Kurs: Psychoanalytische Ansätze in der Supervision
Übertragungs-/Gegenübertragungsansätze und
Widerstandskonzepte
I. Zum Stellenwert psychoanalytischer Ansätze in der Supervision
In der Tradition von Supervision nehmen psychoanalytische Ansätze schon lange eine gewichtige Rolle ein. Das liegt an der Geschichte von Supervision und am supervisorischen Gegenstand. Bei unreflektierter Anwendung können sich aber Probleme ergeben, so daß es sinnvoll ist, alle für Supervision relevant erscheinenden Ansätze einer eingehenden Prüfung zu unterziehen.
1. Die historische Nähe zwischen Psychoanalyse und Supervision
Supervision entwickelte sich in den Bereichen von Sozialarbeit und Psychotherapie. Historisch entstammt Supervision der amerikanischen Sozialarbeit der Jahrhundertwende, wo Supervision in einem eher administrativen Verständnis als Führungsaufgabe in sozialen Dienstleistungssystemen begriffen wurde (BELARDI 1992). Ein anderer Traditionsstrang von Supervision entstammt der Psychoanalyse. Hier wurden angehende Psychoanalytiker für ihre ersten Arbeiten mit Patienten von einem therapeutischen Lehrer beraten und "kontrolliert." Die Therapielehrer bzw. "Kontrollanalytiker" wandten dabei diagnostische und methodische Elemente des Ursprungsverfahrens an. Dement-sprechend standen bei der Kontrollanalyse genau solche diagnostischen Kategorien und methodischen Maßnahmen im Vordergrund, mit denen Psychoanalytiker üblicherweise arbeiten.
Kontrollanalytische Aktivitäten bildeten nun auch das bevorzugte konzeptionelle Grundmuster, als sich sozialarbeiterische Supervision im Verlauf der 50er Jahre immer umfassender an die Psychoanalyse anlehnte (BELARDI 1992). Damit gleichlaufend wandelte sich Supervision von ihrer administrativen Funktion zu einer psychotherapie-ähnlichen, zur "Clinical Supervision". Bei dieser wurden nun in Analogie zur psychoanalytischen Arbeit unbewußte Strebungen von Berufstätigen verhandelt.
Bei derartigen Supervisionsformen stand jetzt in Frage, ob sie überhaupt noch von einem Vorgesetzten praktiziert werden sollen, ob es nicht sinnvoller wäre, in den Dienstleistungssystemen Stabsstellen zur Supervision einzurichten oder diese Funktion an externe Berater zu delegieren. So modifizierte sich durch den Einbezug psychoanalytischer Muster in die Supervision sogar die Funktion dieser Beratungsform.
2. Die Bedeutung psychoanalytischer Ansätze für den Gegenstand von Supervision
Selbst als sich Supervision von ihren Ursprungsfeldern, der Sozialarbeit und der Psychotherapie, "emanzipierte" und zunehmend in neuen Feldern sowie neuen Settings praktiziert wurde und man sogar neue diagnostische und methodische Möglichkeiten in Supervisionsmodelle integrierte, blieben zumindest psychoanalytische Diagnosekategorien in den meisten Supervisionsansätzen erhalten. Das ist im Prinzip auch konsequent; denn die Psychoanalyse konzipierte diagnostische Ansätze zum Verstehen interaktiver Grundmuster zwischen Menschen, die potentiell in jeder Begegnung allgegenwärtig sind. Und Supervision stellt ein hochgradig interaktives Phänomen dar.
Sie ist immer in doppelter Weise mit interaktiven Phänomenen befaßt: Als Beratungsform stellt sie zunächst selbst ein interaktives Gefüge dar. In den meisten Fällen ist sie aber auch thematisch mit Interaktionen beschäftigt, wenn sie etwa die Beziehung zwischen Professionellen und ihren Klienten, die Beziehungen der Klienten untereinander oder die Beziehungen von Professionellen untereinander zu verhandeln hat. Wie sich der Supervisionsliteratur (PÜHL 1990) entnehmen läßt, dienten psychoanalytische Ansätze bislang am häufigsten zur Diagnose interaktiver Phänomene. Neben interaktiven Ansätzen aus der Soziologie und der Sozialpsychologie bilden sie auch in der Integrativen Supervision (siehe "Einführung in die Integrative Supervision", SCHREYÖGG 1994) das Grundinventarium an theoretischen Mustern zur Analyse von Interaktionen.
3. Probleme bei der Anwendung psychoanalytischer Ansätze in der Supervision
Nun besteht allerdings bei der Anwendung von theoretischen Konstruktionen in praktischen Situationen immer das Problem, daß sich vermittelt durch die Theorien Sichtweisen in die Praxis "einschleichen", die Anwender bewußt gar nicht vertreten. Hier ergeben sich oft perspektivische Verzerrun-gen vom jeweiligen Gegenüber, die den anthropologischen Überzeugungen des Anwen-ders nicht entsprechen. Beim Einsatz psy-choanalytischer Diagnosekategorien ergeben sich aber auch methodische Verschiebungen. Es ist nämlich zu bedenken, daß seit FREUD das gesamte diagnostische Inventarium der Psychoanalyse aus der praktischen Arbeit mit Patienten entwickelt wurde. Jede theoretische Position ist dann mit einer methodischen gekoppelt. So unterstellt z.B. das klassische Widerstandskonzept, daß ein Mensch, der auf das Dialogangebot eines Professionellen aktuell nicht eingeht, sich aufgrund früherer Traumatisierung so verhält. Aus dieser Sicht ergibt sich, daß Professionelle Dialogverweigerungen von Klienten eher als "kindliche Unart" entwerten und das Nicht-Wollen ihrer Klienten oder Supervisanden zu unterlaufen oder gar zu brechen suchen. Die Möglichkeit, daß dieses Nicht-Wollen durch situative Faktoren, etwa eine spezielle Methodik oder vielleicht gar durch den Professionellen selbst verursacht ist, schließt das klassische Diagnosekonzept letztlich aus.
Die Gefahr, durch diagnostische Kategorien perspektivische und methodische Festlegungen zu entwickeln, sollte sich jeder Anwender von Theorien deutlich machen. Solche Probleme stellen sich aber besonders dringlich bei der Entwicklung von Handlungsmodellen. Durch sie sollen ja Aussagen formuliert werden, an denen sich eine Vielzahl von Anwendern orientieren kann. Wenn bestimmte Theorien in ein Handlungsmodell integriert werden sollen, bedürfen sie deshalb jeweils einer Analyse, ob das ihnen zugrunde liegende Verständnis auch mit dem Gesamtansatz verträglich ist. Wie anhand des ersten Kurses, "Einführung in die Integrative Supervision" (SCHREYÖGG 1994), schon deutlich gemacht, verfügt ein supervisorisches Handlungskonzept idealerweise über ein Meta-Modell mit anthropologischen Prämissen, an denen sich dann auch jede Theorie bewähren muß. Das heißt, jedes Theoriekonzept, das im Handlungskonzept Anwendung finden soll, muß nicht nur daraufhin untersucht werden, ob es für den Anwendungsbereich des Handlungsmodells überhaupt zutreffend ist, sondern auch im Hinblick auf seine verdeckten anthropologischen Prämissen; denn hier ist relevant, inwieweit diese mit dem Meta-Modell des Handlungskonzeptes in Übereinstimmung stehen.
So will ich auch bei der nachfolgenden Darstellung die präsentierten psychoanalytischen Konzepte nicht nur daraufhin untersuchen, ob sie für supervisorische Anlässe überhaupt geeignet sind, sondern auch im Hinblick auf das ihnen zugrunde liegende Verständnis von Mensch-Sein. Erst im Anschluß an solche Prüfungen ist zu entscheiden, inwieweit die jeweiligen Theorien in den Gesamtansatz der Integrativen Supervision passen.
4. Die für Supervision relevanten Ansätze aus der Psychoanalyse
Der gesamte psychoanalytische Ansatz unterstellt, daß jedes menschliche So-Sein hochgradig durch Beziehungen zu anderen Menschen geprägt ist. Psychoanalytische Therapie besteht dann im Prinzip darin, alle bisher prägenden Beziehungserfahrungen eines Menschen zu analysieren, sie durch Rekonstruktionen bewußt zu machen und auf diesem Wege Beziehungserfahrungen mit ungünstiger Prägung für das aktuelle Leben zu eliminieren. So liegt es in der Psychoanalyse schon aus diesem Grund nahe, Beziehungsphänomenen diagnostisch einen entscheidenden Stellenwert beizumessen. Jede Therapie ist nun selbst wieder interaktives Geschehen, so daß Auseinandersetzungen mit der therapeutischen Beziehung meistens eine zentrale Rolle spielen. In der Psychoanalyse wird angenommen, daß sich die historischen Beziehungserfahrungen eines Menschen in der Therapiesituation mehr oder weniger plastisch abbilden; denn nach Auffassung der Psychoanalyse resultiert ja aktuelles So-Sein und damit auch aktuelles Handeln in Beziehungen immer aus bisherigen Beziehungserfahrungen.
Dieser Argumentationszusammenhang ist maßgeblich dafür, daß die Psychoanalyse diagnostisch über sehr ausgefeilte Konzepte zur Analyse eben dieser Beziehungen verfügt. Sie lassen sich in zwei Gruppen gliedern: In die Übertragungs-/Gegenübertragungsansätze und in die Widerstandskonzepte. In ihrer ursprünglichen Fassung erklären diese Konzepte interaktives Geschehen als Ausdruck individueller Interaktionsbereitschaften, die Menschen aus bisher gelebten Situationen mit anderen Menschen entwickelt haben. Wenn beide Konzeptgruppen auch Überschneidungen aufweisen, werden in ihnen doch zwei unterschiedliche Aspekte interaktiven Geschehens akzentuiert:
(1) Übertragungs-/Gegenübertragungsansätze erklären, wie Interaktionsmuster, die anläßlich früherer Sozialerfahrungen gebildet wurden, in neuen Beziehungskonstellationen unbewußt wiederholt werden. Dabei bietet eine Person ihrem Gegenüber alte Interaktionsmuster an, was als "Übertragung bezeichnet wird. Wenn die andere Person auf diese Muster im Sinne der erwarteten Haltung reagiert, bezeichnet man das als "Gegenübertragung."
Übungsaufgabe 1.: Haben Sie schon einmal erlebt, daß Ihnen jemand, dem Sie gar nichts Böses wollten, unterstellt hat, daß Sie auf ihn schlecht zu sprechen sind, daß Sie ihn abwerten usw. Haben Sie schon erlebt, daß dieser Mensch auf seiner Perspektive beharrte und Sie keine Chance hatten, ihn eines Besseren zu belehren? Versuchen Sie sich bitte möglichst genau zu erinnern, wie Sie auf ihr Gegenüber eingegangen sind und wie Sie diese Interaktion mit dem besagten Menschen insgesamt erlebt haben. Diskutieren Sie bitte diese Erfahrung in Ihrer Lerngruppe.
(2) Demgegenüber beschäftigen sich Widerstands-Konzepte mit der Frage, wie und warum Menschen konstruktive Verständigung im Sinne von Kommunikation und Kooperation in Beziehungen vollständig oder partiell blockieren, ohne diese Haltung als beabsichtigte zu vertreten oder sie gar begründen zu können. Auch hierbei wird unterstellt, daß es sich um unbewußte Muster handelt, die in früheren Entwicklungsstadien gebildet wurden.
Übungsaufgabe 2.: Haben Sie schon einmal erlebt, daß ein Kollege oder Mitarbeiter immer wieder zu spät kam oder in anderer Weise notorisch nachlässig war und trotz guten Zuredens und trotz vieler selbst gefaßter guter Vorsätze dieses nachlässige Verhalten nicht einstellte? Erinnern Sie sich bitte möglichst genau an diesen Menschen und versuchen Sie in Ihrer Arbeitsgruppe zu diskutieren, wodurch dieses Verhalten wohl verursacht war.
