Funktion und Anwendung von Theorie

Funktion und Anwendung von Theorie


Hier wollen wir die Funktion von Theorie, ihre Anwendung, sowie die Kriterien zur Auswahl von Theorie beschreiben. Die für den Ansatz maßgeblichen Theorien selbst sollen an dieser Stelle nur kurz umrissen werden, eine ausführliche Darstellung findet sich in den einschlägigen Lehrmaterialien.


2.2.1. Die Funktion von Theorie

Theorien lassen sich als besondere Form kognitiver Schemata begreifen. Im Verlauf unserer frühen Sozialisation (BERGER/ LUCKMANN 1966), im Elternhaus usw. lernen wir basale Alltagsmuster zur Auseinandersetzung mit unserer Lebenswelt. Im Verlauf der sekundären Sozialisation, besonders in unseren beruflichen Kontexten, benötigen wir dagegen abstraktere Strukturierungsmuster, die sich nicht mehr aus der handelnden Auseinandersetzung mit der Welt ergeben, das sind dann "Theorien".

Ihre Funktion besteht zunächst darin, den ursprünglich "naiven" Erkenntnishorizont von Menschen zu erweitern. Durch die Strukturierung mit Hilfe von Theorie erschließt sich dann Professionellen auch das, was ursprünglich "verborgen", also nicht im einfachen gegenständlichen Erfassen zu ermitteln ist.

Im Gegensatz zu früh erworbenen kognitiven Schemata, die im Verlauf der lebensweltlichen Auseinandersetzung erworben wurden, handelt es sich bei Theorien um solche, die rational begründet, präzisiert und veröffentlicht sind. Ihre Vermittlung erfolgt überwiegend rational im Verlauf von Schul-, Universitätsausbildungen usw. Als öffentliche kognitive Schemata sind sie einer größeren Zahl von Menschen zugänglich.

Wenn Menschen im Verlauf von Dialogen ihr jeweiliges Erkennen auf dem Hintergrund von ihnen gemeinsam zugänglichen theoretischen Mustern präzisieren und kommunizieren, fördert das flüssigere Verständigung. Mit Hilfe von Theorie können Menschen also ihren ursprünglich privatistischen lebensweltlichen Erkenntnishorizont mit seinen jeweiligen kognitiven Strukturmustern erweitern.

In der Supervision, als professioneller Beratungsform, sollten Praxisereignisse nicht nur alltagsweltlich, sondern auch auf dem Hintergrund theoretischer Erklärungsmuster strukturiert werden. Auf diese Weise eröffnen sich neue, bis dahin vielleicht noch nicht erfaßte Phänomene oder Phänomengestalten. Die in Frage stehende Praxissituation wird auf diese Weise im supervisorischen Dialog leichter zuordenbar.

2.2.2. Die Anwendung von Theorie

Neben ihrer Funktion als Strukturierungshilfe kann die Anwendung von Theorie Erkenntnisprozesse allerdings auch behindern. Dies geschieht insbesondere dann, wenn Theorie voreilig oder einseitig Verwendung findet. Theorie schafft dann reduktionistische Erkenntnis. Aus diesem Grund hatte HUSSERL eine sogenannte natürliche Einstellung des Erkennenden gefordert. Der erkennende Mensch sollte sich mit einer möglichst unvoreingenommenen, d.h. auch theoriefreien Haltung der phänomenalen Welt nähern. Wie aber insbesondere SCHÜTZ (1932) zeigte, ist das eine nicht realisierbare Forderung, weil der Mensch durch seine bisherigen lebensweltlichen Erfahrungen in jede neue Situation schon einen je spezifischen Wahrnehmungs- und Deutungshorizont hineinträgt. Die von HUSSERL geforderte natürliche Einstellung läßt sich also nur als Ideal begreifen. Verwender von Theorie sollten sich an diesem Ideal aber insofern orientieren, als sie vor jeder theoretischen Strukturierung so unvoreingenommen wie möglich die ihnen begegnenden Phänomene wahrzunehmen suchen und sie leiblich auf sich wirken lassen (BLANKENBURG 1983).

