Die Praxeologie

2.4. Die Praxeologie


Die vierte Ebene der Wissensstruktur, die praxeologische, enthält die methodischen Maßnahmen und prozessualen Anweisungen, durch die Integrative Supervision die beschriebenen Veränderungen realisiert.

Übungsaufgabe 19.: Mit welchen methodischen Maßnahmen arbeiten Sie bislang in Ihrer Beratung? Nennen Sie bitte das bevorzugte Konzept und begründen Sie, warum Sie dieses verwenden.

2.4.1. Die supervisorische Methodik

Im Zuge unserer modelltheoretischen Überlegungen wurde deutlich, daß ein Supervisionsmodell, in dem alle relevanten supervisorischen Themen und Situationen abgedeckt werden sollen, ein Methodenuniversum benötigt. Die spezifische Wahl und Anwendung von Methoden hat sich allerdings in einem integrativen Handlungsmodell, wie schon für die Theorien ausgeführt, an den Ansprüchen des Gesamtmodells zu orientieren.

Anhand der Gegenstandsbestimmung wurde weiterhin postuliert, daß professionelles Handeln von Supervisanden, das es zu verbessern gilt, aus ihren geplanten, d.h. rationalen und aus ihren nicht-geplanten, also "irrationalen" Deutungs- und Handlungsmustern resultiert. Wenn sich, im Verständnis unseres Meta-Modells, beide Anteile auch durchdringen und überlagern, kann, wie mehrfach gezeigt, Supervision doch auf die Veränderung geplanter oder ungeplanter Muster von Supervisanden fokussiert sein. Aus diesem Grund muß das Methodeninventarium Arbeitsweisen enthalten, die einerseits planmäßige, rationale Muster von Supervisanden zu verändern vermögen und andererseits solche, die ihre nicht-rationalen erfassen und korrigieren. Dazu benötigen wir dann einerseits

- den sachorientierten, rationalen Dialog und andererseits
- psychotherapie-nahe Arbeitsformen.

a. Der rationale Dialog

Rationale Dialoge dienen in der Supervision zur gezielten, oft auch theoriegeleiteten Auseinandersetzung mit planmäßigen Mustern. Sie dienen auch zur Strukturierung des bei der szenischen Rekonstruktion Erfahrenen. Über rational geführte Gespräche erfolgt auch die Problemformulierung und Bestimmung, welche Muster in der weiterführenden Veränderungsarbeit angegangen werden sollen. Und mit Hilfe rational bestimmter Gesprächssequenzen wird auch am Ende jeder weiterführenden Veränderungsarbeit das Erfahrene in die bisher vorhandenen Strukturmuster der Supervisanden integriert.

Wie aber mehrfach betont, sind auch Auseinandersetzungen auf reflexiver Ebene immer wieder an die phänomenale Erfahrung von Supervisor und Supervisand anzubinden. Im hier unterlegten Modell werden also Reflexionen nie als rein abstrakte, von der Erfahrung losgelöste Intellektualisierungen verstanden.

Beispiel 20.: Bei der Karriereberatung eines Wissenschaftlers tauchte folgendes Problem auf: er war bisher ausgesprochen interdisziplinär orientiert und mußte nun, als er sich für seine Habilitation thematisch deutlicher festlegen wollte, genau überlegen, wo er denn später mit dem einen oder anderen Thema eine Anstellung finden könne. Da an deutschen Hochschulen Interdisziplinarität noch wenig honoriert wird, beschränkten sich seine späteren Anstellungsmöglichkeiten auf Forschungsinstitute oder einen Wechsel an eine ausländische Universität. Diese Alternativen wollte er zunächst ausschließlich rational und sehr distanziert verhandeln, bis ich ihn bat, sich ein Leben In Amerika oder in England genauer vorzustellen. Als er seinen Visionen folgte, entschied er: "Ich will doch lieber in einem Forschungsinstitut hier landen.

