Die methodischen Maßnahmen der Gestalttherapie
Die Gestalttherapie wurde von Friedrich S. PERLS, seiner Frau Lore PERLS und Paul GOODMAN entwickelt. Sie ist ein tiefenpsychologisch orientiertes Verfahren, in das erkenntnistheoretische Positionen der Gestaltpsychologie, der Phänomenologie sowie existential-philosophisches Gedankengut und fernöstliche Meditationsformen integriert wurden.
Es handelt sich um ein Therapiesystem, das den Menschen als Leib-Seele-Geist-Subjekt zu erfassen sucht und das in seiner methodischen Orientierung phänomenologisch, also gegenwarts- und personenbezogen orientiert ist.
Das Ziel des Verfahrens besteht darin, Menschen in ihrer gefühlshaften, intellektuellen und leiblichen Dimension zu erfassen, um sodann bestehende Blockierungen im Erleben, Wahrnehmen und Handeln aufzulösen. Gleichlaufend damit sollen individuelle, noch nicht genutzte Potentiale freigesetzt werden.
Die "Pioniere" der Gestalttherapie praktizierten zunächst im einzeltherapeutischen Setting und wechselten dann auf eine Form von "Einzeltherapie in der Gruppe". Erst spätere Generationen von Gestalttherapeuten entwickelten unter dem Einfluß der Gruppenbewegung den Ansatz als gruppalen fort.
Die Gestalttherapie findet heute bei unterschiedlichsten Altersgruppen wie Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen und alten menschen, bei unterschiedlichster Klientel, wie Neurotikern, Menschen mit Psychosen und Psychosomatosen, Suchtkranken usw. Verwendung. Sie dient dabei nicht nur zur Bearbeitung von Defiziten, sondern auch als "Selbsterfahrungsmaßnahme" zur Persönlichkeitsentwicklung von "gesunden" Menschen (SÜSS/MARTIN 1978, HARTMANN-KOTTEK-SCHROEDER 1983, PETEZOLD 1984a, BÜNTE-LUDWIG 1984 u.a.).
Insbesondere im deutschsprachigen Raum wurde die Gestalttherapie vielfach mit dem Psychodrama kombiniert und durch die Verwendung kreativer Materialmedien methodisch ergänzt (PETZOLD 1988, 1989).
Durch ihre Herkunft aus der Psychoanalyse ist die Gestalttherapie weniger aktions-orientiert als das Psychodrama. Es lassen sich aber auch hier die einzelnen methodischen Maßnahmen danach sortieren, inwieweit sie die Handlungsebene von Menschen mitberühren. Das sind dann
- Awarenessübungen
- Sprachspiele,
- Rollenspiele,
- Experimente und
- Hausaufgaben.
Daneben verwendet die Gestaltherapie Imaginationsübungen, die wir schon im Zusammenhang mit psychodramatischen Arbeitsformen kennengelernt haben.
Auch hier wollen wir wieder jeweils das Konzept, die Einsatzmöglichkeiten in der Supervision und die Effekte der Methodik verhandeln.
1.2.1. Awarenessübungen
Als für die Gestalttherapie typischste Methoden gelten die sogenannten Awarenessübungen (SÜSS/MARTIN 1978, STEVENS 1971
u.a.).
(1) Konzept
Das sind methodische Maßnahmen, die der voll bewußten Wahrnehmung dienen sollen. Sie können sich als "interne Awareness-Übungen" auf die Wahrnehmung innerpsychischer Vorgänge richten, oder als "externe Awareness-Übungen" auf die intensive Wahrnehmung extrapersonaler Phänomene.
Der Klient ist dabei gebeten, sich so intensiv als möglich auf innere oder äußere Phänomene zu "konzentrieren" und seine begleitenden Sensationen wieder so intensiv wie möglich zu erfassen. Meistens wird er dabei noch aufgefordert, sie zu extremisieren.
