutungsmuster erwerben. In manchen Situationen kann es auch sinnvoll sein, die Supervisanden darin zu fördern, daß sie neue Handlungsmuster entwickeln, über die sie Vorgesetzte zur Korrektur innerorganisatorischer Bedingungen gewinnen.

Bei der Bewertung dieser Ansätze in ihrer Bedeutung für die Supervision ist allerdings zu unterscheiden, welcher Wert ihnen als Grundlage für

- die zukünftige Gestaltung eines Systems zukommt und wie sehr sie
- als Analysemuster geeignet sind.

Da arbeitsweltliche Organisationen immer Ziele zu realisieren haben, hängt ihr Bestand regelmäßig davon ab, wie effektiv sie ihre Ziele erreichen. Als wesentliches Instrument zur effektiven Zielerreichung werden dann immer, mehr oder weniger deutlich ausgeprägt, formale Strukturmuster, im Sinne von Arbeitsteilung usw. zu etablieren sein. Sie sind also für den Bestand von Organisationen im Prinzip unverzichtbar (MAYNTZ 1963).

Die in diesen Ansätzen beschriebenen organisatorischen Variablen und Determinanten bilden dann die Grundlage für planmäßige Umgestaltungen von Organisationen im Sinne einer Effektivierung.

(2) Bewertung unter anthropologischen Gesichtspunkten

Unter ethischen Gesichtspunkten geht es für den einzelnen Mitarbeiter darum, wieviel persönlich zu füllenden Spielraum eine gegebene Organisationsstruktur ihm als Mensch ermöglicht. Bei der Bewertung von Ansätzen muß es dann auch darum gehen, wieviel menschlicher Handlungsspielraum in ihnen konzeptionell vorgesehen ist.

Diese Perspektive ist auch maßgebend für viele moderne "Organisationsentwickler", die sich entweder auf humanistisch-psychologische Positionen (z.B. TREBESCH 1980) oder Konzepte des Lean Managements (CORSTEN/WILL 1993) beziehen. Dabei ist jedoch wieder zu differenzieren zwischen diesen beiden Gruppierungen:

Wo bei "Organisationsentwicklern" das Ideal organisatorischen Wandels von Anbeginn durch ein doppeltes Zielsystem charakterisiert ist, nämlich maximale organisatorische Zielerreichung bei maximal großen Handlungsräumen des einzelnen Organisationsmitgliedes zu realisieren, setzt die Lean-Debatte bei der Effektivität an. Hier besteht die Überzeugung, daß maximale Effizienz nur durch Gewährung maximaler Handlungsspielräume für den einzelnen zu realisieren ist.

Grundsätzlich läßt sich sagen, daß solche Perspektiven den ethischen Positionen des hier vorgelegten Ansatzes im wesentlichen entsprechen. Organisatorische Gestaltung kann niemals ausschließlich an der Effizienz eines organisatorischen Systems orientiert sein, sie kann allerdings auch nicht ausschließlich im Dienste des jeweiligen individuellen "Wohlbefindens" von Menschen stehen. Eine Organisation, die keinerlei Effekte erbringt, würde ihren Bestand, und damit die Arbeitsplätze ihrer Mitglieder gefährden.

In Supervisionen, die auch Aufgaben von Organisationsberatung miterfassen, muß im Verlauf umfassender Dialoge die "genau richtige" Balance zwischen beiden Zielkomponenten herausgearbeitet werden.

Gleichzeitig ist aber auch bei neueren organisationstheoretischen Entwicklungen immer Skepsis geboten: denn auch diese Ansätze laufen wie das Bürokratiemodell Gefahr, Menschen im Sinne einer Maschinenmetapher zu begreifen. Im Verständnis sozialwissenschaftlicher Paradigmatik, wird der Einzelne immer als determiniert durch das soziale Gesamtsystem begriffen, sein individueller, subjekthafter Gestaltungsraum ist primär unter Effizienzkriterien mitgedacht. Im Ensemble eines Systems von aufeinanderbezogenen Positionen sind an ihn formal vorgegebene Rollenerwartungen gerichtet, die er nur um den Preis negativer Sanktionen unerfüllt lassen kann.

Aus diesen Gründen muß eine organisatorische Analyse, die sich nur auf diese Gruppe von Ansätzen bezieht, reduktionistisch bleiben.

 

Literaturhinweise

Zur Bürokratie

Weber, M., Wirtschaft und Gesellschaft, Grundriß der verstehenden Soziologie, 2. Halbbd., J.C.B. Mohr (P. Siebeck), Tübingen 1976 (orig. 1921)

Mayntz, R. (Hrsg.), Bürokratische Organisationen, Köln-Opladen, Berlin 1968

Zur Organisationstheorie allgemein

Kieser, A., Kubicek, H., Organisation, 2. Aufl., Berlin, New York 1983

Mayntz, R., Soziologie der Organisation, Frankfurt/M. 1963

Zur Lean Organization

Corsten, H., Will, T. (Hrsg.), Lean Production, Schlange Produktionsstrukturen als Erfolgsfaktor, Stuttgart, Berlin, Köln 1993

Zur Organisation in der Supervision

Schreyögg, A., Supervision - ein integrative Modell, Lehrbuch zu Theorie und Praxis, 2. Aufl., Paderborn 1992