Wahl und Anwendung von Theorie ist dann möglichst immer im Hinblick auf die unmittelbare phänomenale Erfahrung zu überprüfen, d.h. sie muß sich an ihr bewähren. Vor jeder expliziten Theorieanwendung sollten Supervisor und Supervisand intentiv und umfassend die in Frage stehenden Praxisphänomene auf sich wirken lassen. Theorie wird also erst in Korrespondenz mit der jeweiligen phänomenalen Erfahrung zur Strukturierung herangezogen.

Dabei ist allerdings zu beachten, daß kein theoretischer Ansatz beanspruchen kann, mit seiner jeweiligen Denkstruktur für einen bestimmten Anwendungsfall genau passend zu sein. Theorien müssen dann in supervisorischen Dialogen meistens modifiziert werden.

2.2.3. Kriterien zur Auswahl von Theorie

Die Auswahl von Theorie ist in unserem Zusammenhang auf zwei Ebenen relevant:

- auf der Ebene der Modellkonstruktion und
- auf der Ebene des konkreten Anwendungsfalles.

a. Kriterien zur Theorieauswahl für das Modell

Wie anläßlich unserer modelltheoretischen Vorbemerkungen deutlich wurde, vermag keine derzeit bekannte sozialwissenschaftliche Theorie allein die phänomenale Vielfalt von Praxis und supervisorischer Praxis abzudecken. Deshalb wollten wir bei der Entwicklung eines supervisorischen Modells auf ein Theorieuniversum zurückgreifen.

Dieses ist nach den Prämissen des Meta-Modells zu bestimmen. Auf diesem Hintergrund ist das Theorieuniversum

- multiparadigmatisch anzulegen.

- Die in ihm enthaltenen Theorien müssen aber mit den anthropologischen Prämissen des Meta-Modells kompatibel sein und

- es muß sich, so weitgehend wie möglich, an der phänomenalen Erfahrung von Menschen bewähren.

Je nach dem zu supervidierenden Feld benötigt ein Supervisor eine Vielzahl von theoretischen Konstruktionen, um den Supervisanden in seinem Erkenntnisprozeß zu unterstützen, aber auch die eigene Arbeit zu erfassen. Deshalb müssen die Theorien zum Teil so spezifisch sein, daß sie im Rahmen einer Modellkonstruktion unmöglich einzeln zu benennen sind. Im Sinne der anthropologischen Prämissen des Meta-Modells läßt sich aber fordern, daß das Theorieuniversum als Gesamt Mensch-Sein auf unterschiedlichsten Ebenen erfaßt. Das wären dann theoretische Konstruktionen für die Strukturierung individueller, interaktionaler und systemischer Phänomene.

Von allen diesen denkbaren Theorien müssen in einer Modellkonstruktion von Supervision besonders diejenigen berücksichtigt werden, die grundlegende Bestimmungsmerkmale von Supervision, aber auch jeder professionellen Praxis, zu strukturieren vermögen. So geht es in professionellen Zusammenhängen zwischen Supervisand/Klient und Supervisor/ Supervisand immer um Beziehungen. Und in der Praxis des Supervisanden aber auch der des Supervisors ist immer wieder der Kontext, dabei insbesondere der organisatorische, als Einflußfaktor relevant. So läßt sich also postulieren, daß die Wissensstruktur eines Supervisionsmodells auf Theorie-Ebene zumindest die gängigsten sozialwissenschaftlichen Konzepte zur Strukturierung von

- Beziehungen und
- organisatorischen Phänomenen enthalten muß.

Die Auswahl einzelner theoretischer Muster für unsere Modellkonstruktion ist aber immer wieder an den Prämissen des Meta-Modells auszurichten. Innerhalb der genannten Konzept-Gruppen lassen sich Ansätze finden, die mit dem vorab formulierten Meta-Modell bzw., seinen anthropologischen Prämissen kompatibler sind als andere. So erweist sich etwa der Ansatz von George Herbert MEAD (1973), der lebenslange Entwicklung des einzelnen durch soziale Interaktionen beschreibt, als besonders kompatibles Theoriekonzept. Als begrenzt kompatibel müssen dagegen klassische Übertragungs-/Gegenübertragungsmodelle betrachtet werden, da sie jede aktuelle Beziehungserfahrung auf frühkindliche Erfahrungsmuster reduzieren. Unserem anthropologisches Postulat lebenslanger Entwicklung wird hier nicht Rechnung getragen, so daß solche Ansätze nur am Rande in das Theorieuniversum integrierbar sind.

b. Kriterien zur Theorieauswahl in konkreten Anwendungsfällen

Übungsaufgabe 13.: Wenn Sie sich jetzt an Ihre letzte Beratung erinnern, welche Theorien haben Sie als Diagnostikum zugrundegelegt. Welche waren es und warum haben Sie gerade diese verwendet?