Übungsaufgabe 15.: Halten Sie bitte einen Moment inne und versuchen Sie so intensiv wie nur irgendmöglich alle Ihre inneren Prozesse wahrzunehmen. Teilen Sie diese bitte, soweit Sie mögen, den Teilnehmern Ihrer Lerngruppe mit.
Der konzeptionelle Hintergrund für diese Gruppe von Methoden entstammt fernöstlichen Meditationsformen (PERLS et al. 1951). PERLS hatte während einer eigenen Krise erlebt, daß bereits die vollbewußte, "konzentrative" Wahrnehmung innerer und äußerer Phänomenkonfigurationen eine heilende Wirkung nach sich zieht (PERLS 1947). Es finden dabei spontan Umstrukturierungsprozesse von Deutungsmustern statt. Solche Wirkungen werden nun durch den gezielten Einsatz von Awarenessübungen zu erzeugen versucht.
Übungsaufgabe 16.: Halten Sie bitte noch einmal inne und versuchen Sie jetzt so intensiv als möglich, Ihre aktuelle Umgebung wahrzunehmen. Beachten Sie dabei Ihre personale und gegenständliche Umwelt. Danach teilen Sie auch dieses bitte wieder in Ihrer Lerngruppe mit.
Diese grundlegenden methodischen Maßnahmen dienen vorrangig zur initialen Rekonstruktion und, im weiteren Verlauf von Psychotherapie, immer wieder zur bewußten Wahrnehmung aktuell auftauchender Szenen aus der Vergangenheit.
(2) Einsatzmöglichkeiten
Awarenessübungen stellen immer die initiale Methodik in der Supervision dar, um Themen, insbesondere solche mit prärationalen Gehalten zu präzisieren. Aber auch im weiteren Verlauf bei jeder Auseinandersetzung mit jedem Thema ist das bewußte Wahrnehmen innerer und äußerer Phänomene relevant.
So ergehen also an Supervisanden laufend Aufforderungen zur inneren Awareness. Als externe Awareness können sie aber in der Gruppen- oder Teamsupervision auch an Mitsupervisanden ergehen. In solchen Fällen werden die Supervisanden gebeten, die besondere Art der Praxisdarstellung von Gruppenmitgliedern oder Kollegen so aufmerksam wie nur irgend möglich zu verfolgen.
Externe und interne Awareness bilden aber auch die entscheidende methodische Haltung des Supervisors. Wache Bewußtheit während der Darstellungen des Supervisanden und hohe Aufmerksamkeit gegenüber eigenen inneren Prozessen, die der Supervisand beim Supervisor auszulösen vermag, sind die entscheidende Grundlage seiner Interventionen.
Beispiel 19.: Der 45-jährige Mitarbeiter der Fortbildungsabteilung eines Großunternehmens berichtete mir von Querelen mit einem ihm gleichgestellten Kollegen. Beide hatten neben anderen Tätigkeiten die Aufgabe, gegenüber jungen Mitarbeitern, die gerade erst in das Unternehmen eingetreten waren, als Mentoren zu fungieren. Der Supervisand berichtete mir nun ausführlich, wie er die Einarbeitung der "jungen Leute" begleitete. Im Verlauf seiner Darstellungen tauchten in mir als Supervisorin deutlich elterliche Gefühle gegenüber den jungen Mitarbeitern auf. Ich sagte: "Mir scheint, Sie haben dabei eine richtig väterliche Haltung." Er stutzte kurz und meinte sehr bedenklich: "Wissen Sie, meine Frau und ich konnten leider keine Kinder bekommen, ich weiß gar nicht so recht, wie es ist, Vater zu sein. Ich versuche aber mein Bestes." Im weiteren Verlauf der Sitzung stellte sich heraus, daß sein etwa gleichaltriger Kollege zunehmend eifersüchtig geworden war, weil er von den neu eingetretenen Mitarbeitern viel häufiger um Rat gefragt wurde als dieser und er wohl tatsächlich als "Firmenvater" gut angenommen wurde.