b. Psychotherapie-orientierte Methodik

Im Verlauf der modelltheoretischen Vorbemerkungen hatte ich aufmerksam gemacht, daß kein psychotherapeutischer Ansatz allein alle supervisionsrelevanten Phänomene abzudecken vermag. So ergibt sich also die Notwendigkeit, auf mehrere Ansätze zurückzugreifen. Dabei tauchen nun, ähnlich der Theorie-Ebene, Selektionsfragen in zweifacher Hinsicht auf:

- Nach welchen grundsätzlichen Kriterien sollen Ansätze ausgewählt werden und

- nach welchen Kriterien sollen die einzelnen Methodenansätze auf ihre Verwendbarkeit bzw. Nicht-Verwendbarkeit, oder besser, daraufhin untersucht werden, ob sie vorbehaltlos oder selektiv in den Gesamtansatz zu integrieren sind.

Entsprechend unseren bisherigen modelltheoretischen Überlegungen lassen sich für unser Methodeninventarium zwei entscheidende Anforderungen stellen:

- Die Ansätze müssen erlebnis-zentriert sein und

- sie müssen als Gesamt eine multiparadigmatische Sicht vom Menschen enthalten.

Wie auf meta- und supervisionstheoretischer Ebene ausgeführt, resultiert Erkennen und Handeln von Supervisanden ganz wesentlich aus ihrem jeweiligen Erleben in Situationen. Als Leib-Subjekte deuten sie diese Situationen subjektiv aus und speichern sie zu erlebnishaften Konfigurationen. Diese gerinnen dann zu kognitiven Schemata und bestimmen das Denken und Handeln in professionellen Situationen wie auch in der Supervisionssituation. Wenn solche erlebnishaften Muster in der Supervision präzisiert und korrigiert werden sollen, muß das psychotherapie-nahe Methodeninventarium auch wieder erlebniszentriert sein; denn durch seine Verwendung sollen ja szenische Erfahrungen evoziert und bearbeitet werden.

Die psychotherapie-orientierte Methodik muß in ihrer Gesamtheit wie die Theorien entsprechend unserer multiparadigmatischen Anthropologie, individuelle, interaktionale und systemische Phänomene von Menschsein erfassen können. Das ist dann wieder ein psychotherapie-orientiertes, multiparadigmatisches Methodeninventarium.

Eine ganz entscheidende Anforderung an unsere Methodik besteht darin, daß sie unterschiedliche soziale Seins-Formen des Menschen, also sein "Rollen-Handeln" und das seiner Interaktionspartner erfaßt. Alle diese Voraussetzungen erfüllen sogenannte dramatherapeutische Verfahren, das sind besonders die Gestalttherapie und das Psychodrama, bzw. die in beiden Ansätzen enthaltenen methodischen Maßnahmen.

Beide Ansätze decken als Gesamt die individuelle, interaktionale und systemische Ebene menschlichen Daseins ab. Dabei akzentuiert gestalttherapeutische Arbeit die individuelle und die interaktionale Ebene, während psychodramatische noch die systemische erfaßt. Durch beide Ansätzen kann den Supervisanden ihre Rolle in interaktiven und systemischen Zusammenhängen erlebnishaft transparent werden, sowie auch die ihrer Rollenpartner.

b. Kriterien für die Integration beider Verfahren

Wie im Zusammenhang mit der Konstruktion von Integrationsmodellen beschrieben, bedarf die Integration eines jeweiligen Methodenansatzes in unser Modell der genauen Untersuchung. Erst wenn auf den verschiedenen modelltheoretischen Ebenen Kompatibilität zu unserem Ansatz überprüft und hergestellt ist, kann er übernommen werden. Das gilt auch für die Ansätze untereinander. Zumindest auf der Ebene des Meta-Modells und der therapietheoretischen Ebene sollte Kompatibilität, im Sinne eines ergänzenden Verhältnisses, bestehen.