Zu beiden Konzeptgruppen ergaben sich seit FREUD eine Vielzahl von Modifikationen und Erweiterungen gegenüber ursprünglichen Sichtweisen. Im Anschluß an die jeweiligen klassischen Positionen werde ich deshalb auch "Revisionen" oder "kreative Varianten" mit ihren Besonderheiten vorstellen, so wie sie heute in der Literatur präsentiert werden. Alle diese Ansätze sollen dann in pragmatischer und anthropologischer Hinsicht untersucht und für ihre Anwendbarkeit in der Supervision bewertet werden.
II. Übertragungs- und Gegenübertragungsansätze in der Supervision
Übertragungs- und Gegenübertragungsmodelle bilden einen zentralen Bestandteil psychoanalytischer Theorie und Behandlungsstrategie. Obwohl erst die Kombination "Übertragung und Gegenübertragung" die eigentliche interaktive Denkfigur bildet, will ich sie aus didaktischen Gründen hier zunächst getrennt verhandeln. Nach einer Auseinandersetzung mit grundlegenden Übertragungs- und Gegenübertragungspositionen verhandle ich wesentliche Modifikationen, sodann ihre Umsetzung auf Gruppen und Organisationen.
1. Der klassische Übertragungsansatz
Nach einer Darstellung des theoretischen Grundmusters und seiner kritischen Analyse sollen seine Anwendungsmöglichkeiten in der Supervision verhandelt werden.
1.1. Das theoretische Grundmuster
Da die Entwicklung psychoanalytischer Theorie immer unmittelbar mit der Methodenentwicklung der Psychoanalyse verbunden war, muß das Übertragungskonzept schon in seiner klassischen Version als Analysemuster und als konzeptionelle Grundlage für therapeutisches Handeln gesehen werden.
(1) Als Analysemuster
FREUD beobachtete schon in seiner hypnotherapeutischen Arbeitsphase, daß Patientinnen unangemessen intensive Gefühle von Liebe oder Haß ihm gegenüber entwickelten. Diese Gefühlsregungen beschrieb er als Nachbildung von Emotionen und Phantasien gegenüber früheren Beziehungspartnern. Auf dem Hintergrund seines libido-theoretischen Entwicklungsmodells präzisierte er Übertragungen meistens sogar als Wiederbelebung ödipaler Strebungen gegenüber Elternfiguren.
Die Beziehungsentwicklung von Menschen erfolgt nämlich nach FREUD entlang einem biologisch vorgegebenen Entwicklungsschema, bei dem jeweils bestimmte leibliche Regionen im Vordergrund des Erlebens stehen. In frühesten, d.h. in "oralen Stadien", dominieren Phänomene von Nahrungsaufnahme, die durch den Mund repräsentiert sind. In der nächsten Epoche, wenn das Kind motorisch und kognitiv einen größeren Aktionsradius ausfüllen kann, stehen Einschränkungen seitens der erwachsenen Interaktionspartner im Vordergrund. Da hier der Regulation von Ausscheidungen eine zentrale Bedeutung zukommt, bezeichnet FREUD dieses Stadium als "anale Phase". Das Beziehungserleben des Kindes kreist in diesem Stadium vorrangig um die Ausscheidungsorgane und entsprechende Sensationen. Mit fortschreitender biologischer Reife beginnt das Kind seine primären Geschlechtsmerkmale wahrzunehmen und damit auch die geschlechtliche Unterschiedlichkeit seiner Eltern. Jetzt fühlt sich im Sinne der klassischen "Ödipus-Sage" der Junge von der Mutter angezogen und das Mädchen vom Vater. Aus diesem Grund wird dieses Stadium als "ödipale" Phase bezeichnet. Je weniger die Bezugspersonen in der Lage waren, den Bedürfnissen des Kindes in einer der jeweiligen Phasen zu entsprechen, desto größer ist nach FREUD die Wahrscheinlichkeit, daß Menschen auch im späteren Alter Bedürfnisbefriedigungen, die für diese Phase charakteristisch sind, suchen. Damit "regredieren" sie auf die nicht-befriedigte Phase (FREUD, S., 1977).
Im Hinblick auf Übertragungen in der therapeutischen Situation postulierte FREUD, daß durch ihr regressionsförderndes Setting schnell frühkindliche Beziehungserfahrungen mit all ihren positiven und negativen Gefühlsanteilen gegenüber dem Therapeuten wiederbelebt werden. Später ergänzte FREUD, daß es sich bei Übertragungen um ein universelles Interaktionsphänomen handelt, das sich potentiell in jeder zwischenmenschlichen Beziehung mehr oder weniger deutlich aktualisieren kann (THOMÄ/KÄCHELE 1988). Der klassische Übertragungsbegriff umreißt also ein Phänomen zwischen drei Personen, von denen zwei physisch anwesend sind, die dritte jedoch nur in der Phantasie des einen Interaktionspartners präsent ist. Innere Vorgänge, die aus einer frühkindlichen Interaktion resultieren, werden also von dem einen Interaktionspartner, dem Patienten, einem neuen Interaktionspartner gegenüber, dem Therapeuten, wiederbelebt.
Beispiel 1.: Ein äußerlich eher unscheinbarer Psychotherapeut hatte den Ruf, daß sich alle seine Patientinnen in ihn verliebten. Selbst wenn sie ihn nicht als Liebhaber begehrten, äußerten sie übermäßigen Respekt oder irgendwelche übertriebenen Formen von Verehrung. Bei einer eingehenden Analyse in der Supervision stellte sich heraus, daß dieser Therapeut seinen Patientinnen gegenüber jeweils sehr ausgeprägt als gütiger und allmächtiger Vater auftrat und dementsprechend auch bevorzugt einen Frauentyp als Patientinnen anzog, bei dem der Vater früh verstorben, durch Scheidung oder aus anderen Gründen frühzeitig aus dem Fami-lienverband ausgeschieden war.
(2) Als methodische Grundlage
Dieser Zusammenhang war bereits in der hypnotherapeutischen Schule von MESSMER (JANET u.a. zitiert nach PETERS 1977) als Behinderung der Symptombehandlung erkannt worden. Was diese Autoren aber noch als problematischen Nebeneffekt therapeutischer Behandlung begriffen hatten, sah FREUD zunehmend als entscheidendes Element von Psychotherapie. Er entwickelte eine zunächst genial erscheinende paradoxe Strategie: Das pathologische Beziehungsangebot des Patienten, das sich dem symptomatischen Behandlungserfolg scheinbar entgegenstellt, definierte er zunehmend als Kernstück psychoanalytischer Arbeit um. Seine Methodik zielte darauf, die "Ursprungsneurose" des Klienten, also etwa eine hysterische Symptomatik wie einen gelähmten Arm, in eine "Übertragungsneurose", also z.B. in eine ambivalente Beziehung zum Vater/Therapeuten, zu verwandeln. Die "pathologischen" Ursprungsgefühle gegenüber früheren Beziehungspartnern (HÄMMERLING-BALZERT 1978) sollten nämlich in der psychoanalytischen Situation wieder aufleben. Psychoanalytische Arbeit zielte nun zunehmend darauf, daß der Patient im Verlauf der Behandlung gegenüber dem Analytiker all die Gefühle erlebt, die er gegenüber einer traumatisierenden frühkindlichen Bezugsperson erlebt hatte.
Beispiel 2.: Der im Beispiel 1. beschriebene Therapeut konnte sich zu Beginn seiner Karriere als Therapeut den vielfältigen Verehrungsangeboten seiner Patientinnen kaum entziehen, erst als er im weiteren Verlauf seiner Praxis den Übertragungscharakter dieser Angebote immer deutlicher verstand, gelang es ihm mit diesen Übertragungsangeboten konstruktiv zu arbeiten. Er konnte in ihnen nun jeweils die Sehnsucht nach dem realen Vater erkennen und diesen Aspekt in seinen Therapien ausführlich bearbeiten.
Übertragung ist in diesem Verständnis nicht herstellbar, sondern wird durch das psychoanalytische Setting lediglich bewußt gefördert. Liegen auf der Couch, das freie Assoziieren usw. im klassisch psychoanalytischen Setting erzeugen nur intensivere Regressionsbereitschaften beim Patienten, so daß kindliche Beziehungserfahrungen mit größerer Wahrscheinlichkeit mobilisiert werden (THOMÄ/KÄCHELE 1988). Gleichzeitig bewirkt die sogenannte therapeutische Abstinenz des Analytikers, d.h. die betonte Zurückhaltung in Gestik, Mimik, Sprache usw. (vgl. HENNY 1978), daß der Therapeut als ursprünglich möglichst neutraler Projektionsschirm für verschiedenste Übertragungen in Frage kommt.
Übungsaufgabe 3.: Haben Sie schon einmal erlebt, daß in Ihrem privaten oder beruflichen Umfeld ein Mensch in seinen mimischen und gestischen Ausdrucksformen sehr sparsam wirkte und auch wenig von sich erzählte? Notieren Sie sich bitte, was Sie selbst in Konfrontation mit diesem Menschen erlebt haben und diskutieren Sie dieses in Ihrer Arbeitsgruppe.
1.2. Kritik des theoretischen Grundmusters
Das klassische Übertragungsmuster bedarf einer kritischen Reflexion in zweifacher Hinsicht, als Analysemuster und als methodische Basis. Dabei sind diese Aspekte jeweils unter anthropologischen und instrumentellen Gesichtspunkten zu bewerten.
(1) Als Analysemuster
In anthropologischer Hinsicht entspricht das Übertragungsmodell in seiner basalen Denkfigur einer der anthropologischen Prämissen unseres Meta-Modells, wonach in früheren sozialen Zusammenhängen gebildete Erfahrungsmuster auch aktuelles Erleben und Handeln mitbestimmen. Anders aber als in unserem Meta-Modell postuliert, sieht die Psychoanalyse auf dem Hintergrund ihres biologistischen Entwicklungsmodells solchen Zusammenhang nur für die ersten Lebensjahre eines Menschen. Personale Entwicklung bzw. die Entfaltung von Erfahrungsmustern wird so perspektivisch immer auf frühkindliche Lebensstadien reduziert. Da aber der Mensch als sich lebenslang entwickelndes Wesen zu begreifen ist, begegnet uns hier eine reduktionistische Position.
Übungsaufgabe 4.: Können Sie sich an einen Lehrer oder Vorgesetzten erinnern, vor dem Sie sich gefürchtet haben und der Ihre Erwartungen gegenüber anderen Lehrern oder gegenüber anderen Vorgesetzten geprägt hat? Diskutieren Sie bitte solche Erfahrungen in ihrer Lerngruppe. Hierbei handelt es sich dann eben nicht um eine frühkindliche Beziehungserfahrung, die Sie in neue Beziehungen hineingetragen haben, sondern um eine, die schon nach der ödipalen Phase lag.
Eine Reduktion impliziert der Ansatz auch insofern, als er vorrangig an das "Triebschicksal" eines Menschen gekoppelt ist. Sozialität erscheint dann perspektivisch sekundär. Die typisch menschliche Möglichkeit, eigene biologische Festlegungen zumindest in Teilen zu überwinden, wird hier nicht miterfaßt.
Wenn wir das klassische Übertragungsmodell unter pragmatischen Gesichtspunkten untersuchen, also wie umfassend und sinnfällig es interaktive Bereitschaften von Klienten, Supervisanden und Supervisoren zu erfassen vermag, wird die Reduktion besonders deutlich. Durch seine gedankliche Grundstruktur werden immer nur frühkindliche oder oft noch eingeschränkter in ödipalen Stadien gebildete Interaktionsmuster erhellt. Die im weiteren Lebensverlauf oder gar in arbeitsweltlichen Zusammenhängen erworbenen Erfahrungsmuster kann der klassische Ansatz nicht erfassen.