(3) Effekte
Die Effekte interner Awarenessübungen liegen zunächst darin, daß Supervisanden ihre eigenen, vorrangig ihre nicht-planmäßigen Deutungsmuster besser präzisieren.
Die Effekte externer Awarenessübungen bestehen als konzentrierte Beobachtung anderer Supervisanden auch in der Unterstützung zur Präzisierung der Muster anderer.
Beispiel 20.: Im Verlauf einer bereits länger laufenden Gruppensupervision berichtete ein junger Krankenpfleger ungewöhnlich maniriert, wie er sich mit einem Kollegen häufig stritt. Inhaltlich ergab die Darstellung zunächst keinen Hinweis, um welches Problem es sich handeln könnte. Als Supervisorin fiel mir aber die merkwürdig gestelzte Art der Darstellung auf. Ich bat nun die übrigen Gruppenteilnehmer, auf die Darstellungsweise zu achten. Ein Gruppenmitglied meinte, "ich glaube, du willst gar nicht mit ihm streiten, sondern ihn für Dich gewinnen. Du hast sowas Anmacherisches in Deinem Reden." Der Protagonist wurde nun verlegen. Ihm fiel jetzt ein, daß er zu Beginn seiner Arbeit in der Klinik besonders diesen Kollegen sehr imposant gefunden hatte und sich stark an ihm zu orientieren suchte. Dieser Kollege hatte zwar vordergründig alle seine Annäherungsversuche abgelehnt, sich aber hintergründig immer als hochattraktive Figur angeboten. "Ihr macht da ein homoerotisches Kampf-Spiel", meinte eine Teilnehmerin. Nach einem Rollenspiel, in dem die vermutete Thematik nun nochmal deutlicher wurde, beschloß der Protagonist, seinem Kontrahenten offen mitzuteilen, daß er ihn sehr "akzeptabel" fände, daß er aber auf seine kämpferischen Attitüden nicht mehr so gerne eingehen wolle. In der konkreten Arbeitssituation erreichte der Supervisand auf diese Weise eine Milderung der "Kampf-Spiel-Atmosphäre". Er hatte damit "Luft" in die verdeckte Dynamik gebracht.
Der Supervisor kann durch bewußte Wahrnehmungen externer wie interner Art, seine eigenen Eindrücke vom Supervisanden wie seinen Praxisdarstellungen bei sich selbst "verdichten."
Durch bewußtes Gewahrwerden ergeben sich bereits oft schon spontane Umstrukturierungen von Deutungsmustern.
Übungsaufgabe 17.: Wenn Sie an einem der nächsten Tage an Ihren Arbeitsplatz kommen, versuchen Sie bitte eine/einen Ihrer KollegInnen, die Sie bislang noch weniger gut kennen, so genau wie nur irgendmöglich zu beobachten. Vielleicht verändert sich dann Ihr Eindruck von diesem Menschen.
1.2.2. Sprachspiele
Sprache, als "kommunikatives Handeln" (HABERMAS 1981), bildet die Grundlage für eine ganze Reihe sehr bekannt gewordener methodischer Maßnahmen der Gestalttherapie, die sogenannten Sprachspiele (SÜSS/MARTIN 1978).
(1) Konzept
Den konzeptionellen Hintergrund für diese Methodik bildet die Überzeugung, daß sich in sprachlichem Handeln, in bestimmten Wendungen, Floskeln, stereotypen Sprachformen usw. innere Deutungsmuster dokumentieren, die über das Experimentieren mit alternativen Sprachformen veränderbar sind.
Dabei sollen insbesondere unpersönliche Wendungen, wie "man könnte" usw., zugunsten unmittelbarer, wie "ich möchte" usw. eingetauscht werden.
Übungsaufgabe 18.: Versuchen Sie bitte in Ihrer Arbeitsgruppe zu besprechen, wer von Ihnen welche unpersönlichen Floskeln häufiger als die anderen verwendet.