So ist also zu untersuchen, ob und wie die Gestalttherapie und das Psychodrama auf entscheidenden modelltheoretischen Ebenen mit unserem Ansatz kompatibel und somit integrierbar sind (auch an dieser Stelle sei auf die ausführlichen Darstellungen im Lehrbuch (SCHREYÖGG 1992) verwiesen:

- Auf der Ebene des Meta-Modells im Hinblick auf die anthropologischen und erkenntnistheoretischen Implikationen und

- auf der therapietheoretischen Ebene im Hinblick auf die Zielstruktur, die Rekonstruktionsformen, die postulierten Faktoren der Veränderung, den Interaktionsstil und die Handhabung aktueller Situationen.

Wenn auf diesen beiden Ebenen angemessene Kompatibilität zu unserem Ansatz festzustellen ist, kommt eine Verwendung von Maßnahmen auf praxeologischer Ebene grundsätzlich in Frage. Dies allerdings nur dann, wenn sich die einzelnen methodischen Maßnahmen als ausreichend gegenstandsangemessen erweisen.

Die Theorie-Ebene von psychotherapeutischen Ansätzen, also ihre Persönlichkeits-, Krankheitslehre usw. sind hier nicht von besonderer Bedeutung; denn ein Supervisionsmodell muß aufgrund des anders gearteten Gegenstandes als dem von Psychotherapie andere theoretische Positionen beziehen, so daß die Theorie-Ebene der jeweiligen psychotherapeutischen Verfahren hier nur als Bestandteil der anderen modelltheoretischen Ebenen aufscheint.

(1) Die Ebene des Meta-Modells

Entsprechend unseren eigenen modelltheoretischen Ausführungen wollen wir nun die anthropologischen und erkenntnistheoretischen Prämissen der beiden Ansätze darstellen.

Die anthropologischen Implikationen beider Verfahren entsprechen in wesentlichen Punkten den von uns formulierten Prämissen:

- Beide transportieren ein differenziertes Verständnis über das Verhältnis von Individualität und Sozialität. In der Gestalttherapie steht interaktives Sozialgeschehen im Vordergrund, das Psychodrama erfaßt darüber hinaus noch die Einbindung in soziale Systeme.

- In beiden Ansätzen besteht Verständnis für die Determiniertheit des Menschen einerseits und seine Subjekthaftigkeit andererseits. Und beide Ansätze treten an, den Menschen immer umfassender aus seiner Determinierung zu befreien. Dabei sucht das Psychodrama Menschen zu unterstützen, die eigene Einbindung immer differenzierter und bewußter auszugestalten. Die Gestalttherapie dagen, jedenfalls in ihren klassischen Varianten, will einen "naturhaft guten Menschen" aus seiner sozialen Determinierung befreien. Dieser Aspekt der Gestalttherapie bedarf also der Problematisierung bzw. hier müssen "renovierte" Versionen verwendet werden, die der Sozialität vom Menschen umfassender Rechnung tragen.

- In beiden Ansätzen begegnet uns eine Sicht von lebenslanger Entwicklung, die immer umfassender zur Entfaltung menschlicher Potentiale genutzt werden kann.

- Wir finden in beiden Ansätzen auch Aussagen über das Verhältnis des Menschen zu Institutionalisierungen, die aber, entgegen unseren meta-modelltheoretischen Anforderungen, bei der Gestalttherapie sehr problematisch gelagert sind. Hier zeigt sich sozialpolitisch eine ablehnende Haltung, das Psychodrama dagegen enthält eine Sicht, die immer den sichernden und bedrängenden Wirkungen von Institutionalisierungen Rechnung trägt. Diese Seite der Gestalttherapie bedarf also ebenfalls kritischer Beachtung, wenn sie für die Supervision Verwendung finden soll.

Die erkenntnistheoretischen Setzungen, die den Verfahren innewohnen, lassen sich im wesentlichen als phänomenologisch bezeichnen:

- Beide Verfahren unterstellen, daß menschliches Erkennen ein subjektiver Vorgang ist, der besonders bei der Gestalttherapie auf dem Hintergrund der dort implizierten gestaltpsychologischen Positionen, immer auch als subjektiver Strukturierungsprozeß verstanden wird. Das Psychodrama dagegen enthält in manchen Teilen eine objektivierende Sicht. Sie ist in speziellen Verwendungsformen der Soziometrie enthalten, die in unserem Ansatz keine Verwendung finden können (BUER 1989 a).