(2) Als methodische Basis
Therapeutische Arbeit, die ihre Behandlungsstrategie auf den Übertragungsansatz gründet, enthält unter pragmatischen Gesichtspunkten eine Reihe von Problemen, von denen ich hier nur einige gravierende herausgreifen will:
a. Durch die behandlungsstrategische Zentrierung auf diesen Ansatz reduzieren sich therapeutische Themen auf Phänomene, die nur in der Therapeut-Klient-Beziehung aktualisiert werden. Probleme, die für Klienten vielleicht bedeutsam sind, sich aber im Rahmen einer Therapie-Relation durch Übertragung nicht abbilden, bleiben außer Betracht.
b. Durch die planmäßige Vertiefung von Übertragungen erfolgt eine ausgeprägt asymmetrische Einsteuerung zwischen Therapeut und Klient. Auf diese Weise werden regelmäßig Regressionsbereitschaften des Klienten vertieft, die seine autonome Handlungsfähigkeit zumindest vorübergehend stark einschränken.
c. Da für die Intensivierung einer Übertragungsneurose therapeutische Abstinenz notwendig ist, d.h. ausgeprägte emotionale Einschränkung des Therapeuten, besteht die Gefahr, daß auch der Klient im Sinne von Modellernen diese Gefühlshaltung übernimmt. Auf diese Weise werden dann vielfach eher emotionale Einschränkungen als Expressionsmöglichkeiten von Klienten gefördert.
Das klassische Konzept ist auch in anthropologischer Hinsicht problematisch.
a. Bei vorrangiger Zentrierung auf das Übertragungsmodell spricht der Therapeut dem Klienten indirekt die Möglichkeit ab, daß er auch in unverstellter Weise zu ihm in Beziehung treten kann. Diese Unterstellung spiegelt ein reduktionistisches Menschenmodell.
b. Darüber hinaus setzt so verstandene Behandlung in der Anlage des Settings und der Haltung des Therapeuten immer ein strategisches Element voraus. Der Therapeut definiert sich als "allwissender Übertragungsschirm", an dem sich der durch seine individuelle Geschichte festgelegte Klient "abarbeiten darf". Dadurch werden Klienten unbemerkt objektiviert.
Solche Haltungen sind auf dem Hintergrund der metamodell-theoretischen Prämissen von Integrativer Supervision, wonach eine Subjekt-Subjekt-Beziehung das Ideal aller mitmenschlichen Relationen darstellt, sehr kritisch zu beurteilen.
1.3. Die Anwendung des theoretischen Grundmusters in der Supervision
In seiner Anwendung für die supervisorische Praxis will ich das klassische Übertragungsmodell zuerst als Analysemuster beleuchten. In diesem Zusammenhang finden wir sogar eine Reihe von Konzeptbildungen in der Supervision. Daran anschließend werde ich die Anwendung des klassischen Übertragungsansatzes auch als Methodenkonzept für die Supervision kritisch umreißen.
(1) Als Analysemuster in der Supervision
Als generelle Interaktionsphänomene lassen sich Übertragungen in allen professionellen Beziehungen und damit auch in der Supervision diagnostizieren. Jeder Beziehungspartner, Klient, Supervisand oder Supervisor kann in der einen oder anderen Weise potentiell Übertragungen entwickeln. Die teilweise oder gelegentlich asymmetrische Rollenstruktur zwischen Supervisor und Supervisand begünstigt auch in der Supervisionssituation Übertragungsphänomene. Der Supervisand muß sich ja immer bis zu einem gewissen Grad dem Supervisor anvertrauen, was leicht alte Erfahrungen im Zusammenhang mit Eltern-Kind-Beziehungen aktualisiert. Besonders in Anfangsphasen von Supervision ist der Tatsache Rechnung zu tragen, daß jede neue Interaktion tendenziell labilisierend wirkt und potentiell kindliche Reaktionsmuster wiederbelebt. So steht am Beginn der Supervision oft eine milde Form von Regression, die Übertragungen aller Arten befördern kann.
(2) Konzeptentwicklungen zur Anwendung als Analysemuster in der Supervision
Für die Anwendung von Übertragungsansätzen in der Supervision wurden sogar spezielle konzeptionelle Sichtweisen entwickelt.
a. Die latent bestehende affektive Labilisierung des Supervisanden begünstigt aus der Sicht von DANTLGRABER (1977) "Übertragungen zweiter Ordnung". Dies sind Übertragungen des Supervisanden gegenüber dem Supervisor, die der Supervisand aus der Interaktion mit dem Klienten bzw. dessen Übertragung in die Supervisionssituation hineinträgt.
b. KUTTER (1984) beschreibt dies als "Spiegelphänomen", das eine Fülle von Hinweisen für die Supervisand-Klient-Beziehung erbringt. So entwickeln etwa im Verständnis seines Ansatzes Psychotherapeuten im Verlauf ihrer Falldarstellungen oft spiegelbildlich zu ihren Patienten Übertragungen gegenüber Supervisoren. Solche Phänomene wurden schon im "BALINT-Gruppenmodell" postuliert. Übertragungsphänomene können in der Gruppensupervision, wenn die gesamte Dynamik einer Gruppe von einer Falldarstellung erfaßt wird, in Erscheinung treten. THOMÄ/KÄCHELE (1988) wenden gegen diese Perspektive allerdings ein, daß die in der aktuellen Supervisionssituation aktualisierten Übertragungen vorsichtig zu deuten seien. Diese Autoren nehmen an, daß viel häufiger Übertragungen des Supervisanden auf den Supervisor aktualisiert werden.
c. Solche Übertragungen wurden auch als "umgekehrte Spiegelphänomene" (KUTTER 1984) verhandelt. Dann beschreibt der Supervisand den Klienten auf dem Hintergrund seiner eigenen Übertragung auf den Supervisor.
Beispiel 3.: So stellte ein Supervisand, der seine "kritizistische" Mutter auf mich als Supervisorin übertragen hatte, überwiegend Arbeitsprobleme vor, bei denen andere seine Arbeit nicht anerkannten. Als sich die Übertragung zu mir milderte oder auflöste, schilderte er nicht nur seine Interaktionspartner anders, er brachte auch andere Themen in die Supervision ein.
Nun stellt sich neben den vorher geäußerten Bedenken die Frage, ob es "sinnfällig" ist, das aus therapeutischen Zusammenhängen ent-wickelte Übertragungsmodell überhaupt unmo-difiziert auf die supervisorische Praxis zu beziehen. Übertragungen sind in beruflichen Zusammenhängen und auch in der Supervision anders zu bewerten. Sie treten voraussicht-lich auch anders in Erscheinung.
Im Gegensatz zu Übertragungen von Klienten haben die des Supervisanden immer einen objektivierbaren Ernstcharakter. Anders als bei Klienten in der Psychotherapie ziehen solche Übertragungen faktische und oft auch negative Konsequenzen nach sich. So kann etwa die intensive Übertragung eines Supervisanden auf einen Klienten die weitere Arbeit unmöglich machen, d.h. sie behindert den Supervisanden unter Umständen, seinen formalen Arbeitsauftrag konstruktiv zu erfüllen. Übertragungen auf Vorgesetzte oder Kollegen und ihr unreflektiertes Ausagieren ziehen vielfach sogar manifeste Probleme, die bis zur Kündigung reichen können, nach sich.
Übungsaufgabe 5.: Haben Sie schon einmal eine berufliche Situation erlebt, wo ein Vorgesetzter und ein unterstellter Mitarbeiter aus kaum nachvollziehbaren Gründen so extrem aneinander geraten sind, daß die Zusammenarbeit vollkommen unmöglich wurde und wo man dem Mitarbeiter schließlich kündigte? Versuchen Sie bitte in ihrer Arbeitsgruppe das Übertragungskonzept auf diese Interaktion anzulegen und einige Hypothesen zu bilden, warum diese Situation so eskalierte.
Übertragungen in professionellen Zusammenhängen und damit auch in der Supervision werden allerdings selten die Prägnanz erreichen wie in psychotherapeutischen Situationen. Immer, wenn Themen mit auch rationalen Gehalten, wie sie in der Supervision durch die beruflichen Aktivitäten des Supervisanden repräsentiert sind, den Kommunikationsprozeß dominieren, bleiben Übertragungen "blass". Die aktuelle Interaktion erhält dann im Vergleich zur Psychotherapie eine geringere subjektive Bedeutung für den Supervisanden. So erreicht sie auch selten die emotionale Dichte wie in psychotherapeutischen Zusammenhängen. Regressionen auf frühkindliche Stadien ergeben sich dadurch selten. Schon aus diesen Gründen wird sich in supervisorischen Situationen seltener Gelegenheit ergeben, das klassische Übertragungsmodell als Analyseraster zu verwenden.
(3) Als methodische Basis für die Supervision
Da Supervision als Beratungsform von Praxis auf die Auseinandersetzung mit dieser abzielt, kann es nicht Aufgabe von Supervision sein, Übertragungen innerhalb der Supervisionssituation zu intensivieren. Der dauerhaft "regressive Prozeß, in dem der Patient zu kindlichen Wahrnehmungs- und Erlebnismustern zurückkehrt", soll "in der Supervision streng vermieden werden" (KÖRNER 1984, S. 46). Als methodische Anregung für die Gestaltung supervisorischer Interaktionen kann das Übertragungsmodell also generell nicht dienen. Und wie anhand unserer Kritik in instrumenteller und ethischer Hinsicht deutlich wurde, lassen sich seine Prämissen zur Gestaltung von supervisorischen Beziehungen auch nicht für die Integrative Supervision übernehmen.
2. Modifikationen und Erweiterungen des klassischen Übertragungsmusters
Durch Fortentwicklungen der Psychoanalyse unterlag auch das klassische Übertragungskonzept Modifikationen und Erweiterungen. Diese lassen sich im wesentlichen nach drei Richtungen beschreiben:
- Die im klassischen Übertragungskonzept enthaltene behandlungsstrategische Bedeutung der "Übertragungsneurose" und damit die Bedeutung von Übertragungen überhaupt wurde von modernen Autoren umfassend relativiert.
- Von anderen wurde "Übertragung" rollentheoretisch interpretiert. Auf diese Weise läßt sich nun der Übertragungsbegriff umfassend erweitern und sogar auf das Lebensganze beziehen.
- Neben der klassischen Denkfigur als "Dreipersonen-Stück", wird "Übertragung" heute vielfach auch als Phänomen konzipiert, das sich nur zwischen Zwei Personen vollzieht. Auch auf diese Weise konnte das klassische Muster erweitert und z.T. auf das Lebensganze bezogen werden.
2.1. Die Relativierung des Übertragungsansatzes
(1) Konzept
Wie THOMÄ/KÄCHELE (1988) u.a. beschreiben, werden von modernen Autoren Übertragungsphänomene zunehmend relativiert. Sie gelten oftmals als erzeugt durch technische Eigenheiten auf Seiten des Analytikers, als abhängig von seiner Person, seiner konzeptionellen Orientierung usw. Viele Autoren vermuten, daß sich die ausgeprägtesten Übertragungserscheinungen bei den Patienten beobachten lassen, deren Therapeuten noch am klassischen Übertragungsmodell "kleben", bzw. die eine Übertragungsneurose herzustellen suchen. Bei modernen psychoanalytischen Autoren steht häufig nicht mehr die Übertragung bzw. die Herstellung einer Übertragungsneurose im Zentrum der Behandlung. Hier rückt vielmehr die aktuelle Begegnung als "Hier-und-jetzt-Beziehung" in den Vordergrund (ebenda, GREENSON 1967).
(2) Bewertung
Diese Position ist besonders unter anthropologischen Gesichtspunkten bedeutsam, weil Übertragungen nun weniger einseitig als innerpsychische Phänomene von Klienten, sondern deutlicher als beidseitig erzeugte, zirkuläre Phänomene interpretiert werden. Insofern finden wir hier eine Annäherung an die Paradigmatik soziologischer und sozialpsychologischer Interaktionsansätze, die interaktives Geschehen immer als beidseitig erzeugt betrachten. Und auf methodischer Ebene ist bedeutsam, daß der Therapeut weniger abstinent, d.h authentischer zu den Klienten in Beziehung tritt.
(3) Anwendung
Entsprechend dieser relativistischen Position muß sich jeder Praktiker, aber auch jeder Supervisor, der besondere Übertragungen seitens seiner Klienten oder Supervisanden erzeugt, fragen, inwieweit er durch seine technischen Maßnahmen oder konzeptionellen Vorstellungen zu diesen Übertragungen beigetragen hat.
