Die Wissensstruktur Integrativer Supervision

Die Wissensstruktur Integrativer Supervision


Unter Verwendung der soeben dargestellten Grundstruktur will ich nun die Wissensstruktur des Supervisionsansatzes genauer beschreiben.


2.1. Die Ebene des Meta-Modells

Das Meta-Modell enthält also Setzungen, wie menschliche Beziehungen und menschliches Sein zu begreifen ist, d.h. anthropologische Positionen, und wie supervisorische Phänomene "erkannt" werden können, also erkenntnistheoretische Setzungen.

Entscheidungen für oder gegen die Wahl bestimmter anthropologischer und erkenntnistheoretischer Positionen sind allerdings nicht beliebig zu treffen, sie bedürfen der Begründung (LORENZEN 1975). Für unseren Zusammenhang, also für Supervision, ist wesentlich, daß sie die Erscheinungsformen menschlichen Daseins, menschlicher Beziehungen und professioneller Praxis in möglichst vielfältiger Weise einzufangen vermögen. Bisher geführte Auseinandersetzungen in der sozialwissenschaftlichen Literatur zu dieser Frage legen nahe, daß phänomenologische Ansätze diese Anforderungen am umfassendsten einlösen (STRASSER 1962, GRAUMANN/METRAUX 1977, HERZOG 1984).

Dabei läßt sich nun allerdings nicht von der "Phänomenologie" als durchgängigem und in sich stimmigem Gesamtkonzept sprechen (STRASSER 1962); denn unterschiedliche Autoren haben je spezifische Aspekte innerhalb eines breiten Spektrums phänomenologischer Positionen akzentuiert und ausgearbeitet. Unter Rückgriff auf die o.g. Autoren, aber auch unsere Vorbemerkungen, bilden hier jene phänomenologischen Ansätze den Rahmen für unser Meta-Modell, die eine multiparadigmatische Perspektive von Mensch-Sein beinhalten und eine Subjekt-Subjekt-Relation als ethischen Standard für menschliche Beziehungen transportieren. Das sind dann selbst wieder "integrative" Ansätze, d.h. phänomenologische Konzepte, die sozialwissenschaftliche Ansätze mit unterschiedlichen Paradigmen in sich zu vereinigen suchen.

2.1.1. Anthropologische Setzungen

Im folgenden wollen wir vier anthropologische Setzungen ausformulieren:

(1) Der Mensch als individuelles und soziales Wesen

Anthropologisch gründen sich phänomenologische Modelle auf die Prämisse, daß der Mensch in einem unmittelbaren Bezug zur Ding- und Personenwelt steht. Sein individuelles So-Sein resultiert aus gelebten Interaktionen und seinem Eingebundensein in soziale Kollektive. Diese werden durch umfassende Kontextbedingungen raum-zeitlicher Art mitbestimmt (MERLEAU-PONTY 1942). Unter Bezug auf psychoanalytische Traditionen läßt sich der Einzelne als einmaliges Wesen sehen, das aufgrund seiner je spezifischen Beziehungsgeschichte über eine unverwechselbare Identität verfügt. Wir können ihn, im Sinne des Interaktionismus von MEAD, aber auch als Interaktionspartner von ihm aktuell begegnenden Menschen begreifen (COENEN 1985 b). Dann entfalten wir eine Perspektive, daß das aktuelle Erleben und Handeln durch das jeweilige Gegenüber, als "Rollenpartner" mitgeprägt ist. Unter Rückgriff auf gestaltpsychologische Positionen von LEWIN ist der Mensch aber immer auch Teil von sozialen Kollektiven. Diese bestimmen für ihn selbst oft kaum spürbar sein Denken und Handeln in einem gemeinsamen Lebensraum und definieren seine jeweilige soziale Rolle, in der er anderen begegnet (COENEN 1985 b).

Solche Sichtweisen legen nahe, daß wir den Menschen nicht nur als Individuum oder als durch Interaktionen oder Systeme determiniertes Wesen verstehen können, sondern daß wir ihn, je nach unserer aktuellen Perspektive, einmal als Individuum, ein anderes Mal als Interaktionspartner usw. zu erfassen haben.