Im Verlauf von Theorieanwendungen ergibt sich nun allerdings nicht nur konstruktive Unterstützung, sondern durch Theorie können sich auch Verengungen von Wahrnehmungs- und Erkenntnisweisen einstellen. Durch Verwendung von Theorie kommt nämlich häufig verengtes Erkennen zustande. Aus diesem Grund ist es niemals gleichgültig, welche Theorie in einem Anwendungsfall in welcher Weise herangezogen wird.

Beispiel 13.: In einer Einrichtung für Drogentherapie war seit mehreren Jahren ein Supervisor mit ausgeprägt gruppendynamischer Orientierung tätig. Der Leiter der Einrichtung beunruhigte seine Mitarbeiter immer wieder durch eine Vielzahl von innovativen Anforderungen, die er aber oft nicht ausreichend stabil zu begleiten vermochte. Das wiederum erzeugte bei den Mitarbeitern häufig Gefühle von Insuffizienz. Wenn die Mitarbeiter über ihr Belastet-Sein in der Supervision Klagen vorbrachten, wurden sie vom Supervisor jeweils auf ihre aktuellen gruppalen Konstellationen angesprochen. Als die Einrichtung aus äußeren Gründen umstrukturiert werden mußte, eskalierte der Unmut der Mitarbeiter. Im Zuge dieser Eskalation verweigerten sie auch die weitere Mitarbeit in der Supervision.

Die Verwendbarkeit von Theorie bestimmt sich zunächst ganz pragmatisch nach dem jeweiligen Feld. Die Konsequenzen einer einzeltherapeutischen Maßnahme am Klienten können also z.B. nicht etwa mit sozialarbeiterischen Konzepten aus dem Bereich des "social group work" strukturiert werden. Die Verwendbarkeit bestimmt sich aber auch danach, welche Seins-Ebene von Menschen im Vordergrund steht. So ist es nicht sinnvoll, die Gruppendynamik einer Klasse mit theoretischen Konstruktionen erklären zu wollen, die die Historie des einzelnen Schülers beleuchten.

Welche Theorie in einem jeweiligen Fall zur Anwendung kommen soll, bedarf in der Supervision also einer sorgfältigen Prüfung, die weder Supervisoren, noch Supervisanden allein vornehmen können. Im Rahmen des supervisorischen Dialoges muß letztlich jede verwendete Theorie auf ihre pragmatischen und modelltheoretischen Implikationen überprüft werden. Und im phänomenologischen Verständnis ist sie auch daraufhin zu untersuchen, ob ihre Erklärungsmuster für den jeweiligen Anwendungsfall sinnfällig sind, d.h. ob sie sich an der aktuellen phänomenalen Erfahrung der Gesprächspartner bewähren.

2.2.4. Die verwendeten Theorie-Gruppen

Wir hatten schon angesprochen, daß in einem Supervisionsmodell Theorieansätze von besonderer Bedeutung sind, die organisatorische Phänomene zu strukturieren vermögen, da organisatorische Systeme am häufigsten den kontextuellen Hintergrund von Praxis und supervisorischer Praxis bilden.

Das Theorieuniversum sollte aber auch Ansätze enthalten, die interaktive Phänomene, als Grundkonstellationen jeder Praxis und supervisorischen Praxis strukturieren.

Für die Auswahl einzelner Ansätze aus den jeweiligen Theoriegruppen gelten dann einerseits die Gegenstandsbestimmung von Supervision und andererseits die im Meta-Modell formulierten anthropologischen und erkenntnistheoretischen Prämissen als Maßstab.

a. Organisationsanalytische Muster

Organisationsanalytische Muster sind, wie anhand der Gegenstandsbestimmung ausgeführt, für ein Supervisionsmodell auf zweifache Weise relevant:

- Wie immer wieder betont, ist jede Praxis durch ihren Kontext mitbestimmt. Die Mehrzahl aller professionellen Handlungsvollzüge findet heute in organisatorischen Kontexten statt, also in Kliniken, Beratungsstellen, Unternehmungen, Verbänden, Verwaltungssystemen usw. Und vielfach aktualisiert sich auch supervisorische Arbeit in organisatorischen Systemen. Die Organisation ist dann der unmittelbare kontextuelle Zusammenhang, der professionelles Handeln beeinflußt. Organisationstheoretische Ansätze dienen zur Analyse, inwieweit das organisatorische System professionelles Handeln des einzelnen Supervisanden, aber auch die Supervisionssituation mitbestimmt.