Sprachspiele werden in der Literatur oft im Sinne einer Extremisierung sprachlicher Positionen oder als Umkehrung sprachlicher Wendungen usw. beschrieben (SÜSS/MARTIN 1978). Dabei ist immer sorgfältig darauf zu achten, daß der Klient keine, von der Erfahrung losgelösten Reden führt, sondern sein sprachliches Handeln mit seinem Erleben verknüpft.
Übungsaufgabe 19.: Versuchen Sie ab jetzt bitte, in Ihrer Arbeitsgruppe auf die Verwendung von Floskeln aufmerksam zu machen und eine direktere Sprache zu verwenden, also nicht "man könnte meinen", sondern "ich meine."
Die Sprachspiele der Gestalttherapie bildeten übrigens die Basis für ein Postulat von Ruth COHN (1975), die auch fordert, daß Gruppenteilnehmer nicht in unpersönlichen Wendungen sprechen sollen.
(2) Einsatzmöglichkeiten
In der Supervision lassen sich Sprachspiele unterschiedlichster Art verwenden, wenn kommunikative Muster von Supervisanden defizitär oder erweiterungswürdig scheinen. Das gilt vor allem für ungeplante sprachliche Muster. Dabei werden zuerst die zu korrigierenden Sprachformen ermittelt, daran anschließend ergeht die Aufforderung, mit alternativen Formen zu experimentieren. Zum Abschluß muß das begleitende Erleben präzisiert werden.
Beispiel 21.: Eine Gymnasiallehrerin berichtete in der Gruppensupervision von ihren "schwierigen Oberstufenleuten". In einem Rollenspiel, währenddessen sie eine kurze Einführung in ein antikes Drama vor den Schülern nachspielte, fiel auf, daß sie eine Vielzahl komplizierter Sätze verwendete und überhaupt so sprach, als wenn sie ein Essay vorzutragen habe. Die Gruppenmitglieder als Schüler begannen zu kichern. "Sag mal, wie redest Du denn," meinte eine Kollegin und stieg aus ihrer Rolle aus. Die Lehrerin war zunächst betroffen. Sie berichtete nun, wie schwer es ihr gefallen war, sich im akademischen Milieu zurechtzufinden und daß sie sich immer an den "besten im Studium" zu orientieren versucht habe. "Da sind mir wohl die Maßstäbe abhanden gekommen." In einem weiteren Rollenspiel versuchte sie nun, "einfacher" zu den Schülern zu reden. Sie wurde dabei von der Gruppe unterstützt, eine den Schülern eher angemessene Wortwahl und einen eher angemessenen Satzbau zu verwenden.
(3) Effekte
Durch Sprachspiele läßt sich insbesondere die Bedeutung kommunikativer Gewohnheiten für nicht-planmäßige Deutungsmuster transparent machen, ja sie können gewissermaßen als Indikator für Deutungsmuster gelten.
Auf diesem Wege kann eine gezielte Korrektur von sprachlichen Handlungsmustern eingeleitet werden, die meistens auch wieder eine Erweiterung oder Umstrukturierung von Deutungsmustern nach sich ziehen.
1.2.3. Rollenspiele
Sehr deutlich kommt der Handlungsanteil auch bei Rollenspielen zum Tragen, die in der Gestalttherapie allerdings eine spezifische Form aufweisen.
(1) Konzept
Im Gegensatz zum Psychodrama MORENOs verzichtet die klassische Gestalttherapie auf "Mitspieler", weil das eventuelle projektive Agieren der Mitspieler als Störfaktor betrachtet wird (PERLS et al. 1951). Der Klient imaginiert seinen Antagonisten auf einen "leeren Stuhl". In einem mehrfachen Rollenwechsel mit diesem tritt er wechselweise mit seiner Position und der des Antagonisten in Beziehung bzw. in einen Dialog ein. Es handelt sich dabei jeweils um eine gezielte Form von Identifikation.