Für Supervisoren bedeutet das, daß sie die Klienten eben nicht nur als Einzelwesen oder nur als interaktional eingesteuert oder nur als determiniert durch soziale Systeme begreifen können. Sie müssen vielmehr versuchsweise jeweils eine dieser Seinsformen in den Vordergrund ihrer Betrachtung rücken. Sie sollten sich dabei jedoch bewußt sein, daß sie aktuell lediglich eine perspektivische Akzentuierung vornehmen.

Übungsaufgabe 10.: Versuchen Sie anhand des folgenden Beispiels unterschiedliche paradigmatische Ebenen des Problems zu analysieren. Treffen Sie sodann eine Entscheidung, welche Sie als Supervisor akzentuieren würden.

Ein Topmanager mußte eine neue Sekretärin engagieren, da die bisherige "Chefsekretärin" aus privaten Gründen in eine andere Stadt umgezogen war. Der 40-jährige Mann hatte sich die "Neue", 50 Jahre alte Frau besonders deshalb engagiert, weil er sich erhoffte, durch sie nicht in "Liebeshändel" verwickelt zu werden, zu denen er hin und wieder neigte. "Sie wirkte eben mütterlich." Sie fungierte nun wirklich umfassend in diesem Sinne, indem sie ihm Kaffee kochte, ihm Brötchen oder allerlei Leckereien zwischen seinen Sitzungen besorgte, ihm ungebetene Anrufer "abwimmelte" usw. Die ersten Wochen war er begeistert über die unerwartete Fürsorge, in den nächsten begann ihm die neue Sekretärin mit ihrer überprotektiven Haltung auf die Nerven zu gehen, so daß er sie zunehmend mürrisch "abfahren" ließ. Sie erkrankte darauf schwer an einem alten Asthmaleiden.

(2) Der Mensch als Subjekt und als determiniertes Wesen

Der Mensch läßt sich einerseits als Wesen begreifen, das zu zielorientiertem, bewußt geplantem Handeln in der Lage ist. Unter interaktionistischen und systemischen Gesichtspunkten tritt jedoch die Begrenzung seiner individuellen Handlungsfreiheit hervor. Dann erscheint er nämlich immer auch als determiniert durch aktuelle und historische Lebenserfahrungen (COENEN 1985 a). Als für ihn selbst oft unmerkliche, also prärationale Festlegungen, gehen sie nicht nur in seine bewußten Planungen ein, sondern sie können auch bewirken, daß seine rationalen Planungsabsichten von ihm selbst durchkreuzt werden.

Obwohl nun phänomenologische Ansätze postulieren, daß der Mensch durch seine Sozialität umfassend bestimmt ist, unterstellen sie ihm auf der anderen Seite doch die grundsätzliche Möglichkeit, eigenständig zu denken und zu handeln. Als Subjekt kann der Mensch dann prinzipiell eine "exzentrische Position" (PLESSNER 1953) gegenüber seiner eigenen lebensweltlichen Determiniertheit einnehmen und sie so überwinden. Diese Perspektive vom Menschen als Subjekt geht dann idealerweise in jede Beziehung von Menschen ein (STRASSER 1962).

Für supervisorische Arbeit hat diese anthropologische Position gravierende Bedeutung. Das von Supervisor wie Supervisand Geplante kann durch die individuelle Lebenserfahrung jederzeit durchkreuzt werden. So besteht eine grundsätzliche anthropologische Überzeugung integrativer Supervision darin, daß geplantes professionelles Handeln immer von nicht-geplanten Handlungsanteilen unkontrolliert durchmischt und durchsetzt sein kann. Sie resultieren aus der aktuellen und/oder historischen Sozialisation des Supervisanden. Supervision, die prinzipiell von der Veränderbarkeit des Menschen ausgehen muß, wird dann darauf abzielen, den Supervisanden als Subjekt zu begreifen und ihn anzuregen, aus einer exzentrischen Position seine Lage zu reflektieren und neu zu gestalten.

Wenn der Supervisor seiner Arbeit diese Perspektive unterlegt, dann ist auch die supervisorische Beziehung als Dialog zwischen zwei vernunftbegabten und handlungsfähigen Subjekten zu definieren.