- Beide Verfahren unterlegen eine mehrperspektivische Erkenntnishaltung, die sich besonders in der rollenspezifischen Methodik sowie dem dialog-orientierten Interaktionsstil manifestiert.

- Geradezu typisch ist für beide Verfahren, daß sie Erkenntnisprozesse als szenische Phänomene von Leib-Subjekten begreifen. Jedes Erkennen von Klient wie Therapeut ist so verstanden. Dabei entspricht allerdings die Gestalttherapie unseren Prämissen umfassender, da sie szenische Konfigurationen antizipiert. Im Psychodrama dagegen würden solche Strukturierungen eher als unerwünschte Verfestigungen zu betrachten sein.

- Die Auseinandersetzung mit dem Erkennen nicht-gegenständlicher Phänomene ist in beiden Verfahren vorgesehen, wobei das Psychodrama mit seinem Konzept der "surplus reality" hier wahrscheinlich explizitere Vorstellungen enthält.

(2) Die therapie-theoretische Ebene

Auf therapie-theoretischer Ebene finden wir in beiden Verfahren folgende hervorstechende Merkmale:

- Die Zielstruktur ist mit unserem Ansatz insofern kompatibel, als das Psychodrama alle drei unserer Zielprinzipien enthält, also Individuen, menschliche Beziehungen und sogar soziale Systeme zu erfassen sucht. Die Gestalttherapie enthält dagegen nur ein individuelles und ein interaktionistisches Zielprinzip. Dabei geht es in beiden Ansätzen - analog zu unserem Zielkonzept - neben der Bereinigung von Defiziten immer um die Erweiterung von Potentialen.

- Als besonders geeignet weisen sich beide Verfahren in ihrer Rekonstruktionsform aus. Beide implizieren "szenische" Rekonstruktionsarbeit.

- Auch die von beiden Verfahren postulierten Wirkungsmechanismen sind für unseren Ansatz relevant. Es geht dabei immer darum, über ganzheitliches Erleben und Handeln neue Deutungs- und Handlungsmuster im Menschen zu aktualisieren. Dabei enthalten beide Verfahren die Intention, daß Veränderung spontan und gezielt erfolgen kann.

- Als besonders kompatibel mit unseren Vorstellungen ist der in beiden Ansätzen enthaltene Interaktionsstil. Dabei wird grundsätzlich eine Subjekt-Subjekt-Beziehung vorausgesetzt und die Dimensionen Direktivität/Non-Direktivität, Symmetrie/Asymmetrie, sowie Authentizität/Zurückhaltung werden äußerst variabel gehandhabt. So sind beide im Hinblick auf die Tiefung und das Ausmaß der geforderten Selbsteröffnung gut variierbar.

(3) Das Methodeninventarium der beiden Ansätze

Zur Realisierung supervisorischer Arbeit enthalten beide Ansätze umfassendes praktisches "Rüstzeug".

Das Methodeninventarium aus dem Psychodrama ist in seiner klassischen Form allerdings im einzelsupervisorischen Setting nur begrenzt verwendbar, es entfaltet erst in einem größeren sozialen Verband alle seine Möglichkeiten. In der Einzelsupervision lassen sich nur Elemente psychodramatischer Arbeitsformen applizieren. In diesem Setting ist dagegen gestalttherapeutische Methodik besonders sinnvoll.

Beispiel 21.: In einer Ausbildungsgruppe für Supervision stellte eine Sozialarbeiterin folgendes Problem vor: Als Leiterin einer Behinderteneinrichtung erlebte sie laufend Probleme mit ihrem Geschäftsführer. Sie wurde zunächst mit einer gestalttherapeutischen Methodik (hier mit dem "leeren Stuhl") gebeten, eine besonders problematische Interaktionsseqenz nachzustellen. Als einige Aspekte der Beziehung deutlich wurden, meinte sie aber: "Am schlimmsten ist das ja, wenn die Meister aus der Werkstatt dabei sind." Nun wurde ein Rollenspiel inszeniert, bei dem sie, der Geschäftsführer und 3 Meister anwesend waren. Jetzt ließen sich wieder ganz andere Aspekte ihrer Beziehung zum Geschäftsführer erkennen. Wo er mit ihr im Einzelgespräch relativ interessiert an ihren menschlichen und fachlichen Belangen wirkte, agierte er in Anwesenheit der Meister verdeckt herablassend. 