Beispiel 4.: Anläßlich der Lehrsupervision einer älteren Psychologin fiel auf, daß die Supervisanden ihrer Supervisionsgruppe ausgeprägt um ihre Zuwendung rivalisierten. Ihr schienen diese Phänomene zunächst unerklärlich, weil sie sich mit jeder Art von Statements "sehr zurückgehalten" hatte. Bei einer eingehenden Analyse stellte sich aber heraus, daß genau dieses Verhalten von ihr zu dem rivalisierenden Verhalten der Gruppenmitglieder geführt hatte. Aus Mangel an Orientierung, wie sie die Fragestellungen der Supervisanden beurteilte, hatten sich diese übermäßig angestrengt, ihr zu gefallen, bzw. den jeweils anderen auszustechen.
2.2. Übertragung als Rollenphänomen
(1) Konzept
Insbesondere RICHTER (1969) deutete Übertragungen rollentheoretisch aus. Sie werden nun im Sinne soziologischer Rollentheorie als gegenseitige Zuschreibungsphänomene begriffen. Das gedankliche Grundmuster von RICHTER basiert auf der Prämisse, daß ein Mensch, entsprechend seinen bisherigen Beziehungserfahrungen, Erwartungshaltungen an einen anderen heranträgt und dann auch in deren Verständnis interagiert. Durch diese Ausdeutung gelingt es RICHTER, das Übertragungskonzept umfassend zu erweitern.
- Übertragung läßt sich nun deutlich als universelles zwischenmenschliches Phänomen interpretieren, das von jedem Interaktionspartner, ob ranghöher oder rangniedriger, ausgehen kann. Anders als klassische Autoren widmet sich RICHTER etwa ausführlich der Frage, welche Rollenerwartungen von den "ranghöheren", also den Eltern, Lehrer usw. an "rangniedrigere" Interaktionspartner, also an Kinder oder Jugendliche herangetragen werden. Er beschreibt besonders ausführlich, wie Eltern ihre Kinder als "Substitute" für die eigenen Eltern, Geschwister, ja sogar Partner verwenden.
Beispiel 5.: RICHTER beschreibt z.B. die Beziehung einer Mutter zu ihrer Tochter als hochgradig eingefärbt durch deren Beziehung zu ihrer Mutter. Da die Mutter ständig kränkelte, wird auch der Tochter unterstellt, daß sie kränkelig ist. Im Verlauf einiger weniger Jahre entwickelt die Tochter dieselbe Anspruchshaltung an die Mutter, die diese früher seitens ihrer Mutter erlebt hatte. Sie beantwortet diese Anspruchshaltung nun mit der gleichen Ambivalenz, die sich auch in ihrer Mutterbeziehung realisierte.
- Auf diese Weise wird der Übertragungsbegriff auch vom Entwicklungsmodell der Psychoanalyse abgekoppelt. Übertragungsrelevante Erfahrungsmuster erscheinen nun als Muster, die über das gesamte Leben hinweg gebildet werden können.
- Durch die rollentheoretische Interpretation gelingt es, Übertragungen als zirkuläre zwischenmenschliche Phänomene zu interpretieren. Ähnlich wie in dem sozialpsychologischen Ansatz von MEAD (1973) postuliert, beschreibt auch RICHTER, wie durch Übertragungen gegenseitige Verhal-tenseinsteuerung zwischen Interaktions-partnern vor sich geht.
(2) Bewertung
Diese rollentheoretische Interpretation von Übertragungen läßt sich als Analyseraster gut in die Integrative Supervision einfügen, denn er entspricht wesentlichen anthropologischen Prämissen des Meta-Modells. In ihm wird nämlich davon ausgegangen, daß Menschen im Verlauf ihres Lebensganzen als Kinder und als Erwachsene Erfahrungsmuster bilden, in deren Lichte sie andere Menschen wahrnehmen und auf deren Hintergrund sie dann mit diesen interagieren. Durch die rollentheoretische Sichtweise akzentuiert RICHTER den sozialisations-theoretischen Gehalt der Psychoanalyse, d.h. er bezieht sich nicht auf das Triebschicksal von Menschen.
(3) Anwendung
Dieses Deutungsmuster als grundlegende Erweiterung der klassisch analytischen Elternübertragung ist für supervisorische Zusammenhänge von großer Bedeutung. In vielen Fällen werden Klienten oder Kollegen z.B. mit Geschwistern "verwechselt". Dies bildet, wie etwa TOMAN (1961) beschreibt, oft eine selbstverständliche, konstruktive Basis für professionelle Interaktionen, es kann sich aber auch als problematisch erweisen.
Beispiel 6.: In einer Haftanstalt arbeiteten drei junge Frauen als Psychologinnen. Zwei waren Schwestern von Brüdern. Sie konnten die maskuline Lebenswelt ihrer Klienten spontan gut erfassen. Die dritte von ihnen war nur unter Schwestern aufgewachsen. Sie erlebte sich verhältnismäßig desorientiert und wurde von den Gefangenen laufend gehänselt, vielfach sogar unangemessen "angemacht". Schließlich kündigte sie sogar ihre Stelle. Von den "Brüderschwestern" hatte die eine als ältere Schwester von zwei Brüdern sehr konstruktive Beziehungen zu ihren Brüdern erlebt. Dementsprechend wirkte sie auch auf die Gefangenen warm und vertrauen-erweckend. Die andere dagegen war eine jüngere Schwester von Brüdern. Sie fühlte sich in einem sehr patriarchalischen Elternhaus den Brüdern gegenüber immer schlecht "weggekommen". Sie trug diese Erfahrung auch unbewußt in ihre professionellen Interaktionen hinein. Sie wirkte auf die Klienten gelegentlich zu kritizistisch und manche von diesen fochten mit ihr etliche Rangeleien aus.
Mit Hilfe dieses Ansatzes werden auch Projektionen erklärbar, die etwa ein Angestellter aus seinen Erfahrungszusammenhängen mit früheren Vorgesetzten auf einen neuen transportiert.
Supervision braucht sich in solchen Fällen auch nicht methodisch auf früheste Entwicklungsstadien zu begeben, sondern es kommt ihr eine weniger regressionsintensive Aufgabe der "Entwechslung" zu.
Beispiel 7.: So wurde z.B. die zuletzt genannte Psychologin aus der Haftanstalt durch Supervision unterstützt, zwischen den Klienten und ihren Brüdern, denen gegenüber sie sich immer benachteiligt gefühlt hatte, eine emotional fundierte Unterscheidung zu treffen.
2.3. Übertragung als dyadisches Phänomen
Eine besonders gravierende Erweiterung bzw. Ergänzung des klassischen Übertragungskonzeptes wurde in den letzten Jahrzehnten unter dem Begriff "narzißtische Übertragung" oder "narzißtische Projektion" beschrieben. Neben der Bedeutung von Übertragungen im soeben beschriebenen Sinne betonen Autoren wie KOHUT und RICHTER projektive Phänomene gegenüber anderen Menschen, die nur als dyadische Konstellation zu verstehen sind. In diesen Ansätzen wird postuliert, daß Menschen eigene abgespaltene Persönlichkeitsanteile auf andere verlagern.
2.3.1. Narzißtische Übertragungen bei KOHUT
(1) Konzept
Auf dem Hintergrund eines spezifischen Entwicklungsmodells spricht KOHUT (1971) von "narzißtischen Übertragungen". Im Gegensatz zu klassisch psychoanalytischen Entwicklungsmodellen postuliert KOHUT zwei parallele Entwicklungslinien. Die eine beschreibt er im Sinne FREUDs als Entwicklung aus objektlosen, narzißtischen Stufen bis hin zu beziehungsfähigen Stadien. Gleichlaufend dazu sieht er eine Entwicklung des "Selbst" vom archaischen zum reifen Narzißmus. Auf dem Hintergrund dieser Konzeption lassen sich nun alle Schweregrade narzißtischer Erscheinungen unterscheiden. So ist der Terminus "narzißtische Neurosen" bei KOHUT ganz anders als in der klassischen Literatur keineswegs nur für Psychoanalytiker oder Borderline-Patienten reserviert, sondern auch für Personen, die bei sonst guter personaler Integration einen gestörten Selbstanteil erkennen lassen. Nach klassisch psychoanalytischer Auffassung galt Narzißmus als Fixierung auf die orale Phase, also eine beziehungslose Stufe. Durch diese Fixierung und die damit einhergehende Beziehungslosigkeit galten narzißtische Patienten im allgemeinen nicht als analysierbar. KOHUT kommt es nun gerade darauf an zu zeigen, daß Narzißmus auch aus späteren Stadien resultieren kann und leichtere Grade narzißtischer Störungen analytisch gut bearbeitet sind.
Nach KOHUT manifestiert sich Narzißmus durch "narzißtische Übertragungen". Er unterscheidet diese in:
a. Übertragungen, die aus der therapeutischen Mobilisierung idealisierter Eltern-Imagines entstehen. Das sind idealisierende Übertragungen auf den Therapeuten. Das nicht-integrierte, archaische Ideal-Objekt wird im Analytiker wiedergefunden. Der Analytiker ist vom Patienten als Ideal-Person definiert. Dabei entspricht er entwicklungsgeschichtlich dem allmächtigen Objekt des Kindes, ohne dessen Gegenwart sich das Kind verloren fühlt.
b. KOHUT unterscheidet davon Übertragungen, die aus der therapeutischen Wiederbelebung des Größen-Selbst entstehen. Diese bezeichnet er als "Spiegelübertragungen". Er differenziert dabei wieder:
- der Analytiker wird als Erweiterung des Größen-Selbst phantasiert,
- der Analytiker wird als Abbild der eigenen Person und
- der Analytiker wird als getrennte Person erlebt, aus deren Augen sich der Patient selbst vergleichbar früheren Objekten oft sehr streng bewertet.
(2) Bewertung
Unter anthropologischen Gesichtspunkten stellt das Konzept von KOHUT gegenüber dem klassischen Übertragungsansatz insbesondere deshalb eine wichtige Fortentwicklung dar, weil er mit seinem Ansatz der "narzißtischen Übertragung" nicht mehr auf das Triebschicksal des Menschen Bezug nimmt, sondern eine sozialisationstheoretische Deutung vorsieht. Problematisch ist allerdings auch hier, daß die Prägbarkeit perspektivisch auf frühe Entwicklungsstadien bezogen bleibt. Aus diesem Grund ist auch dieser Ansatz nur begrenzt in unser Theorieuniversum integrierbar.
Unter instrumentellen Gesichtspunkten kommt dem Ansatz umfassende Bedeutung zu, weil er im Gegensatz zum klassischen Konzept einen ganz anderen Übertragungstyp zu diagnostizieren vermag, der auch für berufliche Zusammenhänge relevant sein kann. Durch seinen interpretativen Rückgriff auf frühkindliche Entwicklungsphasen ist die Verwendbarkeit für supervisorische Zusammenhänge allerdings auch wieder beschränkt.
(3) Anwendung
Diese Art von Übertragungen zeigt sich gelegentlich in professionellen Zusammenhängen seitens der Klienten, Supervisanden oder seitens des Supervisors. Besonders in sozialen Arbeitsfeldern muß in Betracht gezogen werden, daß entweder Supervisor, Supervisand und Klient oder beide Interaktionspartner ihre eigene narzißtische Bedürftigkeit ausleben.
In solchen Arbeitszusammenhängen ist, wie insbesondere SCHMIDBAUER (1977) deutlich machte, immer davon auszugehen, daß Professionelle hier eine institutionalisierte Möglichkeit vorfinden, ihren Narzißmus auszuleben, d.h. eigene Grandiositätsphantasien zu agieren. Was man selbst nicht bekommen hat, will man wenigstens anderen geben. In Rivalität zu allen realen Eltern der Welt kann sich z.B. ein Therapeut als überdimensioniertes Liebesobjekt gegenüber seinen Klienten "aufbauen".
Übungsaufgabe 6.: Haben Sie schon einmal einen Menschen erlebt, der sich ständig um andere "kümmert"? Versuchen Sie in Ihrer Lerngruppe einige Hypothesen zu bilden, warum sich dieser Mensch so verhält.