(3) Der Mensch als sich potentiell lebenslang entfaltendes Wesen

Wie in der humanistischen Psychologie (MASLOW 1973) der Mensch als potentiell lebenslang sich entfaltendes Wesen zu begreifen ist, betrachten ihn auch phänomenologische Ansätze als Wesen, das sich über seine gesamte Lebensspanne immer weitergehend zur Entfaltung bringen kann (HERZOG 1984). Durch seine Fähigkeit, das eigene Dasein zu reflektieren und zu transzendieren, kann er immer wieder neue Möglichkeiten erschließen, sich und sein Leben zu gestalten.

Für Supervision, wie für jede Form angewandter Sozialwissenschaft, die sich auf phänomenologische Prämissen stützt, hat diese Perspektive von Mensch-Sein umfassende Veränderungsbedeutung.

(4) Der Mensch als gesichert und bedrängt durch Institutionalisierungen und durch Arbeit

Jede professionelle Praxis ist "Arbeit" und steht in einem institutionellen Zusammenhang, sei es in einer Organisation oder in der "freien Praxis". Deshalb ist es für ein Supervisionsmodell zentral, sein anthropologisches Verhältnis zu Institutionen, Institutionalisierungen und Arbeit zu präzisieren.

Aus phänomenologischer Sicht bilden sich im Prozeß sozialen Lebens regelmäßig Institutionen heraus, d.h. regelgeleitete Formen menschlichen Zusammenlebens. In diesen entfalten Menschen soziale Rollenkonstellationen. Dadurch schaffen sie sich einen überschau- und berechenbaren Rahmen ihres Zusammenlebens. So entsteht Sicherheit in tagtäglichen Handlungsvollzügen. Dem einzelnen Menschen fordert aber die Einhaltung dieser Institutionalisierungen Einschränkungen ab bzw., seine elementaren Bedürfnisbefriedigungen muß er oft zu Gunsten der Sozietät aufschieben oder unterlassen.

Übungsaufgabe 11.: Beschreiben Sie bitte ein Ritual, das Sie im Zusammenleben mit einem anderen Menschen entwickelt haben. Versuchen Sie zu beschreiben, welche stabilisierenden Wirkungen dieses Ritual hat, wie Sie sich aber manchmal auch genervt fühlen von diesem Ritual.

Deshalb befindet sich der Mensch in einem prinzipiell ambivalenten Verhältnis gegenüber Institutionalisierungen. Er wird durch sie gesichert, aber auch bedrängt (BERGER/LUCKMANN 1966).

Für supervisorische Arbeit folgt daraus, daß Klient und Supervisand immer in zweifacher Weise von gesellschaftlichen Institutionalisierungen betroffen sind: Zum einen erleben sie ihre Zugehörigkeit zur Familie, zu einer Organisation usw. mit ihren jeweiligen Rollenzuweisungen immer als existentielle Sicherung, zum anderen aber regelmäßig auch als Beschränkung. Wollte Supervision nur eine Seite der Konsequenzen von Institutionalisierungen betonen, würde sie der existentiellen Situation von Supervisand wie Klient in ihrem jeweiligen institutionellen Kontext nicht gerecht.

Ein prinzipiell ambivalentes Verhältnis wird in phänomenologischen Ansätzen auch gegenüber Arbeit postuliert. Arbeit als eine Form menschlichen Tätig-Seins (HABERMAS 1968), fordert dem Menschen immer Disziplinierung seiner elementaren Bedürfnisse ab (BÖHME 1985). Gleichzeitig sichert sie aber seine physische Existenz und in einer "Arbeitsgesellschaft" (ebenda) auch seine Identität.

So muß auch Supervision, bei der "Arbeit" thematisch immer im Zentrum steht, oder jedenfalls Ausgangspunkt für alle Beratungsprozesse ist, die prinzipielle Ambivalenz von Supervisanden, Klienten usw. gegenüber Arbeit einkalkulieren.