Insbesondere unter Verwendung vielfältiger "kreativer Materialmedien" (PETZOLD 1977), die in modernen Fortentwicklungen beider Ansätze eine Rolle spielen, lassen sich aber auch in der Einzelsupervision unterschiedlichste soziale Konstellationen rekonstruieren und bearbeiten (Über solche Arbeitsformen erfahren Sie mehr im Lehrmaterial "Kreative Medien").

Jede methodische Maßnahme erhält ihren Wert allerdings nur aus dem konzeptionellen Gesamtzusammenhang unseres Supervisionsmodells, so daß beide Verfahren immer nur modifiziert verwendet werden können. Die Anwendung einer jeweiligen methodischen Maßnahme aus dem Methodenrepertoire der beiden Verfahren erhält ihren Wert auch nur durch ihren Bezug zu einem jeweiligen supervisorischen Anliegen und dem supervisorischen Kontext. Es geht in der Supervision immer um die Rekonstruktion gelebter Praxis und die Kreation neuer Praxis auf dem Hintergrund unserer Wissensstruktur. Die Anwendung einer jeweiligen methodischen Maßnahme hat sich dann immer an diesem Ziel zu orientieren.

Über diese funktionale Bedeutung hinaus eröffnen sich über die Arbeit mit diesen Ansätzen umfassende Erlebnis- und Handlungsräume, die menschliche Potentiale korrespondierend einfangen: das Imaginieren und Handeln in nie gedachte Welten, das Experimentieren mit neuen Handlungsmustern, die bisher unbekannt waren, die Expression in Anwesenheit anderer Menschen, die noch nie versucht wurde, die Regression, die sonst peinlich vermieden wird usw. Auf diese Weise fördert Integrative Supervision, über ihre unmittelbare Aufgabe als Supervisionsverfahren hinaus, durch die verwendete Methodik die personale Entfaltung von professionell tätigen Menschen.

2.4.2. Der supervisorische Prozeß

Die genannten methodischen Maßnahmen werden hier im Vollzug ihrer Anwendung in einen prozessualen Ablauf integriert.

Aus phänomenologischer Perspektive läßt sich jede menschliche Veränderung, also auch die supervisorische, in Analogie zum kreativen Prozeß beschreiben (SEIFFGE-KRENKE 1974, in Anschluß an GOLANN 1963).

Unser Prozeßmodell ist deshalb an das phänomenologische der Kreativitätsforschung angelehnt, bzw. an Ansätzen orientiert, die ihre prozessuale Sicht aus der Kreativitätsforschung adaptiert haben.

a. Der kreative Prozeß

Unterschiedliche Autoren differenzieren den kreativen Prozeß nach vier Phasen (vgl. ebenda):

(1) Präparation
(2) Illumination
(3) Inkubation
(4) Verifikation

In einem ersten Stadium, der Präparation, das zumeist durch Unbehaglichkeit oder Unzufriedenheit charakterisiert ist, leitet der Mensch einen Suchprozeß ein, um seine Unzufriedenheit zu präzisieren. Er systematisiert und strukturiert dabei sein vorhandenes Wissen im Hinblick auf das Problem.

Im nächsten Stadium, der Inkubation, erfolgt eine weitere Auseinandersetzung mit dem Problem, jetzt jedoch nicht über rein kognitive Strukturierung, sondern über die Aktivierung unbewußter Prozesse.

Übungsaufgabe 20.: Haben Sie schon einmal erlebt, daß Sie sich an einem Problem "festgebissen" haben und Sie nach einer Erholungsphase, wo Sie an das Problem gar nicht mehr dachten, eine ganz flüssige Lösung finden konnten? Besprechen Sie bitte ein solches Beispiel in Ihrer Arbeitsgruppe.