- Wie aber anhand der Gegenstandsbestimmung deutlich wurde, werden in diesem Supervisionsansatz, unter bestimmten Voraussetzungen, auch Aufgaben von "Organisationsberatung" als Gegenstand von Supervision betrachtet. Organisationsanalytische Deutungsmuster dienen dann als diagnostische Grundlage zur Ermittlung des Ist-Zustandes einer Einrichtung und zur Orientierung für mögliche organisatorische Veränderungen.

Organisationstheoretische Ansätze lassen sich nun grundsätzlich danach unterscheiden, ob sie

- planmäßige organisatorische Phänomene oder
- nicht-planmäßige zu strukturieren suchen.

Sie implizieren je unterschiedliche theoretische Grundmuster, die für die Organisationsanalyse, aber auch für die Gestaltung von Organisationen je unterschiedliche Bedeutung haben.

(1) Theorien zu planmäßigen organisatorischen Mustern

Da sich Organisationen im Gegensatz zu anderen Sozialsystemen vorrangig durch geplante Regelungen auszeichnen, setzten sich Organisationstheoretiker über große Strecken auch nur mit diesen auseinander. Sie postulierten, daß Organisationen ausschließlich durch diese bestimmt sind.

Solche traditionellen Organisationsansätze ergeben in supervisorischen Zusammenhängen analytische Anhaltspunkte, wie Praxis und supervisorische Praxis durch geplante organisatorische Vorgaben beeinflußt wird.

Dabei erweist sich aber manche, ursprünglich gut gedachte Regelung, im Laufe der Zeit als untauglich oder nur begrenzt tauglich, um ein bestimmtes Organisationsziel zu erreichen. Sie erzeugt dann dysfunktionale Erscheinungen. Vielfach führen Regelungen, an denen unbesehen festgehalten wird, auf Dauer zu Erstarrungen des Gesamtsystems oder sie werden innerhalb einer Organisation immer rigider interpretiert usw. Auf dem Hintergrund traditioneller Organisationskonzepte läßt sich vielfach erklären, wie formale organisatorische Regelungen dysfunktionale Erscheinungen in den Organisationen und der in ihnen ausgeübten Praxis nach sich ziehen.

Als konkrete theoretische Muster zu geplanten organisatorischen Phänomenen sind dem Supervisionsmodell grundlegende, neuerdings aus der Bürokratieforschung entwickelte Konzepte unterlegt. Sie vermögen es, organisatorische Strukturvariable zu beschreiben, wie Arbeitsteiligkeit, Hierarchisierung, Stellenverteilung, Standardisierung usw. (vgl. KIESER/KUBICEK 1983).

Übungsaufgabe 14.: Fertigen Sie bitte ein Organigramm von der Organisation an, der Sie angehören.

(2) Theorien zu nicht-planmäßigen organisatorischen Mustern

Im Verständnis moderner Organisationstheoretiker erschöpft sich die Auseinandersetzung mit innerorganisatorischen Phänomenen aber nicht in der Analyse ihrer formalen Besonderheiten und deren Dysfunktionalitäten. Im Anschluß an LEWIN (1946) läßt sich nämlich jede Organisation auch als menschliches Sozialsystem begreifen, das durch seine Besonderheiten das Denken und Handeln des einzelnen mitbestimmt. Innerhalb von Organisationen ergeben sich eine Vielzahl von zwischenmenschlichen Relationen, die für das organisatorische Geschehen ebenfalls prägend sind.

Sie stehen hier aber, anders als etwa in Freundesgruppen, auf dem Hintergrund eines formalen Sozialsystems. In organisatorischen Gebilden ergeben sich immer eine Fülle von nicht-planmäßigen Vorgängen, die nur für Organisationen typisch sind. Auch diese wurden Gegenstand organisationstheoretischer Konzeptbildung.