2.1.2. Erkenntnistheoretische Setzungen

Als erkenntnistheoretische Setzungen sollen hier vier formuliert werden:

(1) Erkenntnis als intersubjektiver Deutungs- und Strukturierungsprozeß

Phänomenologische Ansätze gründen sich auf die Prämisse, daß jedes Erkennen an das erkennende Subjekt, den jeweiligen Menschen, gebunden ist. Er erfaßt die phänomenale Welt niemals objektiv, im Sinne von fotografisch, sondern deutet sie aus. Die Deutungen resultieren aus seinen jeweiligen lebensweltichen Erfahrungszusammenhängen (SCHÜTZ 1932, BERGER/LUCKMANN 1966). Im Verständnis gestaltpsychologischer Forschung, deren Sichtweisen auch in die Phänomenologie einflossen, wird die Welt aber nicht als chaotische Ansammlung von Einzelelementen wahrgenommen und erkannt, sondern zu Gestalten strukturiert. So betont besonders PIAGET (1946), daß der Mensch im Laufe seiner Lebenserfahrung immer komplexere Strukturmuster, sogenannte kognitive Schemata, bildet. Sie sind in frühen Entwicklungsstadien noch umfassend an die unmittelbare Wahrnehmung gebunden und entfalten sich mit fortschreitender Entwicklung zu immer komplexeren und auch abstrakteren Mustern.

Phänomenologische Autoren sehen die Entwicklung kognitiver Schemata immer deutlich an die Sozialität gekoppelt. Sie resultieren aus der primären Sozialisation im Elternhaus, aber auch aus der sekundären in Schule und Beruf. In Konfrontation mit komplexen sozialen Anforderungen reicht der bisherige "Wissensvorrat" an Mustern zur Lebensbewältigung jeweils nicht mehr aus, so daß fortlaufend neue und vielgestaltigere erworben werden müssen.

Seine aktuelle Welterfahrung sucht der Mensch in seine bisher erworbenen kognitiven Schemata zu assimilieren. Wenn es sich erweist, daß eine neue Erfahrung in diese bisherigen Schemata nicht assimiliert werden kann, müssen neue kognitive Schemata etabliert werden. Dann findet "Akkommodation" statt. Der fließende Wechsel von Assimilation und Akkomodation wird bei PIAGET "Äquilibrierungprozeß" genannt. Er läßt sich als grundlegende Voraussetzung für menschliches Erkennen bezeichnen.

Beispiel 10.: Ein zwei-jähriges Kind hat einen "schwarzen Mann" als Kaminkehrer zu bezeichnen gelernt. Nun sieht es mit der Mutter in der Straßenbahn sitzend einen schwarz gekleideten Priester. Es zeigt mit dem Finger auf den Geistlichen und schreit begeistert "Kaminkehrer". Die Mutter läuft rot an und versucht das Kind zu beruhigen und ihm möglichst leise deutlich zu machen, daß es jetzt "akkomodieren" muß.

Für Supervision läßt sich postulieren, daß Praktiker immer auf dem Hintergrund ihrer jeweils erworbenen Strukturmuster wahrnehmen und strukturieren. Ihr Erkennen ist auch als "Äquilibrierungsprozeß" zu bezeichnen. Wenn es sich erweist, daß ihr Wissensvorrat nicht hinreicht, müssen sie neue erwerben - oder sich z.B. in Supervision begeben. So besteht eine wesentliche Funktion von Supervision in der Erweiterung des Repertoires an kognitiven Mustern.

(2) Erkenntnis als mehrperspektivisches Phänomen

Umfassende Erkenntnisleistungen sind bei PIAGET an die Verfügbarkeit vieler verschiedener und unterschiedlich komplexer kognitiver Schemata geknüpft. In der phänomenologischen Literatur, die stärker an Wahrnehmungs- als an Denkmustern orientiert ist, wird in diesem Zusammenhang vielfach von "Mehrperspektivität" gesprochen (GRAUMANN 1960, STRASSER 1962, PETZOLD, SCHNEEWIND 1986 u.a.). Mehrperspektivisches Erkennen ist dann eine Erkenntnisform, bei der Menschen schon vorab darauf eingestellt sind, Ereignisse mit Hilfe unterschied-licher Muster zu untersuchen und zu struk-turieren. Erkennen besteht dann nicht im Versuch, das eine richtige Strukturmuster zu finden, sondern zu antizipieren, daß ge-rade komplexe Phänomengestalten erst unter Verwendung von mehreren kognitiven Schemata angemessen strukturiert werden können.