Die sogenannte Illumination ist dann ein plötzlicher Einfall, ein "Geistesblitz", also ein kreativer Erkenntnisakt, der oft als "Ja, so kann es gehen" verbalisiert wird.

Die aus der Illuminationsphase entwickelte kreative Lösung muß aber nun, in der Verifikationsphase, kritisch reflektiert werden, d.h. sie muß sich in der Realität bewähren.

b. Das Prozeßmodell Integrativer Supervision

Dieses deskriptive, aus der Introspektion von Künstlern und Wissenschaftlern gewonnene Phasenmodell läßt sich, entsprechend modifiziert, als prozessuales Handlungskonzept auch für solche Anwendungsmodelle nutzen, deren Ziel in der geplanten Veränderung von Menschen besteht. Im Gegensatz zur "einsamen Kreation" handelt es sich dann um eine soziale Situation, in der kreative Veränderungsprozesse eines anderen Menschen befördert werden sollen.

Solche Prozeßmodelle finden wir auch der erlebnisorientierten Psychotherapie, dem Psychodrama und der "Integrativen Therapie" (PETZOLD 1977) unterlegt. Hierbei wird der Mensch durch einen professionellen Dialogpartner, den Therapeuten, planmäßig unterstützt, einen "kreativen Veränderungsprozeß zu vollziehen".

Als sich zum Teil mit denen des kreativen Prozeßmodells überschneidenden Phasen werden dort folgende beschrieben (vgl. ebenda):

(1) Initialphase
(2) Aktionsphase
(3) Integrationsphase
(4) Neuorientierungsphase

Da es in diesem Supervisionsansatz auch um die kreative Veränderung von Menschen geht, allerdings mit anderen thematischen Schwerpunkten als in der Psychotherapie, läßt sich das dort verwendete Prozeßmodell für unseren Supervisionsansatz adaptieren.

Hier soll das Prozeßmodell nur anhand einzelsupervisorischer Situationen beschrieben werden. Seine Verwendung für die Mehrpersonen-Supervision ist an anderer Stelle genauer beschrieben (SCHREYÖGG 1992).

(1) In einer einleitenden Phase, der Initialphase, müssen die Sozialpartner, Supervisor wie Supervisand, eine entsprechende persönliche und fachliche Verständigungsbasis finden, damit der Supervisand sein Thema überhaupt angemessen artikulieren kann. Auf der Basis gemeinsamen Verstehens treten Supervisor wie Supervisand dann, der "Präparation" vergleichbar, in einen Suchprozeß ein, der das Thema grob strukturiert. Dieser steht zunächst auf dem Hintergrund bisherigen Wissens beider Partner. Der Supervisor nimmt dabei eine sogenannte natürliche Einstellung ein, d.h. er sucht die Darstellungen des Supervisanden zu erfassen, und sich von ihnen berühren zu lassen. Das von ihm am Supervisanden Wahrgenommene und Erlebte strukturiert er in sich, artikuliert dann neue Anregungen zur weiteren Überlegung, erfragt noch fehlende Daten, szenische Elemente usw.

(2) Das zweite kreative Stadium, die sogenannte "Inkubation", als fortgeschrittener, jetzt aber mehr prärationaler Suchprozeß, wird vom Supervisor methodisch vertieft. Über die Applikation erlebnisaktivierender Arbeitsformen fördert er dann mehr oder weniger tiefgreifende regressive Prozesse beim Supervisanden, die, wie die Kreativitätsforschung deutlich macht, eine eher unbewußte Auseinandersetzung erfordert. In dieser Phase ist die szenische Rekonstruktionsarbeit angesiedelt. Sie ist durch besonders dichte Erlebnisprozesse charakterisiert, die sich bei herabgesetzter Bewußtheit in vielfältigen unbewußten Aktivitäten des Supervisanden äußert. Diese Phase wird deshalb "Aktionsphase" genannt (PETZOLD 1977). Abgeschlossen ist die Aktionsphase, wenn "Illumination" eintritt, d.h. wenn der Supervisand sagt oder signalisiert, "ja, jetzt weiß ich, wo das Problem liegt".