Solche Ansätze dienen dann in der Supervision als Deutungsmuster für ungeplante, also nicht beabsichtigte organisatorische Phänomene und ihren Einfluß auf professionelles Handeln von Supervisor und Supervisand.

Bei Organisationstheorien zu nicht-geplanten organisatorischen Phänomenen bietet die einschlägige Literatur heute eine ganze Reihe von unterschiedlichen Analysemustern an.

Für unseren Ansatz lassen sich vier grundlegende Konzepte heranziehen, die wir an dieser Stelle nur kurz skizzieren können:

- Im Konzept der "informellen Struktur" (ROETHLISBER/DICKSON 1939) wird postuliert, das sich in jedem formal strukturierten System eine gruppendynamische Entwicklung ergibt, die als "informelle Macht- und Autoritätsstruktur" (MAYNTZ 1963) mit der formalen Struktur keineswewgs deckungsgleich sein muß.

Übungsaufgabe 15.: Versuchen Sie bitte mal ein "latentes Organigramm" der Organisation aufzumalen, der Sie angehören. Es geht dabei vorrangig um die informelle Arbeitsteilung und die informelle Hierarchie. Vergleichen Sie dieses Organigramm mit dem, das sie zur Aufgabe 14. angefertigt haben.

- Ein anderer Ansatz beschreibt "politische Prozesse" (ALLISON 1976). Hier wird unterstellt, daß sich in jedem organisatorischen System Interessendivergenzen ergeben, die dann zur umfassenden Parteibildung mit Intrigen usw. führen.

- Das "Organisationskulturkonzept" (PETERS/ WATERMAN 1983) legt nahe, jede Organisation als "Miniaturgesellschaft" (SCHREYÖGG, G. 1990) zu betrachten, die im Verlauf ihres Bestehens eigene Normen und Standards entfaltet.

- Auf dem Hintergrund von "Organisations-Prozeßmodellen" (QUINN/CAMERON 1983) lassen sich organisationsspezifische Prozesse mit ihren jeweiligen Krisen und Anforderungen untersuchen.
Alle diese Ansätze müssen nun sorgfältig auf ihre anthropologischen Implikate untersucht werden, um abzuschätzen, inwieweit Sie in unseren Ansatz integrierbar sind. (Zur detaillierten Auseinandersetzung verweise ich auf das Lehrmaterial "Organisa-tionsstruktur/Organisationskultur").

b. Ansätze zur Strukturierung interaktiver Phänomene

Wie schon anläßlich unserer Gegenstandsbestimmung deutlich gemacht, handelt es sich bei Praxis und supervisorischer Praxis regelmäßig um interaktives Geschehen, bei dem in vielfältiger Weise auch nicht-planmäßige Deutungs- und Handlungsmuster als Veränderungsfaktoren eine Rolle spielen.

Theorien aus dieser Gruppe von Ansätzen sind für uns relevant, weil sie ungeplante Muster zwischen Praktiker und Klient sowie zwischen Supervisor und Supervisand zu erhellen vermögen.

Der Begriff "Interaktion" bezeichnet zunächst die Wechselwirkung sozialer Prozesse (GRAUMANN 1977). Da Interaktion immer in irgendeiner Weise im Austausch von Informationen besteht, wird der Begriff oft auch synonym mit dem der "Kommunikation" verwendet.

Je nachdem, in welchen grundlegenden Denkfiguren der Begriff "Interaktion" Verwendung findet, erhält er eine nuanziert unterschiedliche Bedeutung:

- Er wird einerseits, im Sinne eines basalen sozialwissenschaftlichen Paradigmas, zur Bezeichnung von zirculären, gegenseitigen Beeinflussungsprozessen verwendet (ebenda). Das Ergebnis von Interaktionen ist dann als beidseitige Veränderung gedacht.

- In anderen theoretischen Zusammenhängen dagegen bezeichnet er in einem eher individuumzentrierten Verständnis die Beeinflussung eines Menschen durch einen anderen. Auf dem Hintergrund spezifischer, historisch erworbener Dispositionen erzeugt die aktuelle Interaktion bei einem Partner verändernde Effekte. Das Ergebnis von Interaktionen ist dann primär als Veränderung des einen Interaktionsteilnehmers begriffen.