Ein deutlich narzißtischer Supervisor würde unbewußt idealisierende Übertragungen seitens der Supervisanden fördern. Andererseits kann die Idealisierung des Supervisors im Sinne einer Spiegelung auch ein Hinweis sein, daß der Supervisand bei seinen eigenen Klienten solche Phänomene unbewußt begünstigt, oder daß die Klienten aufgrund ihrer narzißtischen Störung solche Übertragungen auf ihn entwickeln.
In supervisorischen Zusammenhängen tauchen häufig auch "Spiegelübertragungen" im Verständnis KOHUTs auf. Spiegelungen des ersten und zweiten Typs wollen wir anhand der Konzeption von RICHTER exemplifizieren, weil sie durch seinen Ansatz einprägsamer zu erfassen sind. Die dritte Form, bei der sich der Klient aus den Augen des Therapeuten bewertet und z. T. sogar sehr streng bewertet, überlagert ebenfalls in vielen Fällen die Supervisionssituation. Wenn Supervisanden keine ihrer Aktivitäten von sich aus akzeptabel finden, immer auf die Bestätigung des Supervisors angewiesen bleiben und dieser bestätigende Effekt auch nur kurzfristig anhält, ist dies ein Hinweis auf diese Übertragungsform. Im Extremfall kann es sich als notwendig erweisen, daß der Supervisand zur Bewältigung seiner narzißtischen Problematik in eine längerfristige Psychotherapie eintritt.
In manchen anderen Fällen kann aber gerade stetige und geduldige supervisorische Arbeit, die angemessen realistisch mit Erfolgen und Mißerfolgen im professionellen Feld konfrontiert, in ihrem Selbstwertgefühl verunsicherte Menschen stabilisieren helfen.
Beispiel 8.: Bei der Supervision eines Theologen fiel auf, daß er zunächst keine seiner Aktivitäten selbst akzeptierte, daß er immer etwas an sich zu mäkeln hatte. Selbst wenn ich ihm sehr ausführlich begründete, warum diese oder jene Aktivität als Erfolg zu werten ist, vermochte er es selbst nicht so zu sehen. Erst im Verlauf eines längerfristigen Prozesses, während dessen er mich immer umfassender als ehrliche Dialogpartnerin zu nutzen lernte, konnte er manche seiner Aktionen von sich aus als erfolgreich berichten.
2.3.2. Narzißtische Projektionen bei RICHTER
(1) Konzept
RICHTER unterscheidet ähnlich KOHUT einen Übertragungstyp, den er von den bislang beschriebenen abgrenzt. Er bezeichnet diesen als "narzißtische Projektion". Anders aber als KOHUT bezieht er narzißtische Projektionen nicht ausschließlich auf frühkindliche Stadien, sondern auf das Lebensganze. "Narzißtische Projektionen" beschreibt er dann als generelle Verlagerungen von Selbstanteilen auf andere Menschen.
RICHTER unterscheidet hier drei Formen:
a. Verlagerung eines idealisierten Selbstanteils,
b. Verlagerung eines negativen Identitätsanteils und
c. Verwendung des anderen als eigenes Abbild.
Beispiel 9: RICHTER beschreibt in diesem Zusammenhang einen Vater, der als Polizist jeden Abend mit seinem Sohn kleine Verhöre anstellte. Während dieser konnte er den Sohn jeweils allerlei bagatellhafter "Untaten" überführen. Die Verhöre stei-gerten sich schließlich derart in ihrer Schärfe, daß der Sohn tatsächlich immer wieder einige Vorgänge dem Vater gegenüber verschwieg, um sodann von diesem als potentieller "Verbrecher" apostrophiert zu werden.
Übungsaufgabe 7.: Um welche von den drei RICHTERschen Kategorien handelt es sich hier? Was für einen Anteil projeziert der Vater in seinen Sohn? Diskutieren Sie das bitte in Ihrer Arbeitsgruppe.
(2) Bewertung
Die von RICHTER beschriebene "narzißtische Projektion" läßt sich als psychoanalytisches Interaktionsphänomen gut in unseren Ansatz integrieren.
Aus anthropologischer Sicht enthält der Ansatz keine Reduktion, da er im Vergleich zu anderen Übertragungsansätzen menschliche Entwicklung weder auf frühkindliche Stadien beschränkt, noch sie an die biologische Ausstattung des Menschen gekoppelt sieht. Wie das andere Analysemuster von RICHTER impliziert auch dieses sozialisations-theoretische Sichtweisen.
Unter pragmatischen Gesichtspunkten eignet sich der Ansatz hervorragend zur Erklärung interaktiver Besonderheiten in Praxis und supervisorischer Praxis. Er vermag in gut strukturierbarer Weise Phänomene zu erhellen, die mit dem herkömmlichen Übertragungsansatz nicht erklärbar waren.
Übungsaufgabe 8.: Haben Sie eine Idee, welche Selbstanteile Ihre Mutter und welche Ihr Vater auf Sie projezierten. Haben sich diese Projektionen für Sie als konstruktiv ausgewirkt oder gab es deshalb Anlaß zu Problemen? Schreiben Sie sich zu diesem Zusammenhang etwas auf und diskutieren Sie in Ihrer Lerngruppe, ob die väterlichen und mütterlichen Projektionen gleichlaufend oder unterschiedlich waren.
(3) Anwendung
Im Verlauf von Supervision sind wir letztlich mit allen diesen Möglichkeiten konfrontiert. In pädagogischen Arbeitsfeldern etwa begegnen uns nicht selten Erzieher oder Lehrer, die auf das eine oder andere Kind idealisierte Selbstanteile projezieren. Sie hindern das jeweilige Kind dadurch unter Umständen ganz unbewußt, auch einmal "ungezogen" zu sein, weil sie dann ihre Selbstideale bedroht sehen. Wie RICHTER sehr eindrucksvoll beschreibt, orientieren sich die Kinder im allgemeinen an dieser subtilen Rollendefinition.
Übungsaufgabe 8.: Können Sich sich noch erinnern, wie Ihre Lehrer mit Situationen umgingen, wo Primus oder Prima nicht die optimalen Leistungen erbrachten? Haben Sie selbst Erfahrungen als Lehrkraft? Wie gehen Sie damit um, wenn Ihr "Star" mal versagt oder passiert das gar nicht? Diskutieren Sie solche Phänomene bitte in Ihrer Lerngruppe.
Häufig begegnen uns auch Verlagerungen negativer Anteile. Der Suchtkrankentherapeut, der seine eigene Suchtbereitschaft bei sich negativiert, attackiert sie dann in Person der Patienten. Dies führt nicht selten zu offenen oder verdeckten Sadismen (ROST 1987).
Beispiel 10.: In diesem Zusammenhang wird immer wieder berichtet, daß Ex-Huser, also ehemalige Drogenabhängige oder ehemalige Alkoholiker, als Suchtkrankentherapeuten besonders hart oder streng mit Rückfalltendenzen von Klienten umgehen. In einer stationären Einrichtung, die mit besonders vielen Ex-Husern arbeitete, wurden diese regelmäßig empfindlichen Bloßstellungen ausgesetzt, die bis in den Bereich der psychischen Folter reichten.
Auch die Supervisionssituation kann von solchen Phänomenen überlagert sein. Bei Supervisanden, die uns besonders liebenswürdig, besonders qualifiziert usw. erscheinen, sind wir oft in Gefahr, sie als Abbild von uns selbst zu begreifen. Wenn solche Supervisanden dann plötzlich ganz offensichtliche Schwächen aufweisen, sind wir geneigt, diese zu leugnen oder "zutiefst" enttäuscht zu sein. Und an manchen Supervisanden begegnen uns Seiten, die wir selbst nur mühsam oder gar nicht an uns akzeptieren. Solche Begegnung zieht dann etwa besondere Strenge oder Ungeduld im Umgang nach sich.
3. Der klassische Gegenübertragungsansatz
Im Anschluß an die Darstellung und die Kri-tik des klassischen Grundmusters werde ich seine Anwendung in der Supervision be-schreiben.
3.1. Das theoretische Grundmuster
In diesem Zusammenhang sind wieder Auseinandersetzungen mit dem Konzept als Analysemuster und als methodische Basis relevant.
(1) Als Analysemuster
In der klassischen Psychoanalyse wird "Übertragung" immer als Patientenmerkmal beschrieben. Demgegenüber wird "Gegen-übertragung" im allgemeinen als Merkmal des Therapeuten definiert (BECKMANN 1978).
Schon FREUD verstand "Gegenübertragung" als unbewußte Reaktion des Analytikers auf die Übertragung des Patienten. Auf dem Hintergrund eigener unverarbeiteter Konflikte aus frühkindlichen Stadien, die der Analytiker dann abwehren müsse, sei er bereit, die ihm qua Übertragung zugewiesene Definition als bestrafender Vater, überfürsorgliche Mutter usw., anzunehmen, zu bekämpfen oder in anderer Weise auszuagieren. Seine eigenen Entwicklungsdefizite verstellten ihm den Blick, die vom Klienten angebotene Beziehung als Verzerrung zu erkennen und auf sie angemessen zu reagieren. FREUD (1912) postulierte dementsprechend, der Analytiker müsse seine Gegenübertragungsbereitschaften überwinden. Da es sich dabei um eigene unverarbeitete Konflikte handle, solle er sie qua Eigentherapie, also durch "Lehranalysen", beseitigen. FREUD betrachtete Gegenübertragungen somit ausschließlich als Störfaktoren.
Im Sinne des "hochgestellten Analytikerideals" (PETERS 1977, S. 55), niemals Gegenübertragungen zu entwickeln, standen die Pioniere der Psychoanalyse diesem Phänomen eher vermeidend gegenüber. So wurden wohl aus Gründen narzißtischer Kränkbarkeit (ebenda) auch selten diesbezügliche Fallbeschreibungen geliefert. Nur negative Übertragungen, wenn also der Analytiker durch Übertragungen induzierte Gefühle von Unwillen oder Unbehagen dem Klienten gegenüber spürt, wurden gelegentlich als Störfaktoren analytischer Arbeit verhandelt (THOMA/KÄCHELE 1988).
Beispiel 11.: Ein erfolgreicher Manager trat wegen Potenzstörungen in die Psychotherapie bei einem männlichen Therapeuten ein. Nachdem er die ersten Stunden mit eher verdeckten Klagen über seine Symptomatik verbracht hatte und der Therapeut vorrangig freundlich akzeptierend zuhörte, begann der
Manager, den Therapeuten als "ineffizientes Weichei" zu beschimpfen. Der Therapeut hörte zunächst wieder nur freundlich akzeptierend zu, worauf sich die Angriffe des Klienten verschärften. In der fünften derartigen Stunde lief der Therapeut hochrot an und begann, den Manager nun seinerseits zu beschimpfen. Er sei ein menschlich völlig indiskutabler Macher, unfähig, die Andersartigkeit von Menschen zu respektieren usw. Die aktuellen Angriffe des Klienten hatten nämlich eine Entsprechung in Angriffen, die der Therapeut jahrelang von seinem Vater erfahren hatte. Als jüngster Sohn und Lieblingskind seiner Mutter war er von dieser "abgerichtet", als Alternative zum "aggressiven" Mann/Vater zu fungieren. Der Manager hörte nun dem Therapeuten zum ersten Mal aufmerksam zu. Die nächste Stunde eröffnete er mit dem Hinweis, daß er jetzt doch ein wenig Respekt vor dem Therapeuten habe. Dieser aber erlebte sein "aggressives Mitagieren" nur als Kränkung und die Respektsbekundung des Klienten nur als Auskosten eines Sieges über ihn. Nachdem er dem Klienten diese Deutung so mitteilte, sah nun der Manager keine Basis mehr für eine weitere Zusammenarbeit und beendete von sich aus die Therapie bei diesem Therapeuten.