(3) Nun muß sich die in der "Illumination" gefundene Lösung aber in zweifacher Weise bewähren: an der innerpsychischen Realität des Supervisanden, wie auch an der äußeren Realität, in seiner Praxis.

Die in der Kreativitätsforschung beschriebene "Verifikation" fördert der Supervisor dann zum einen in der Weise, daß er den Supervisanden unterstützt, die gefundene Problemlösung in seine personalen Deutungsmuster zu integrieren. Im Sinne einer "Integrationsphase" (ebenda 1977) fördert er die innere Lösung. Er unterstützt den Supervisanden, sein Erstaunen, seine Trauer usw., die in Konfrontation mit der gefundenen Lösung auftaucht, zu verarbeiten. Auch hier folgt er dem Erleben des Supervisanden mit einer sogenannten natürlichen Einstellung und einer menschlich akzeptierenden Haltung.

(4) Danach unterstützt aber der Supervisor den Supervisanden auch darin, seine neue kreative Lösung zu verifizieren. Der Supervisand überprüft dann, ob sich seine innerhalb der Supervision gefundene Lösung auch in seiner Praxis als sinnfällig erweist. Dieses als "Neuorientierungsphase" (ebenda 1977) bezeichnete Stadium besteht darin, daß der Supervisand angeleitet wird, seine Lösung in der Arbeitswelt zu überprüfen. Dies geschieht zunächst im Rahmen der Supervisionssituation, in sensu, bzw. im Rollenspiel. Wie im Zusammenhang mit den supervisions-theoretischen Ausführungen deutlich wurde, findet solche Arbeit wieder innerhalb der rekonstruierten Szene statt.

Wenn sich die gefundene Lösung auch in der realen Praxis des Supervisanden bewährt, ist das spezifische Problem bewältigt. Nun kann es sich aber erweisen, daß die in der Aktionsphase gefundene Lösung noch nicht ausreichend in das personale Gesamtrepertoire des Supervisanden integriert ist, oder, daß sich die gefundene Lösung in der Praxis nicht bewährt. In solchen Fällen ist dann weiterführende Veränderungsarbeit notwendig. Diese wird je nach Problemlage, entweder über reflexive Auseinandersetzungen oder wieder über erlebnisaktivierende Arbeitsweisen bewerkstelligt.

 

Literaturhinweise

Literatur zum Psychodrama

Buer, F., Die Philosophie des J.L. Moreno - Grundlage des Psychodramas, in: Integrative Therapie 2/1989, S. 121-140

Petzold, H., Psychodrama-Therapie, Beiheft zur Integrativen Therapie 3, Junfermann, Paderborn 1979

Petzold, H., Psychodrama. Die ganze Welt ist eine Bühne, in: Petzold, H. (Hrsg.), Wege zum Menschen, Methoden und Persönlichkeiten moderner Psychotherapie, Bd. 1., Junfermann, Paderborn 1984 b

Literatur zur Gestalttherapie

Bünte-Ludwig, C., Gestalttherapie - Integrative Therapie. Leben heißt Wachsen, in: Petzold, H. (Hrsg.), Wege zum Menschen, Methoden und Persönlichkeiten moderner Psychotherapie, Bd 1., Junfermann, Paderborn 1984

Petzold, H., Die Gestalttherapie von Fritz Perls, Lore Perls und Paul Goodman, in: Integrative Therapie 1-2/1984 a, S. 5-72

Literatur zur Kreativitätsforschung

Seiffge-Krenke, I., Probleme und Ergebnisse der Kreativitätsforschung, Huber, Bern, Stuttgart, Wien 1974

Literatur zur Verwendung von Gestalttherapie und Psychodrama in der Supervision

Buer, F., Psychodramatische Konzepte und Methoden in der Supervision, in: Integrative Therapie 3-4/1989 b, S. 336-344

Schreyögg, A., Supervision - ein integratives Modell, Lehrbuch zu Theorie und Praxis, Junfermann, Paderborn 1992 (2. Aufl.)