Es entwickelt sich ein sogenannter mehrperspektivischer Erkenntnishorizont, wenn Menschen ihren Erkenntnisstandort mehrfach wechseln (STRASSER 1962) oder wenn sie aus dem Dialog mit anderen Menschen ihre jeweiligen kognitiven Schemata anreichern (ebenda).

Beispiel 11.: STRASSER (1962) beschreibt das Würfelbeispiel von HEIDEGGER zur Veranschaulichung von Erkenntnisstandorten: ein Kind sieht auf einem Spielplatz einen großen Holzwürfel, der auf den sichtbaren Seiten rot angestrichen ist. Als es um den Würfel herumläuft, fällt ihm auf, daß er an der hinteren Seite blau ist. "Mamma, der ist ja gar nicht überall rot," meint es erstaunt. Merke: Bei Standortwechsel erschließen sich oft neue Perspektiven.

Auch in der Supervision, wo es meistens um komplexe Phänomengestalten geht, ist mehrperspektivisches Erkennen von zentraler Bedeutung. Über den supervisorischen Dialog werden einerseits die Schemata von Supervisoren angereichert, Supersanden werden andererseits angeregt, über einen laufenden Standortwechsel mehrperspektivische Erkenntnishorizonte zu etablieren. So läßt sich Supervision als laufender mehrperspektivischer Äquilibrierungsprozeß, der von Supervisoren strukturell unterstützt wird, charakterisieren.

(3) Erkenntnis als szenisches Phänomen eines Körper-Seele-Geist-Subjektes

Der Begriff kognitive Schemata scheint nun zu intendieren, daß sich Erkenntnis in rein kognitivem, von der Erfahrung losgelöstem Erfassen erschöpft. Wahrnehmen und Erkennen vermag der Mensch aber im Prinzip nur aufgrund seiner gesamten leiblichen Existenz. Wie PIAGET (1946) in der handelnden Auseinandersetzung des ganzen Menschen mit seiner Welt die Basis für Erkenntnis verortet, wird dies auch in der phänomenologischen Literatur postuliert. Dort gilt der Leib als Ort des Wahrnehmens, Denkens und Handelns.

Umgekehrt wird dieser Leib von der phänomenalen Welt aber auch laufend erfaßt und berührt (MERLEAU-PONTY 1942). So ist der Mensch im phänomenologischen Verständnis an allen Erkenntnisakten mit seiner Leiblichkeit beteiligt, ja sie ist substantielle Voraussetzung (APEL 1985).

Übungsaufgabe 12.: Erinnern Sie sich an einen Vorfall, bei dem Sie starke leibliche Symptome spürten? Beschreiben Sie diesen und versuchen Sie herauszufinden, was Sie so stark berührt hatte.

So sind auch Supervisor und Supervisand im Prozeß ihrer Arbeit laufend als ganze Menschen gefordert, die ihnen begegnenden Phänomene wahrzunehmen und sich von ihnen berühren zu lassen.

Das Wahrnehmen und Deuten der phänomenalen Welt als Voraussetzung für Erkenntnis findet auf dem Hintergrund einer unhinterfragten, wie selbstverständlich begriffenen Lebenswelt statt. Erlebte Situationen werden dann nicht einfach distanziert rationalistisch erfaßt, sondern als erlebnishafte Konfigurationen, d.h. als "Szenen" vom Menschen gespeichert (LORENZER 1970, PETZOLD 1981 b).

Lebenserfahrung vollzieht sich nämlich in konkreten Situationen, die von den Beteiligten als Leib-Subjekte wahrgenommen, gedeutet und gedanklich strukturiert werden. Und umgekehrt sind Menschen auch von ihnen angerührt. Die laufend und lebenslang erworbenen Erfahrungen prägen sich ein. Jede lebensweltliche Situation wird immer bis zu einem gewissen Grad auf dem Hintergrund früherer szenischer Erfahrungen und den daraus gebildeten Schemata erfaßt.