(2) Als methodische Basis
Gegenübertragungen wurden also immer als die Behandlung behindernde Phänomene betrachtet. Deshalb sollte ein Interaktionsstil praktiziert werden, der sie vermeiden hilft. Das führte auf methodischer Ebene zu einer immer umfassenderen Reduktion von Authenzität bei Analytikern. Mit dem nun kreierten Interaktionsstil sollte dann Gegenübertragungen umfassend vorgebeugt werden. Die "abstinente" Haltung des Analytikers, die in maximaler Zurückhaltung in Gestik und Mimik besteht sowie in der Zurückhaltung im Hinblick auf verbale Äußerungen über die eigene Person, erhielt nun eine zweifache Bedeutung:
- sie sollte Neutralität des Analytikers garantieren, um als Projektionsschirm für Übertragungen des Klienten zu dienen.
- Und sie sollte eine "Ruhigstellung" des Analytikers gewährleisten, um dem Aus-agieren von Gegenübertragungsbereitschaf-ten vorzubeugen.
3.2. Kritik des theoretischen Grundmusters
(1) Als Analysemuster
Das Gegenübertragungskonzept wirkt als Gegenstück zum Übertragungsansatz zunächst ausgesprochen sinnfällig. Erfahrungsmuster des einen Partners finden in Erfahrungsmustern des anderen ihre Entsprechung, so daß sich eine komplementäre Interaktionsstruktur ergibt.
Was ich als Problem des Übertragungskonzepts umrissen habe, gilt aber auch hier. Durch ausschließlichen Bezug auf frühkindliche Stadien begegnet uns nicht nur eine anthropologische Reduktion, sondern die Anwendungsmöglichkeiten des Konzeptes schränken sich dadurch erheblich ein.
Übungsaufgabe 9.: Wenn Sie noch einmal das Beispiel 11. durchlesen, können Sie vielleicht schon an der Darstellung etwas Kritisches anmerken. Wie läßt sich die freundlich akzeptierende Haltung des Therapeuten und sein "Ausrasten" noch anders als mit seiner frühen Erfahrung zwischen Vater und Mutter begründen? Diskutieren Sie diese Frage bitte in Ihrer Lerngruppe.
(2) Als methodische Grundlage
Die klassische Sicht von Gegenübertragungen läßt sich aus methodischer Perspektive als äußerst problematisch bezeichnen. In einem instrumentellen Verständnis führt die abstinente Haltung nicht nur auf Seiten des Klienten, sondern auch auf Seiten des Analytikers zu personaler Reduktion. Sie erweist sich auf Dauer oft als dysfunktional für den gemeinsamen Dialog. Und unter ethischen Gesichtspunkten impliziert eine dezidiert abstinente Haltung kein Subjekt-Subjekt-Verständnis menschlicher Beziehungen, so daß der Ansatz methodisch keinesfalls in unseren Supervisionsansatz integrierbar ist.
3.3. Die Anwendung des theoretischen Grundmusters in der Supervision
Als analytisches Muster läßt sich das Konzept vereinzelt auch in der Supervision anwenden. Wenn notorische und eventuell auch zerstörerische Reaktionstendenzen bei Supervisanden deutlich werden, kann es sich durchaus um Gegenübertragungen handeln. So ist es gar nicht selten, daß Kinder oder Jugendliche in Kinderheimen oder -kliniken aus einer negativen Elternübertragung heraus die Erzieher solange attackieren, bis diese im Sinne einer Gegenübertragung nur noch wild um sich schlagen.
In solchen Fällen ist es vorrangige Aufgabe von Supervision, das Unpersönliche in den Aktionen der Kinder herauszuarbeiten und die Supervisanden zu unterstützen, daß sie ihre eigenen Gegenübertragungsbereitschaften genauer kennenlernen und dann besser als bisher kontrollieren.
4. Modifikationen von Erweiterungen des klassischen Gegenübertragungsmusters
Jüngere Analytikergenerationen setzen sich mit der klassischen Gegenübertragungsposition kritisch auseinander. Sie modifizierten und differenzierten den Ansatz weiter. Bei Neukonzeptionalisierungen spielt besonders HEIMANN (1950) eine zentrale Rolle. Diese Autorin hatte aufmerksam gemacht, daß die Gegenübertragung des Analytikers eine unbedingte Voraussetzung in der psychoanalytischen Arbeit darstellt. Nur über die eigene Gegenübertragung könne der Analytiker die inneren Prozesse der Klienten und damit auch deren Übertragungen erfassen. Unter dem Begriff "ganzheitliche Gegenübertragung" entwickelten sich dann seit 1950 neue Perspektiven von Gegenübertragung.
Von diesen möchte ich hier zwei darstellen. Dabei knüpft die eine von BECKMANN noch an die klassische Tradition an, während die andere von KERNBERG den Übertragungsbegriff umfassend erweitert.
4.1. Gegenübertragung bei BECKMANN
(1) Konzept
BECKMANN (1978) deutet die Überlegungen von HEIMANN (1950) rollentheoretisch aus. Der Klient entwickelt auf dem Hintergrund seiner historischen Erfahrungen eine Rollendefinition vom Analytiker, die dieser dann innerlich als Rollenangebot bzw. als Gegenübertragung erlebt. Übertragungen des Patienten lassen sich vom Analytiker also überhaupt nur dann erfassen, wenn er diese Rollenzuweisung bzw. Gegenübertragung wahrzunehmen bereit ist und dann bewußt analysierend auf den Patienten zurückbezieht.
Aus dieser Perspektive sind Gegenübertragungen "normale Reaktionen auf Übertragungen und damit Bestandteil des Verstehens und Erklärens" (ebenda, S. 1243). So kommt aus der Sicht von BECKMANN der Gegenübertragung eine vorrangige Bedeutung zum Erfassen von Übertragungsphänomenen zu. Er differenziert das Phänomen "Gegenüber-tragung" nun weiter aus. Aus Befragungen von Psychoanalytikern ermittelt er drei Faktorengruppen von Gegenübertragung:
a. Sie besteht zunächst in einfühlendem Verstehen. Ohne diesen Aspekt von Gegenübertragung kann der Analytiker Übertragungen des Klienten gar nicht erfassen. Er muß zumindest partiell die ihm zugeschriebene Rollenerwartung des Klienten gefühlsmäßig aufnehmen, um sie rückbezüglich analysieren zu können.
Beispiel 12.: Eine Klientin eröffnete zu Beginn unserer gemeinsamen Arbeit jede Therapiestunde mit einer Gestik und Mimik, die ängstliche Abweisung signalisierten. Ich ließ diesen Eindruck auf mich wirken und bemerkte in mir eine "Gefühlsmischung" von "Genervtsein", "Geben-Wollen", "Ohnmacht" und "Wut." Damit gab mir die Klientin Hinweise, daß sie solche Gefühle von unmittelbaren Bezugspersonen gewohnt war. Da sich diese Gefühle bei mir als weiblichem Gegenüber einstellten, bildete ich die Hypothese, daß sie mit ihrer Haltung und der in mir erzeugten Gegenübertragungsbereitschaften ihre Mutter-Beziehung reinszenierte. Im weiteren Verlauf unserer Arbeit stellte sich tatsächlich auch heraus, daß die Beziehung zu ihrer Mutter hochgradig ambivalent war und sie bei ihrer Mutter als "Bestrafung" ähnliche Gefühle erzeugt hatte.
b. Gegenübertragung besteht aber auch in einfachen emotionalen Reaktionen auf den Patienten. Das sind gefühlsmäßige Anteile des Analytikers, die der Klient als Mensch in ihm wie selbstverständlich aktiviert.
Beispiel 13.: Die im Beispiel 12. beschriebenen Gefühle agierte ich allerdings nicht aus. Die Beziehungsgeschichte der Patientin zu ihrer Mutter erzeugte in mir vielmehr herzliches Mitgefühl, daß Nähe und Wärme zwischen Mutter und Tochter hier so chronisch "verbaut" waren. Dieses herzliche Mitgefühl trug die gemeinsame Arbeit, so daß es der Klientin zunehmend gelang, zu mir Vertrauen zu fassen, während ihre ursprüngliche Übertragungshaltung unseren Dialog sehr erschwerte.
c. Den dritten und problematischsten Teil von Gegenübertragungen bildet die "Rest-neurose" des Analytikers nach abgeschlossener analytischer Ausbildung. In diesen Zusammenhang gehören gewohnheitsmäßige, persönlichkeitsspezifische Gefühlsreaktionen des Analytikers auf bestimmte Klienten, Klientengruppen usw. Sie werden von ihm selbst nicht wahrgenommen und sind im Prinzip "als normale menschliche Reaktionen zu begreifen" (ebenda, S. 1243). Sie wirken sich bei professionellen Handlungsprozessen aber oft sehr störend aus.
Übungsaufgabe 10: Stellen Sie sich vor, die Therapeutin in Beispiel 12. und 13. hätte als Tochter eine ähnlich trotzige Haltung gegenüber ihrer Mutter eingenommen und die Relation zu ihrer eigenen Mutter noch nicht ausreichend verarbeitet. Wie hätte sie dann agiert? Versuchen Sie bitte in Ihrer Lerngruppe darüber zu diskutieren.
(2) Bewertung
Aus instrumenteller Perspektive ist das Erklärungsmuster von BECKMANN ausgesprochen sinnfällig. Und aus anthropologischer Sicht wird es der Interaktion zwischen Menschen sicher umfassender gerecht als die klassische Position. Durch die rollentheoretische Ausdeutung ist der Mensch hier auch nicht auf sein frühkindliches Triebschicksal reduziert, was den Ansatz für uns gut integrierbar macht.
Übungsaufgabe 11.: Stellen Sie sich bitte vor, daß die Therapeutin in Beispiel 12. und 13. gerade selbst eine Tochter im Teenageralter hat, die etwas trotzig um Autonomie von ihrer Mutter kämpft. Wie hätte die Therapeutin dann mit der Klientin agiert? Diskutieren Sie auch das bitte in Ihrer Lerngruppe.
Die methodischen Implikationen lassen sich ebenfalls in einem pragmatischen und instrumentellen Verständnis akzeptieren, weil es hier nicht mehr auf maximale Abstinenz als Ideal ankommen kann, sondern auch authentische Beziehungsanteile als relevant gelten.
(3) Anwendung
Die von BECKMANN ermittelten Faktoren sind auch für die Supervision relevant. Hier sind nämlich Übertragungen eines Supervisanden ebenfalls nur zu erfassen, wenn der Supervisor seine innere Reaktionsbereitschaft dem Supervisanden gegenüber möglichst umfassend zuläßt und strukturiert. Und auch Supervision wäre ohne gefühlsmäßige Anteilnahme des Supervisors nicht denkbar. Positive Anteilnahme am Supervisanden als Mensch und Fachperson ist eine unabdingbare Voraussetzung jeder supervisorischen Arbeit.
Ausführlicher Problematisierung bedürfen aber "restneurotische" Anteile von Supervisoren. Permanente Rivalitätsbereitschaft von Supervisoren gegenüber ihren Supervisanden würden solche repräsentieren. Oft aktivieren sich auch durch eigene unverarbeitete Erfahrungen des Supervisors bei ihm unangemessen starke Gegenübertragungen. Dies entsteht immer dann, wenn der Supervisand vergleichbare Konstellationen artikuliert.
Beispiel 14.: In der Lehrsupervision einer angehenden Supervisorin zeigte sich folgendes Problem: Eine ungefähr 40-jährige Sozialarbeiterin, die bislang in zwei Sozialämtern als Vorgesetzte tätig war, supervidierte die Frauenbeauftragte einer Kommune. Die Frauenbeauftragte berichtete immer wieder von Vorfällen, bei denen männliche und weibliche Administratoren ihre Einflußnahme verhindern wollten und charakterisierte sie dementsprechend vorrangig als "Bremser". Die Supervisorin spürte zunächst verdeckt, sodann immer deutlicher, Unmut über die "platten" Zuschreibungen der Frauenbeauftragten. In der Lehrsupervision ließ sich erarbeiten, daß die Supervisorin ihre Rolle als Vorgesetzte im Sozialamt nur sehr langsam akzeptiert hatte und sich nun durch die negativen Rollenzuschreibungen an Menschen in vergleichbaren Positionen zunehmend verletzt sah. In der Lehrsupervision wurde jetzt eine eingehende Rollenberatung der Supervisorin im Hinblick auf ihre Rolle als Vorgesetzte in einem administrativen Rahmen notwendig.