Übungsaufgabe 20.: Stellen Sie bitte einen leeren Stuhl vor sich hin und imaginieren Sie einen Ihrer Kunden/Klienten auf diesem Stuhl. Beschreiben Sie bitte kurz den Menschen, der Ihnen nun gegenüber sitzt und sprechen Sie einige Sätze zu ihm. Nun welchseln Sie bitte auf den leeren Stuhl und versuchen Sie sich so intensiv als nur möglich mit dem Menschen, zu dem Sie soeben gesprochen haben, zu identifizieren. Aus dieser Position sprechen Sie bitte auch wieder einige Sätze zu Ihrem Gegenüber (das eigentlich Sie selbst sind). Was haben Sie bei dieser Übung erlebt? Diskutieren Sie das bitte in Ihrer Arbeitsgruppe.
Der "Antagonist" kann dabei eine Person sein, dem der Klient im Verlauf seiner Geschichte begegnet ist, er kann aber auch ein eigener, nicht integrierter Anteil des Klienten sein, der nun in der Therapie imaginativ personifiziert wird.
Beispiel 20.: Im Verlauf der Psychotherapie eines Mannes tauchte immer wieder ein sehr ambivalentes Gefühlsphänomen gegenüber Frauen auf. Diese Haltung wurde in der Therapie zunächst an einer Kollegin, dann an einer Partnerin und im weiteren Verlauf an der Beziehung zur Mutter deutlich. Der Klient wurde gebeten, auf zwei leeren Stühlen unterschiedliche Anteile von sich selbst zu plazieren. Auf dem einen Stuhl sitzend erlebte er viel Ärger und Wut, wenn er an die Mutter dachte, auf dem anderen dagegen - und das fiel im viel schwerer - fühlte er sich ausgesprochen angezogen. Als er diese beiden Gefühlsanteile, die er den "Wütenden" und den "Sehnsüchtigen" nannte, in einen Dialog treten ließ, entbrannte ein heftiger Kampf, der in einer regelrechten Erschöpfung endete. Beim nächsten Termin berichtete der Klient, daß er nun immerhin seiner Kollegin gegenüber schon klarer sei. Es bedurfte aber noch einiger Zeit, bis er seine Ambivalenz überwandt.
Entscheidend ist dabei, daß sich der Klient jeweils maximal mit der einen, wie mit der anderen Position identifiziert.
Rollenspiele sind insbesondere für die Auseinandersetzung mit alten, nicht verarbeiteten Szenen eine entscheidende Methodik. Sie dienen zur differenzierten Rekonstruktion und zur weiterführenden Veränderungsarbeit.
Über diese Rollenspieldialoge soll nicht nur die Umstrukturierung von Deutungsmustern gefördert, sondern es sollen auch neue Handlungsmuster gegenüber Sozialpartnern aktiviert werden, wie "endlich mal schimpfen", "um Hilfe bitten" usw., also Handlungsweisen, die bisher vermieden wurden oder im Handlungsrepertoire von Klienten noch nicht enthalten waren.
Übungsaufgabe 21.: Versuchen Sie bitte in Ihrer Arbeitsgruppe eine Person auf den leeren Stuhl zu setzen, der "Sie schon lange mal etwas sagen wollten." Probieren Sie das doch mal im geschützten Rahmen. Lassen Sie sich Feedback geben von Ihren Kolleginnen und Kollegen, wie das wirkte, was sie gesagt haben. Besprechen Sie eingehend, ob das, was Sie soeben gesagt haben, auch in die Situation mit der entsprechenden Person auf dem leeren Stuhl paßt, nicht daß Sie in der Realität unnötigen Ärger bekommen.
(2) Einsatzmöglichkeiten
Rollenspiele mit einem imaginativen Partner wie sie die Gestalttherapie versteht, lassen sich auf vielfältige Weise zur szenischen Rekonstruktion und weiterführenden Bearbeitung verwenden.