Im Meta-Modell hatten wir postuliert, daß aktuelles Sein von Menschen einerseits aus bisher gelebten Interaktionen und andererseits aus dem aktuellen Interaktionszusammenhang selbst resultieren. In diesem Sinne repräsentieren für uns beide Definitionen von Interaktion komplementäre Sichtweisen, so daß wir auch beide Gruppen von Ansätzen für unser Supervisionsmodell heranziehen wollen.

(1) Psychoanalytische Ansätze zur Strukturierung von Interaktionen

Psychoanalytische Ansätze, die heute in Supervisionsmodellen am häufigsten zur Analyse von Interaktionen verwendet werden, zählen wir zur zweiten Gruppe interaktiver Konzepte. Sie rekurieren zur Erklärung interaktiven Geschehens ursprünglich auf spezifische, in der Regel historisch bedingte Dispositionen des einzelnen, die er in seiner bisherigen Sozialisation erworben hat. Die grundlegende Denkfigur besteht dann darin, daß durch historisch gespeicherte Interaktionen auch seine aktuellen determiniert werden. Sie führen also, im Sinne obiger Definition, zu einer Veränderung in seinem Denken und Handeln.

In der psychoanalytischen Literatur stehen immer zwei Gruppen von Konzepten im Vordergrund, wenn interaktives Geschehen erklärt werden soll:

- Übertragungs- und Gegenübertragungsmodelle sowie

- Widerstandskonzepte.

Beide Konzeptgruppen weisen Überschneidungen auf, durch sie werden aber doch zwei unterschiedliche Aspekte interaktiven Geschehens akzentuiert:

- Übertragungs- und Gegenübertragungsmodelle suchen vorrangig zu erklären, wie sich Beziehungen durch historisch gebildete Erfahrungsmuster einzelner in ihrer Art und Qualität grundsätzlich konstellieren.

- Demgegenüber beschäftigen sich Widerstandskonzepte mit der Frage, wie Menschen konstruktive Verständigung in Beziehungen vollständig oder partiell blockieren.

Zu beiden Konzeptgruppen ergaben sich seit FREUD eine Vielzahl von Modifikationen und Erweiterungen gegenüber ursprünglichen Sichtweisen.

An dieser Stelle können auch wieder nur grundlegende Ausführungen zu diesen Ansätze gemacht werden.

(1.2.) Übertragungs-/Gegenübertragungs-Modelle

Im klassischen Übertragungs-/Gegenübertragungs-Modell von FREUD wird postuliert, daß traumatische Beziehungserfahrungen in frühkindlichen Entwicklungsstadien das grundlegende Modell für alle späteren Interaktionen bilden können.

Ausgehend von der klassischen Vorstellung des Übertragungs-/Gegenübertragungs-Geschehens ergaben sich Erweiterungen und Verfeinerungen der basalen Denkfigur, es ergaben sich aber auch Anwendungen auf Gruppen- und organisatorische Zusammenhänge.

- So finden wir zum klassisch dyadischen Übertragungs- und Gegenübertragungs-Begriff rollen- und interaktionstheoretische Ausdeutungen, wie sie etwa RICHTER (1969), BECKMANN (1978), KERNBERG (1980) u.a. vorlegten.

Beispiel 14.: Zwei ungefähr gleichaltrige Psychologinnen wurden in einer Strafvollzugsanstalt tätig. Die eine von ihnen gewann sehr schnell das Vertrauen der staffälligen jungen Männern, der anderen dagegen versuchten die Gefangenen das Leben schwer zu machen, wo sie nur konnten. "Die ist eine Zicke," meinten sie. Über die andere dagegen waren sie einstimmig der Meinung, "die ist in Ordnung." Bei einer umfassenden Situationsanalyse stellte sich heraus, daß diejenige, die von den Gefangenen gut angenommen wurde, mehrere jüngere Brüder hatte und auch von den Gefangenen als "ältere Schwester, der man vertrauen kann", definiert wurde. Die andere Psychologin dagegen wuchs in ihrer Kindheit nur mit Schwestern auf, war also mit der "Männerwelt" weitaus weniger vertraut. Beide forderten also Übertragungen und damit Rollendefinitionen heraus, die ihren früheren Rollenerfahrungen entsprachen

-  Zur Übertragung-/Gegenübertragung in Gruppen finden wir unterschiedliche Ansätze, die Übertragungen in Gruppen entweder als "Netz" beschreiben (WOLF/SCHWARTZ 1962), als "systemisches" Phänomen (BION 1961, PAGES 1968) oder als "multimodale, gruppale Übertragung" oder aus beiden resultierende Phänomene (ARGELANDER 1972, PETZOLD 1986).