4.2. Gegenübertragung bei KERNBERG
(1) Konzept
Die breiteste und variabelste Position zu Gegenübertragungen nimmt derzeit KERNBERG (1975) ein. Auch er begreift Übertragung und Gegenübertragung im Prinzip als interaktives Rollenphänomen, das von beiden Partnern wechselweise, also im Sinne von Übertragung und Gegenübertragung ausgehen kann. Weitergehend als BECKMANN sieht er die Phänomene darüber hinaus durch Besonderheiten des sozialen Systems determiniert, in das jeder einzelne Interaktionspartner eingebettet ist. Und er bezieht sogar sachlich begründete, also nicht-pathologische Gefühlsreaktionen der Interaktionspartner in seine Begrifflichkeit ein.
Er deutet dann "Gegenübertragung" als die Gesamtheit aller emotionalen Reaktionen des Analytikers auf den Patienten in der Behandlungssituation. Diese emotionalen Reaktionen umfassen bewußte und unbewußte Reaktionen des Analytikers auf den Patienten. Sie beinhalten seine Übertragungen ebenso, wie seine realitätsrelevanten Bedürfnisse und seine eigenen neurotischen Strebungen.
Übungsaufgabe 12.: Versuchen Sie bitte Ihre Beziehung zu einem/einer KollegIn zu untersuchen, indem Sie die Gesamtheit ihrer emotionalen Reaktionen nach Gesichtspunkten von Übertragung und Gegenübertragung auf beiden Seiten differenzieren. Stellen Sie bitte Ihre jeweiligen Beziehungsanalysen in Ihrer Arbeitsgruppe vor.
KERNBERG postuliert im Anschluß an WINNICOTT (1949) "objektive Gegenübertragungen". Das sind die "natürlichen" Reaktionen des Analytikers auf extreme Verhaltensweisen von Patienten.
Beispiel 15.: Eine Klientin berichtete mir erst nach ca. 30 Sitzungen, daß sie sich immer wieder mit Rasierklingen Schnitte an den Pulsadern beibringt, um ihr Blut fließen zu sehen. Sie zeigte mir daraufhin ihren Arm mit vielfältigen Vernarbungen. Ich war in diesem Moment so erschreckt, daß ich sie traurig und kopfschüttelnd ansah. Ihr Gesicht hellte sich nun auf, weil sie merkte, daß ich mich ernstlich von ihr berühren ließ.
Und im Anschluß an Frieda FROMM-REICHMANN (1950) bezieht KERNBERG in seine Konzeption auch institutionalisierte Phänomene mit ein. Der Therapeut werde durch die professionellen Standards, seinen Status, seine Gruppenzugehörigkeit usw. in seinem professionellen Handeln mitbestimmt. Diese "indirekten" Gegenübertragungsbereitschaften prägten die emotionalen Reaktionen des Therapeuten gegenüber dem Klienten mit.
Übungsaufgabe 13.: Untersuchen Sie bitte die Arbeitsbeziehung, die Sie schon bei der Übungsaufgabe 12. herangezogen haben, weiter. Ermitteln Sie bitte durch welche Ihrer Statusmerkmale und die Ihres Gegenübers die Beziehung, d.h. die Übertragungen/Gegenübertragungen eingefärbt sind. Diskutieren Sie diese Phänomene in Ihrer Arbeitsgruppe.
KERNBERG umreißt also einen Gegenübertragungsansatz, der zwar im Gegensatz zur klassischen Definition an Prägnanz einbüßt, der aber dem interaktiven Geschehen von Psychotherapie, bzw. jeder professionellen Praxis umfassend gerecht wird. Das Fazit von KERNBERG ist dementsprechend, daß die Gegenübertragung in ihrer Gesamtheit immer das wichtigste diagnostische Instrument des Therapeuten darstellt. Das setzt allerdings voraus, daß er seine Gegenübertragungstendenzen möglichst differenziert wahrnehmen und strukturieren kann. Nur auf diese Weise ermöglichen sie ihm sinnvolle Interventionen.
(2) Bewertung
Von allen bisher beschriebenen Positionen ist die von KERNBERG am deutlichsten in unseren Ansatz integrierbar.
Als Analysemuster bezieht er in Korrespondenz zu unserem Meta-Modell die Vergangenheit und Gegenwart beider Interaktionspartner mit ein, ihre vergangenen und gegenwärtigen Erfahrungen sowie ihre institutionalisierten Rollen. Sie fließen dann als bewußte und unbewußte Muster in die aktuelle Interaktion.
Anders als andere psychoanalytische Autoren bezieht sich KERNBERG bei Darstellung seines Gegenübertragungsansatzes auch nicht so entschieden auf das frühkindliche Triebschicksal der Interaktionspartner, so daß auch diese Seite der anthropologischen Implikationen unproblematisch ist.
Der Ansatz von KERNBERG ist aber auch als methodische Basis für die Supervision relevant. Wie im Kurs "Einführung in die Integrative Supervision" beschrieben, sollte sich jeder professionelle Aktor als sein wichtigstes diagnostisches Instrument definieren. Alle seine inneren Reaktionen auf die Person des Supervisanden und seine Praxis bilden im Zusammenhang mit seinen aktuellen Wahrnehmungen vom Supervisanden, bzw. dessen sprachlichen und nicht-sprachlichen Darstellungen die Basis für das professionelle Erkennen und Intervenieren. Im Sinne KERNBERGs kann der Supervisor ganz besonders über seine innere Gegenübertragungsbereitschaft das Erleben des Supervisanden in seinen Praxissituationen erfassen. Und ganz besonders diese Gegenübertragung ermöglicht es ihm, das alter ego des Supervisanden, d.h. den Klienten und die gesamte Praxisszene mitzuvollziehen.
Und wie jeder professionelle Akteur, gleich welchen Arbeitsfeldes, muß auch der Supervisor alle seine Gegenübertragungsbereitschaften sowie die des Supervisanden zumindest in wesentlichen und auffälligen Aspekten möglichst umfassend mitreflektieren.
(3) Anwendung
Die von KERNBERG beschriebene Vielfalt an Übertragungs-/ Gegenübertragungsphänomenen begegnet uns auch in supervisorischen Situationen.
Auch hier lassen sich alle diese Arten von Übertragungen und Gegenübertragungen bei allen direkt oder indirekt beteiligten Interaktionspartnern beobachten. Sie sind dann jeweils an das umgebende System und die aktuelle professionelle Situation angekoppelt. Wir erleben auch hier "objektive" Gegenübertragungen, die schon aus einem ethischen Verständnis unvermeidbar sind.
Beispiel 16.: Die Teamsupervisorin eines Kinderheimes spürte zunächst nur diffus, daß von den Mitarbeitern irgendein wichtiges Phänomen verschwiegen wurde. Erst anläßlich eines Einzelgesprächs mit einer Mitarbeiterin, die von den anderen kollektiv kritisch beurteilt wurde, äußerte diese ein Gerücht, das seit einiger Zeit im Heim kursierte. Hierbei handelte es sich um einen Mißbrauchsvorwurf gegenüber dem Erziehungsleiter. Die Supervisorin reagierte entsetzt und meinte, daß man diesem Gerücht unbedingt nachgehen solle. Sie brachte dann im weiteren Verlauf einen Prozeß in Gang, bei dem das "Gerücht" nun zunehmend offen verhandelt werden konnte. Unter Einbezug des Heimleiters fanden eingehende Befragungen statt, auf die der Erziehungsleiter immer abwiegelnd reagierte, bis eine Gruppe von größeren Kindern einen entsprechenden Vorfall sehr klar und eindeutig darstellte. Der Erziehungsleiter wurde nun sofort dispensiert. Eine nachfolgende juristische Untersuchung erbrachte keine eindeutigen Hinweise. Für dieses Heim schien der Erziehungsleiter aber nicht mehr tragbar.
5. Übertragung und Gegenübertragung in und gegenüber Gruppen
Durch Fortentwicklungen psychoanalytischer Therapie zu Gruppenverfahren wurde das Übertragungs-/Gegenübertragungsmodell nun auch auf Gruppen bezogen.
Im Anschluß an die Darstellung der Muster und ihre Anwendungsmöglichkeiten in der Supervision werde ich sie in einer Zusammenfassung kritisch umreißen. Der Kürze halber beschränke ich mich allerdings an dieser Stelle auf eine Auseinandersetzung mit den Analysemustern der jeweiligen Ansätze, d.h., ich verzichte auf eine ausführliche Beschäftigung, inwiefern sie als Gestaltungsgrundlage für die Supervision relevant sein könnten.
5.1. Die Grundmuster und ihre Anwendung
Wir finden hier verschiedene Grundmuster, von denen ich vier basale darstellen möchte:
- multiple Übertragungen in Gruppen,
- Übertragungen als gruppales Interaktionsmuster,
- Übertragung als systemisches Phänomen und
- multimodale Übertragungen.
5.1.1. Multiple Übertragungen
(1) Konzept
Gruppentherapeutische Ansätze, die historisch noch an einer (Einzel-) "Psychoana-lyse in der Gruppe" orientiert waren, be-tonen sogenannte multiple Übertragungen. Das sind Übertragungen der Gruppenmitglieder untereinander (z.B. WOLF/SCHWARTZ 1962). Nach Ansicht dieser Autoren liegt gerade in der Übertragungsvielfalt innerhalb einer Gruppe der besondere Vorteil von Gruppentherapie. Dann seien allerdings Übertragungen auf die Therapeuten weniger intensiv und prägnant, dadurch wären sie auch schwerer zu handhaben.
(2) Anwendung
Diese "multiplen Übertragungen" sind als Strukturierungsmuster für Supervision relevant, wenn es darum geht, Gruppenarbeit zu supervidieren. Sie erhalten aber auch eine Bedeutung in der Gruppensupervision. Die inhaltliche Arbeit kann durch gegenseitige Übertragungen der Supervisanden aufeinander behindert werden, sie kann sich dadurch auch anreichern. So ergibt es sich gelegentlich bei der Fallarbeit, daß im Verlauf gruppaler Dialoge Gruppenteilnehmer deutliche Übertragungsmuster auf den Protagonisten entfalten. Solche können dann manchmal Hinweise auf die emotionalen Hintergründe der Supervisand-Klient-Beziehung sein. Wesentlich ist dann allerdings, daß Supervisoren diese gruppalen Übertragungen erkennen und über sie angemessen metakommunizieren.
Beispiel 17.: In der Gruppensupervision stellte ein junger Psychiater folgendes Problem vor: Eine Patientin, die vor einigen Tagen eingeliefert wurde, erzählte laufend, sie habe ihr Kind umgebracht. Man hatte den Tod des Kindes als "plötzlichen Kindstod" diagnostiziert, sie selbst aber erzählte, daß sie das Kind umgebracht habe. In der Supervisionsgruppe, die drei männliche und fünf weibliche TeilnehmerInnen umfaßte, stellte sich nun besonders bei den Frauen Empörung ein. "Du berichtest das Ganze wie Spinnerei, eben wie ein richtiger Psychiater seine Patienten stigmatisiert. Überhaupt hast Du eine richtig doofe Arzt-rolle drauf, wenn Du so erzählst." Es handelte sich bei den beiden Frauen um junge Mütter, die vor nicht allzu langer Zeit selbst Kinder geboren hatten. Nun begannen zwei männliche Sozialarbeiter, den Arzt zu verteidigen, daß er doch die Sache ganz neutral dargestellt habe. Jetzt entwickelte sich eine Frontstellung zwischen den Männern und den Frauen. Angesichts dieser gruppalen Entwicklung fragte ich nun als Supervisorin: "Welche Beziehung hat denn die Patientin zu ihrem Partner?" Nun begann der Arzt zu erzählen, daß sie kurz nach der Geburt von diesem verlassen wurde und er sich auch nach dem Tod des Kindes nicht hatte blicken lassen. Aus dem gruppalen Prozeß der SupervisandInnen ließ sich nun die Hypothese bilden, daß die Patientin den Tod ihres Kindes nicht verarbeiten konnte und sich dann alle Ereignisse schuldhaft zuschrieb. So phantasierte sie sogar die Tötung ihres eigenen Kindes. Die Gruppe hatte mit ihrer Dynamik aufgedeckt, daß der Psychiater den Verlust des männlichen Partners als gravierenden Verursachungsfaktor der Psychose nicht erfaßt hatte.