Sie sind die Methode der Wahl, wenn Supervisanden eigene Deutungs- und Handlungsmuster oder die von Praxispartnern in Interaktionsprozessen untersuchen wollen. Sie eignen sich also zur "Fallarbeit" oder zur Auseinandersetzung mit "Kollegenkonflikten." Rollenspielarbeit kann sehr gut dafür dienen, Handlungsmuster geplanter wie nicht-geplanter Art gezielt zu modifizieren.
Gestalttherapeutisch verstandene Rollenspiele lassen sich in Ermangelung von Rollenspielpartnern gerade in der Einzelsupervision gut verwenden.
(3) Effekte
Durch diese imaginative Rollenspielarbeit lassen sich also nicht-planmäßige Deutungsmuster von Supervisanden im Sinne von Übertragungen bzw. Rollenzuweisungen an andere erschließen. Auf diese Weise sind auch Vorstellungen über Rollenzuweisungen von Interaktionspartnern an Supervisanden zu ermitteln. Daneben können auch Ambivalenzkonflikte von Supervisanden prägnant werden.
Durch die Verkörperung von Rollen lassen sich also komplexe Interaktionsbereitschaften erlebnishaft verdichtet rekonstruieren. Durch die Rekonstruktionsarbeit erfolgt oft schon spontane Umstrukturierung von Deutungsmustern bei Supervisanden. Durch weitere gezielte Arbeit im Sinne von Reflexion oder eines Rollentrainings erfolgt auch gezielte Umstrukturierung und Erweiterung von Deutungs- und Handlungsmustern.
1.2.4 Experimente
Eine besonders aktionsorientierte Gruppe von Methoden stellen die "Experimente" dar (LATNER 1973, ZINKER 1977, SCHNEIDER 1979).
(1) Konzept
Das sind Arbeitsformen, bei denen der Klient im geschützten Rahmen von Psychotherapie gebeten wird, neue Handlungsmuster probeweise auszuführen und sein begleitendes Erleben zu beschreiben. Der Klient probiert etwa in einer Gruppe den übrigen Mitgliedern "auch mal etwas Unfreundliches zu sagen", oder mal zu kämpfen. Es kann aber auch in der Einzeltherapie darum gehen, daß er sich bei dem Therapeuten auf den Schoß setzt, wie ein Kleinkind schreit usw.
Bei dieser methodischen Gruppe spielt eine besondere Rolle, daß der Schwierigkeitsgrad" eines Experimentes genau auf den Ist-Zustand des Klienten abgestimmt wird, weil sich sonst unproduktiver, interaktiv erzeugter Widerstand ergibt (SCHNEIDER 1979). Therapeut und Klient handeln im Dialog aus, welches Experiment, mit welchem Schwierigkeitsgrad für eine aktuelle Situation angemessen ist. Als "angemessen schwierig" ist ein Experiment zu bezeichnen, wenn es beim Klienten keine zu große Angst erzeugt, ihm aber doch eine neue, für ihn interessante Erfahrung ermöglicht.
Beispiel 23.: In einer Psychotherapiegruppe berichtete eine Teilnehmerin, daß sie Männern einfach nichts Freundliches sagen könne. Sie wurde daraufhin gebeten, den fünf Männern in der Gruppe irgendetwas zu sagen, egal, was es sei. Sie stellte sich jeweils vor sie hin, sah sie an und brachte zunächst neutrale Bemerkungen vor, wie "du hast ein weißes T-shirt an" oder "du hast lockige Haare." Jetzt mußte sie selbst lachen über ihre Neutralität. Danach ging sie noch einmal die fünf Männer ab und meinte zu einem von ihnen vorsichtig: "Du hast glatt ein freundliches Gesicht." Unter dem Beifall der Gruppe wurde sie nun mutiger und mutiger, bis sie sogar zu einem Mann sagen konnte, "dich finde ich ganz nett."