- Und bei Übertragungen auf Organisationen werden entweder nur emotionale Aspekte berücksichtigt (MENTZOS 1976), oder ergänzend der reale organisatorische Zusammenhang mit seinen formalen Implikationen (FÜRSTENAU 1979).

(1.2.) Widerstandskonzepte

Wie beim Übertragungs-/Gegenübertragungs-Modell wird auch im klassischen Widerstandskonzept postuliert, daß sich traumatische Beziehungserfahrungen in den ersten Lebensstadien von Menschen als dauerhaft verformend erweisen. "Widerstand" bezeichnet dann eine prärational blockierende Haltung von Patienten. Sie wird mobilisiert, wenn der Psychotherapeut die alten traumatischen Erfahrungen zu evozieren sucht.

Bei den Widerstandskonzepten ergaben sich seit der klassischen Ausdeutung von FREUD sowie REICH ebenfalls eine Vielzahl ergänzender Konzeptbildungen. Hier finden wir, noch häufiger als bei den Übertragungs-/Gegenübertragungsmodellen, Konzepte, die sich aus einer fruchtbaren Auseinandersetzung mit den klassischen Ansätzen, z.T auch in anderen Schulen entwickelt haben. Hier wurden ebenfalls Erweiterungen auf Gruppen- und organisatorische Systeme vorgenommen.

- Wird im klassischen, dyadischen Ansatz "Widerstand" als historisch bedingte, pathologische Reaktionsform des einzelnen interpretiert, akzentuieren jüngere Autoren Widerstand stärker als "Sicherungsphänomen" (MASLOW 1973) oder als generelles "menschliches Potential" (LUCAS 1981, nach FRANKL), als "interaktional" (HALEY 1963) und als "kontextuell" (KOHUT 1977) erzeugt.

- Widerstand in und gegenüber Gruppen wird zumeist als systemisches Phänomen interpretiert. Dabei rekurieren die Autoren entweder auf psychoanalytische, genauer auf "prä-ödipale Phänomene (BION 1961) oder auf existentielle Einsamkeitsängste (PAGES 1968).

- Widerstand in Organisationen unterliegt, analog zur diesbezüglichen Übertragungsdebatte, entweder einer ausschließlich emotionalisierenden Deutung (MENTZOS 1976) oder er wird als Ergebnis faktischer, organisatorische Bedingungen interpretiert (WATSON 1966).

(2) Sozialpsychologische und kommunikationstherapeutische Ansätze zur Strukturierung interaktiver Phänomene

Eine andere Gruppe von Ansätzen, die Interaktionen strukturieren, resultieren nicht aus der Psychoanalyse, die auf bestimmte historisch entstandene Dispositionen einzelner rekuriert, sondern sie begreifen interaktives Geschehen vorrangig aus dem Interaktionsprozeß selbst, also als zirculäre, beidseitig und aktuell erzeugte Erscheinung.

Innerhalb dieses Theorietyps sind nun wieder zwei Konzepte für uns relevant:

- der Interaktionismus im Anschluß an MEAD und

- der kommunikationstherapeutische Ansatz der Palo-Alto-Schule im Anschluß an BATSON.

Trotz der soeben beschriebenen Gemeinsamkeiten entstammen die Ansätze unterschiedlichen Traditionen. Dadurch unterscheiden sie sich auch in ihrem Aussagewert. Aus diesem Grund haben sie für unseren Ansatz je unterschiedliche Bedeutung:

(2.1.) Die Interaktionstheorie von MEAD spiegelt eine unserer grundlegenden anthropologischen Positionen wider. Sie hat sowohl in der Psychologie als auch in der Soziologie einen konzeptionellen Paradigmenwechsel eingeleitet. Als gedankliches Bindeglied zwischen ursprünglich ausschließlich individualisierenden Sichtweisen der Psychologie und rigoros sozialdeterministischen Positionen der Soziologie stellt der MEADsche Ansatz ein ganz grundlegendes Analysemuster dar (JOAS 1980).