5.1.2. Übertragungen als gruppale Interaktionsmuster
(1) Konzept
FOULKES (1978) umreißt eine komplexere Konzeption von innergruppalen Übertragungen. Er beschreibt auf dem Hintergrund des Ansatzes von LEWIN, daß sich in einer Gruppe im Verlauf ihrer Entwicklung eine höchst differenzierte Interaktionsstruktur entfaltet, die im Sinne von Übertragungen, aber auch im Sinne aktueller Interaktionsmuster gedeutet werden müßte. Aus diesen unbewußten gruppalen Interaktionssystemen ergäben sich kollektive Themen.
(2) Anwendung
Auch diese Sichtweise von FOULKES ist für die Gruppensupervision von Bedeutung, wie etwa CONRAD/PÜHL (1983) zeigen. Mit Hilfe dieses Ansatzes läßt sich die Präferenz einer Gruppe für bestimmte Themen als kollektives Phänomen begreifen. Jetzt wird die Thematik eines Supervisanden nicht mehr als ausschließlich von ihm allein initiiert betrachtet, sondern als Teil eines Gruppenprozesses.
5.1.3. Übertragung als systemisches Phänomen
(1) Konzept
Rigoros systemisch interpretiert BION (1961) Übertragungsphänomene in Gruppen. Im Anschluß an Melanie KLEIN, die die Dominanz ödipaler Konzepte in der Psychoanalyse angriff, versteht er kollektive Übertragungen einer Gruppe als vorödipale Phänomene. Seiner Meinung nach realisieren sich in einer Gruppe Urängste. Die Gruppe werde von den Teilnehmern unbewußt als "Mutterleib" begriffen. Übertragungen auf die Gruppe lösten wie der Mutterleib Sehnsucht nach Bedürfnisbefriedigung und Angst gleichermaßen aus. Zur Bewältigung dieser Übertragungs-Angst würden kollektive Widerstandsphänomene aktiviert.
(2) Anwendung
Da in der Supervision von Gruppen durch das inhaltliche Medium "Arbeit" niemals solche ausgeprägten Regressionsphänomene auftreten und auch evoziert werden sollten, wird die spezifische Qualität der von BION postu-
lierten kollektiven Übertragungsphänomene kaum beobachtbar sein. Es lassen sich aber durchaus kollektive Übertragungsphänomene beobachten, die dann eher als "kollektive Themen" auf einem oberflächlicheren Regressionsniveau in Erscheinung treten.
Beispiel 18.: In einer Supervisionsgruppe von Stationsleitungen einer Klinik fiel auf, daß sie immer wieder Themen im Zusammenhang mit Kränkungen aufwarfen, sich untereinander verdeckt abwerteten und schließlich auch der Supervisorin Abwertung ihrer Berufstätigkeit unterstellten. Auf diese zunächst nur diffus und punktuell erscheinenden Phänomene angesprochen, berichteten sie nun, daß sie sich an ihrem Arbeitsplatz tatsächlich laufend benachteiligt fühlten. Sie unterstanden einer Pfle-gedienstleitung, die sich nur wenig für ihre Belange einzusetzen vermochte.
5.1.4. Multimodale gruppale Übertragungen
(1) Konzept
Moderne psychoanalytische Autoren (vgl. ARGELANDER 1972) beschreiben im Sinne eines integrativen Verständnisses Übertragungen in Gruppen auf drei Ebenen:
- Jedes einzelne Gruppenmitglied trägt seine individuell-historischen Übertragungsbereitschaften an den Gruppentherapeuten heran.
- In jeder Gruppe entwickelt sich ein System multipler Übertragungen.
- Darüber hinaus aktiviert die Gruppe auch kollektive Übertragungen im Sinne von BION.
Solche multimodalen Positionen begegnen uns auch in anderen psychotherapeutischen Ansätzen, wie etwa der "Integrativen Therapie (PETZOLD/SCHNEEWIND 1986).
(2) Anwendung
Mit dieser Sichtweise ist für die Auseinandersetzung mit Übertragungen in Gruppen ein differenzierter Rahmen umrissen, der auch in der gruppensupervisorischen Arbeit immer berücksichtigt werden sollte. Alle diese Übertragungserscheinungen sind zwar nicht zentraler Gegenstand der Arbeit von Gruppensupervision, sie färben aber die Interaktionen, Themenwahl usw. mit ein und sollten bei Bedarf, d.h. bei Störungen des "inhaltlichen Arbeitsflusses", angesprochen werden.
Übungsaufgabe 9.: Analysieren Sie bitte eine Gruppe, mit der Sie beruflich zu tun haben, auf ihre multimodalen Übertragungen.
5.2. Kritik der theoretischen Grundmuster
(1) In anthropologischer Hinsicht
Die konstruktive anthropologische Bedeutung dieser gruppalen Ansätze liegt im Prinzip darin, daß sie im Anschluß an LEWIN die Gruppe als soziales System zu erfassen suchen. Da LEWIN die Qualität der Interdependenzen zwischen den Menschen eines Systems aber nicht definierte, lag es für Psychoanalytiker nahe, sie mit dem Übertragungsmodell inhaltlich zu füllen (PAGES 1968).
Die Kritik in anthropologischer Hinsicht, die ich für das klassische Übertragungs-/Gegenübertragungsmodell formuliert habe, gilt allerdings auch für die Mehrzahl dieser Gruppenansätze.
- Sie gründen sich bis auf FOULKES ausnahmslos auf frühkindliche, triebdynamisch interpretierte Erfahrungsmuster. Die stärkste Reduktion menschlichen Seins begegnet uns bei BION, der sich sogar auf vorödipale Stadien bezieht.
- Lediglich FOULKES antizipiert, daß für aktuelle Interaktionen auch die Lebenswelt des erwachsenen Menschen bedeutsam ist.
Aus diesem Grund sind die anderen Ansätze auch nur schwer in unser Konzept integrierbar.
(2) In instrumenteller Hinsicht
Diese reduzierten anthropologischen Prämissen schränken die Verwendbarkeit der Ansätze auch unter pragmatischen Gesichtspunkten erheblich ein.
Und da, wie immer wieder betont, in supervisorischen Situationen geringere Grade von Regression auftreten oder evoziert werden sollten, ergibt sich auch selten Gelegenheit, diese Deutungsmuster anzuwenden.
6. Übertragung und Gegenübertragung in und gegenüber Organisationen
Übertragungs-/Gegenübertragungsverhältnisse sind nicht nur auf das Kleingruppensetting bezogen, sondern auch für Organisationen postuliert worden.
6.1. Die theoretischen Grundmuster und ihre Anwendung
(1) Konzepte
Hier lassen sich zwei Denkfiguren unterscheiden:
- Die Organisation wird als Resultat von Übertragungen begriffen und
- die Organisation wird als Ort verstanden, der spezifische Übertragungen begünstigt.
6.1.1. Die Organisation als Resultat von Übertragungen
Insbesondere PAGES (1968) und MENTZOS (1976) postulieren, daß Übertragungen zur Entstehung von extrem formal strukturierten Organisationsformen führen. Das hohe Angstniveau in modernen Gesellschaften fördere Elternübertragungen als Abwehrform. Diese führten dazu, daß Menschen auf größere soziale Systeme Sicherheitsbedürfnisse projezieren. Gerade sie bewirkten vielfach Entstehung und Bestand inhumaner, d.h. übermäßig stark strukturierter Institutionen.
6.1.2. Die Organisation als Ort, der Übertragungen erzeugt
FÜRSTENAU (1979) und KERNBERG (1980) dagegen versuchen, die "objektiven" strukturellen Bedingungen von Organisationen mit ihren psychologischen Bedeutungen, die sie für den einzelnen Rolleninhaber enthalten, zu verbinden.
FÜRSTENAU zeigt am Beispiel des Sozialsystems "Schule", wie die in der Schulbürokratie etablierten Verhältnisse für den einzelnen Lehrer und Schüler Übertragungen begünstigen. Und KERNBERG exemplifiziert solche Zusammenhänge an klinischen Systemen. So beschreiben beide, wie Funktion und Binnenstruktur der Systeme regressive Übertragungen aller Art bei Mitarbeitern wie Schülern bzw. Klienten aktivieren.
(2) Anwendung
Die im ersten Ansatz von PAGES und MENTZOS postulierten Bezüge begegnen uns gelegentlich in kleinen, überschaubaren Einrichtungen, die ihre Struktur relativ direkt selbst bestimmen können und deren Bestand bedroht ist. Dann kann sich im Rahmen einer allgemeinen Panik das Bedürfnis nach übermäßig klaren formalen Strukturen ergeben.
Viel häufiger liegen Verhältnisse im Verständnis FÜRSTENAUs oder KERNBERGs vor. Häufig erzeugen sogar durchaus funktional geplante organisatorische Bedingungen bei den Mitgliedern dysfunktionale psychische Konstellationen. Diese können sich auch als Übertragung auf das Gesamtsystem äußern.
Beispiel 19.: Beispiele für solche Erscheinungen finden wir in deutschen Suchtkrankenkliniken. Qua Gesetzgebung wurden seit 1968 stationäre Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe als "Fachkliniken" umgestaltet. Aufgrund dieser gesetzlichen Regelungen mußten nun Ärzte als Leiter beauftragt werden. Dadurch wurden die bisherigen Leiter der alten "Heilstätten", Sozialarbeiter, Diakone usw., in das zweite Glied unter die Leitung von Ärzten "verbannt". Diese reale Deklassierung löste bei den früheren Leitern meist diffus negative Übertragungen auf die neue Führung oder gar auf die gesamte Organisation aus. Ein phantasierter böser Vater hatte sie "kastriert". Die daraus resultierende negativistische Haltung konnte aber selten eingestanden werden. Außerdem bestand in der Regel vorher eine sehr positive Bindung bzw. positive Übertragung auf das System. Die jetzt erzeugte innere "Übertragungsambivalenz" führte bei den Betroffenen oft zu schweren psychosomatischen Symptomen (SCHREYÖGG 1990 c).
6.2. Kritik der theoretischen Grundmuster
Die Hypothesen von PAGES und MENTZOS sind problematisch, wie MENTZOS selbst anmerkt. Mit solchen Denkmustern werden institutionelle Strukturen immer psychologisiert. Die funktionale Bedeutung von institutionalisierten Systemen und ihre Einbettung in institutionalisierte Umweltsegmente wird dabei übersehen. Der rational geplante Charakter sozialer Systeme und ihre Umweltabhängigkeit wird so verleugnet oder "hinweginterpretiert".
Angesichts von Auseinandersetzungen mit organisationstheoretischen Mustern, die auch formale Strukturphänomene zu erklären vermögen, wirken solche Hypothesen eher wie "Gedankenexperimente". Als Analysemuster mögen sie sich unter pragmatischen Gesichtspunkten an kleinen Organisationen bewähren, an größeren sicher nicht. Wie HABERMAS (1981) deutlich macht, entfalten große soziale Systeme eine funktionale Eigendynamik, die mit Übertragungen kaum erklärt werden kann.
Ausgesprochen sinnfällig ist jedoch die Sicht von FÜRSTENAU und KERNBERG. Kein Mensch kann sich auf Dauer vorgegebenen Rollenmustern entziehen (DREITZEL 1979). Und so entfalten auch die von einer Organisation qua Ziel und damit verbundener Struktur vorgegebenen Rollenmuster ihre Wirkung auf den einzelnen. Ein Teil des daraus resultierenden Rollenverhaltens läßt sich dann durchaus mit Hilfe des Übertragungsansatzes erklären.