Entscheidend ist dabei, daß der Klient immer wieder aufgefordert wird, sein begleitendes Erleben im Sinne innerer Awareness genau zu beachten. Darüber hinaus soll er auch seine bewußte Wahrnehmung im Sinne externer Awareness präzisieren, weil sich durch sein Handeln bei Interaktionspartnern oft gänzlich andere Reaktionen, als erwartet, einstellen.
Diese methodischen Maßnahmen dienen vorrangig der Erweiterung des Repertoires an Handlungsmustern, wodurch sich indirekt die Deutungsmuster umstrukturieren oder erweitern sollen.
Die Aufforderung zum Experimentieren ergeht an den Klienten, wenn eine Problematik präzisiert ist und nun auf Handlungsebene gefestigt oder modifiziert werden soll.
(2) Einsatzmöglichkeiten
Diese Methodik ist vor allem dann geeignet, wenn sich Supervisanden in einer Supervisionsgruppe auf bestimmte berufliche Aufgaben vorbereiten wollen. Die Gruppe dient dann als vorbereitendes Forum.
Übungsaufgabe 22.: Versuchen Sie doch mal ein Gespräch, das Sie in den nächsten Tagen führen müssen, in Ihrer Arbeitsgruppe vorzubereiten. Stellen Sie den Gruppenmitgliedern dieses Gespräch mit Ihrem Antagonisten auf einem leeren Stuhl vor und lassen Sie sich für den Dialog Feedback geben.
(3) Effekte
Die Effekte von Experimenten in der Supervision bestehen vorrangig darin, daß Supervisanden die Wirkungen neuer Handlungsweisen, die sie künftig in der Praxis realisieren wollen, austarieren können.
Experimente bilden dann die Basis für den weiteren supervisorischen Dialog, in dem besondere Problemkonstellationen rekonstruiert werden können. Sie bilden aber auch die Basis für Rollentrainings, in denen Handlungs- und Deutungsmuster gezielt verändert werden sollen.
Durch den Vollzug von Experimenten ergeben sich Umstrukturierungen und Erweiterungen beim Supervisanden. Durch den Ernstcharakter der Situation einerseits wie ihren Schonraumcharakter andererseits kann der Supervisand oft innerlich freier, also experimenteller handeln.
1.2.5. Hausaufgaben
Eine ähnliche Gruppe von Methoden stellen die sogenannten Hausaufgaben (POLSTER/ POLSTER 1975) dar.
(1) Konzept
Das sind im Prinzip Experimente, die der Klient außerhalb der Therapiesituation, also in vivo, realisiert. Sie erhalten auf der Handlungsebene besonderen Ernstcharakter, weil sie eben im konkreten Lebensvollzug des Klienten, in seinem häuslichen Rahmen, am Arbeitsplatz oder in der Öffentlichkeit, stattfinden.
Diese Gruppe von Methoden bedarf einer besonders sorgfältigen Begleitung und einer besonders sorgfältigen Staffelung nach ihrem Schwierigkeitsgrad, damit der Klient und seine Interaktionspartner keinen Schaden nehmen. Hier muß immer ausführlich eruiert werden, wie der gesamte Kontext beschaffen ist, an dem der Klient seine Aktion starten wird. Bei ungenügend sorgsamer Arbeit können gerade Hausaufgaben ausgesprochen kontraproduktiv sein.