In ihm wird postuliert, daß jeder Reiz, im Sinne von Reflexivität, gleichzeitig als Reaktion zu begreifen ist. Eine Unterscheidung in Sender und Empfänger ist somit hinfällig. "Soziale Interaktion" ist dann ein fließender Austauschprozeß, der die Grundlage für jede Sozialität bildet.

Dieser Austauschprozeß wird als automatischer, nicht willentlicher Vorgang begriffen, der den gesamten Menschen umfaßt.

MEAD erklärt nun jedwede Sozialisation aus diesem intersubjektiven Zusammenhang und beschreibt auch Identitätsentwicklung als Ergebnis solcher Prozesse.

Der MEADsche Ansatz wurde, unter dem Begriff "symbolischer Interaktionismus" (BLUMER 1969) auch auf soziale Systeme bezogen. Hier dient er dann zur Beschreibung, wie  kollektive Sinnsysteme in kleineren oder größeren Sozialsystemen entstehen.

(2.2.) Entwickelte MEAD seinen Ansatz als grundlegendes sozialphilosophisches Gebilde, wurde der kommunikationstherapeutische Ansatz der Palo-Alto-Schule als Grundlage für ein psychotherapeutisches Handlungsmodell entworfen.

Die Denkfigur dieses Ansatzes basiert auf Überlegungen des Kulturanthropologen Gregory BATSON. Sie wurde von WATZLAWIK et al. (1967) in fünf axiomatischen Aussagen "popularisiert".

Wie MEAD beschreiben auch WATZLAWIK et al. (ebenda) kommunikative Akte als Äußerungen sprachlicher wie nicht-sprachlicher Art, die auf einem Spektrum von bewußt bis unbewußt anzusiedeln sind. Und die Autoren gehen analog MEAD davon aus, daß jeder kommunikative Akt einer Deutung durch den anderen bedarf.

Anders aber als MEAD kategorisieren die Autoren kommunikative Phänomene in einen inhaltlichen und beziehungsmäßigen Aussagegehalt. Dabei nehmen sie, auf dem Hintergrund der logischen Typenlehre von RUSSELL an, daß Beziehungsaussagen auf einer logisch höheren Ebene anzusiedeln sind, als inhaltliche. Sie unterstellen dann, daß beziehungsmäßige Aussagen durch nonverbale und inhaltliche durch verbale Botschaften repräsentiert sind. Sie nehmen weiterhin an, daß analytisch präzise Aussagen sprachlich vermittelt werden, während ganzheitliche, "analoge", sich nicht-sprachlich äußern.

Selbstverständlich bedürfen auch die Ansätze zur Strukturierung von Interaktionsphänomen einer eingehenden Untersuchung, inwieweit sie in unser Modell integrierbar sind oder nicht. Solche Analysen finden Sie in den Lehrmaterialien "Widerstand/Übertragung" und "Kommunikationsphänomene".


Literaturhinweise

Grundlagenliteratur

(Da Sie in den weiteren Lehrmaterialien umfassend mit den einzelnen Theorie-Gruppen vertraut gemacht werden, möchte ich Ihnen an dieser Stelle empfehlen, im einschlägigen Lehrbuch zu "schmökern" und sich Teile anzueignen, die Sie jetzt schon ganz besonders interessieren).

Schreyögg, A., Supervision - ein integratives Modell, Lehrbuch zu Theorie und Praxis, Junfermann, Paderborn 1992 (2. Aufl.)

Literatur zur Bedeutung von Theorien

Berger, P., Luckmann, T., Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt/M. 1979

Schütz, A., Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt, Suhrkamp, Frankfurt/M. 1981

Grundlagenliteratur zur Organisation

Kieser, A., Kubicek, H., Organisation, 2. Aufl., de Gruyter, Berlin, New York 1983

Mayntz, R., Soziologie der Organisation, Rowohlt, Hamburg 1963

Schreyögg, A., Organisationsanalytisches Wissen in der Supervision, in: Gruppendynamik 1/1991, S. 5-18

Grundlagenliteratur zu Interaktionen

Graumann, C.F., Interaktion und Kommunikation, in: Handbuch der Psychologie, Bd. Sozialpsychologie, 2. Halbband 1972

Joas, H., Praktische Intersubjektivität, Suhrkamp, Frankfurt/M. 1980

Watzlawik, P., Beavin, J.H., Jackson, D.D., Menschenliche Kommunikation, Huber, Bern, Stuttgart, Wien