So ist auch jede Diagnose von Praxissituationen, als professioneller Erkenntnisakt, von den historischen Szenenerfahrungen des Supervisors wie des Supervisanden mitbestimmt. Sie bilden ein Reservoir von "Strukturmustern", in die der Supervisand aktuelle Szenenerfahrungen assimiliert.

Wenn alte Szenenerfahrungen als "unvollständige Gestalten" gespeichert wurden, weil sie den betreffenden Menschen in Angst oder Panik versetzt haben, er sie also nicht verarbeiten konnte, drängen sie prärational laufend nach Vervollständigung. Sie bilden dann diffus einen permanenten Hintergrund für aktuelles Erleben. Sie können das Erkennen in aktuellen Situationen dysfunktional überlagern bzw. verzerren (LORENZER 1970). Unvollständige Szenengestalten bilden dann starre kognitive Muster, in die jede neue Erfahrung nur assimiliert wird. Der Übergang auf andere kognitive Schemata bzw. ein flexibler Äquilibrierungsprozeß wird so verhindert.

So kann es sich auch in der Supervision erweisen, daß ein Supervisand durch vorhergehende traumatische Erfahrungen immer wieder auf bestimmte diagnostische Muster und daraus resultierende Handlungsweisen festgelegt ist.

(4) Das Erkennen von nicht-gegenständlichen Phänomenen

Erkenntnis wird hier als hochkomplexer Vorgang begriffen. Sie ist nicht einfach auf rein rationales Erfassen des Menschen beschränkt und auch im Hinblick auf das, was Menschen erkennen können, also den potentiellen Erkenntnisgegenstand, besteht im Anschluß an phänomenologische Autoren ein erweitertes Verständnis. Szenische Erfahrungen und die durch sie gebildeten Muster beziehen sich keineswegs nur auf gegenständliche Phänomene, sondern auch auf den nicht-gegenständlichen Phänomenbereich, wie etwa "Atmosphären" (SCHMITZ 1978).

So sind auch in der Supervision Auseinandersetzungen über nicht-gegenständliche Phänomene mit einzubeziehen. Wenn der Supervisand ermuntert werden kann, die Atmosphäre eines Praxiskontextes zu erfassen, fördert dies oft erst wesentliche situative, hier "analoge" (WATZLAWIK et al. 1967) Elemente als Grundlage für die weitere supervisorische Bearbeitung zutage.

Beispiel 12.: Beschreibung einer Atmosphäre in der Literatur (Doris Lessing, aus "Zwischen Männern", in: Das Doris-Lessing-Buch, 1989). "Der Sessel gegenüber der Tür hatte einen kaffeebraunen Satinbezug. Maureen Jeffries trug ein dunkelbraunes Seidentricot, dazu eine weiße Rüschenbluse. In dem großen Ohrensessel würde sie zum Vernaschen aussehen. Kaum hatte sie sich darin zurechtgesetzt, als sie auch schon wieder aufstand (mit einem traurigen Lächeln, dessen Sie sich bestimmt nicht bewußt war) und sich weniger dramatisch in die Ecke des gelben Sofas plazierte...."


Literaturhinweise

Zur Phänomenologie

Strasser, S., Phänomenologie und die Erfahrungswissenschaft vom Menschen, de Gruyter, Berlin 1962

Zur phänomenologischen Psychologie

Graumann, C.F., Metraux, A., Die phänomenologische Orientierung in der Psychologie, in: Schneewind, K.A. (Hrsg.), Wissenschaftstheoretische Grundlagen in der Psychologie, UTB, München 1977

Herzog, M., Phänomenologische Psychologie, Grundlagen und Entwicklungen, Asanger, Heidelberg 1992

Zur phänomenologischen Soziologie

Berger, P., Luckmann, T., Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Fischer, Frankfurt/M. 1979

Coenen, H., Diesseits von subjektivem Sinn und kollektivem Zwang, Wilhelm Fink VErlag, München 1985

Zur Phänomenologie von Arbeit

Böhme, G., Antthropologie in pragmatischer Hinsicht, Suhrkamp, Frankfurt/M. 1985