Beispiel 24.: Im Verlauf der Psychotherapie mit einem stark übergewichtigen Mann ging es immer wieder um Hausaufgaben, die aber sorgfältig dosiert werden mußten. Aufgrund seiner Leibesfülle mied der Klient öffentliche Veranstaltungen, Schwimmbäder und allerlei andere Gelegenheiten, bei denen er "sich zeigen" mußte. In der Psychotherapie ging es um eine Vielzahl von Themen, die Vermeidungshaltung des Klienten gegenüber öffentlichen Autritten erwies sich aber immer wieder als zentral. Nach einiger Zeit willigte er ein, mit seinem "Mut zum sich Zeigen" in der Öffentlichkeit zu experimentieren. Nun erarbeitete er in der Therapie für sich einen Plan, bei welcher Gelegenheit er zuerst, dann danach usw. sich "unter die Leute mischen" könne. Unter sorgfältiger Begleitung traute er sich zuletzt sogar in ein Schwimmbad zu gehen, was für ihn anfangs noch eine Horrorvorstellung war.
Bei angemessener Begleitung tragen gerade Hausaufgaben zur Festigung neu erworbener Handlungsmuster bei. Und gerade Hausaufgaben führen meistens auch zur Umstrukturierung und Erweiterung von Handlungsmustern.
(2) Einsatzmöglichkeiten
Im Prinzip sind Hausaufgaben in jeder Supervision allgegenwärtig, denn dabei geht es ja regelmäßig darum, die Umsetzung des bislang Erarbeiteten zu verhandeln. Die hier beschriebene Form "expliziter Hausaufgaben" dient zur besonders gezielten prozessualen Bearbeitung von Handlungsmustern gegenüber Klienten, Kollegen, Kunden, Vorgesetzten usw.
Beispiel 25.: Eine Theologin erlebte immer wieder, daß sie die Zeit, die sie für ein Trauergespräch eingeplant hatte, nicht einhielt. Sie machte sich jeweils Sorgen, daß sich die Angehörigen von ihr "vor den Kopf gestoßen" fühlten. Gleichzeitig litt sie dadurch aber unter einem ständigen Termindruck. In der Supervision wollte sie nun für eine striktere Terminierung begleitet werden. Dabei fand zwar auch eine umfassende Arbeit am Hintergrund ihrer zeitlichen Desorganisation statt, sie benötigte aber darüberhinaus ein Training für die Realisierung einer angemessenen Zeitstruktur. Sie wurde nun durch Rollenspiele auf die Beendigung entsprechender Gespräche vorbereitet und berichtete jeweils, wie sie das, was sie in der Supervisionssitzung erarbeitet hatte, in der Praxis verwerten konnte und wo es noch nicht klappte. Dann wurde wieder über Rollenspiele "gefeilt", bis sie eine größere Sicherheit beim Timing erlangte.
(3) Effekte
Die besonderen Effekte von Hausaufgaben liegen darin, daß der Supervisand für sein praktisches Handeln gezielte Vor- und Nachbereitung erhält.
Die Effekte von Hausaufgaben bestehen aber auch darin, daß der Supervisand laufend mit den Ergebnissen seiner Arbeit konfrontiert wird. Insofern bilden Hausaufgaben und die durch sie erzeugten und dann berichteten Wirkungen für den Supervisor geradezu ein Evaluationsinstrument seiner eigenen Arbeit.
Literaturhinweise
Literatur zur Gestalttherapie
Bünte-Ludwig, Ch., Gestalttherapie- Integrative Therapie, Leben heißt wachsen, in: Petzold, H. (Hrsg.), Wege zum Menschen, Bd.1., Paderborn 1984
Hartmann-Kottek-Schröder, L., Gestalttherapie, in: Corsini, R. (Hrsg.), Handbuch der Psychotherapie, Weinheim 1983
Petzold, H., Die Gestalttherapie von Fritz Perls, Lore Perls und Paus Goodman, in: Integrative Therapie 1-2/1984, S. 5-72
Literatur zur Gestalttherapie in der Supervision
Hinnen, P., Gestaltansatz in der Supervision, in: Fatzer, G., Eck, C.D. (Hrsg.), Supervision und Beratung, Köln 1990
Schreyögg, A., Supervision - ein integratives Modell, Lehrbuch zu Theorie und Praxis, 2.Aufl., Paderborn 1992