Die Wissensstruktur von Coaching (Schreyögg. Aus Birgmeier, B.:(Hrsg.): Coachingwissen. 2009.
Bei Coaching als Beratungsform handelt es sich wie bei Psychotherapie, Supervision oder Organisationsberatung um eine Form angewandter Sozialwissenschaft. Wenn Praktiker und/oder Theoretiker das Wissen von bzw. über Coaching sichten oder sammeln wollen, tun sie gut daran, dies im Sinne einer Wissensstruktur zu ordnen (Schreyögg 2009). Das ist schon deshalb sinnvoll, weil die Themen, die im Coaching verhandelt werden, eine kaum zu überschauende Vielfalt aufweisen. Selbst wenn das Coaching als „Executive Coaching“ nur auf die unmittelbaren Themen von Führungskräften in Organisationen begrenzt ist, geht es einmal um individuelle, einmal um interaktive und wieder ein anderes Mal um Fragestellungen, die soziale Systeme berühren. Alle diese Themen müssen mit entsprechenden theoretischen Konzepten oder mit alltagsweltlich gewonnenen Erfahrungsmustern strukturiert, d.h. diagnostisch erfasst werden (Schütz 1981). Daraus folgt, dass Coaching immer multiparadigmatisch zu denken ist. Daraus folgt außerdem, dass Coaching grundsätzlich multidisziplinär orientiert sein muss. Das heißt, dass psychologische, soziologische, betriebs- und volkswirtschaftliche Konzepte einzubeziehen sind.
Und alle diese Themen sind dann mit genau den methodischen Maßnahmen zu bearbeiten, die zu einer jeweiligen Thematik passen. Das bedeutet, dass der Coach über eine Vielzahl an methodischen Mustern verfügen muss, die den multiparadigmatischen und multidisziplinären Strukturmustern gerecht werden.
Wie lässt sich aber nun eine solche Vielfalt von strukturellen Mustern und methodischen Möglichkeiten ordnen? Das heißt, wie ist theorie- und methodenplurales Arbeiten im Coaching zu modellieren?
Im psychotherapeutischen Bereich, in dem schon seit den 1970er Jahren Theorie- und Methodenkombinationen üblich sind, zeigte sich bei unreflektiertem Methodenmix, dass Patienten widersprüchliche Botschaften erhalten. Denn den unterschiedlichen Methoden sind oft völlig gegensätzliche Zielsetzungen und gegensätzliche Menschenmodelle unterlegt. Während beispielsweise humanistisch-psychologische Arbeitsformen das Vertrauen des Klienten zum Therapeuten besonders stark akzentuieren, würde dies durch paradoxe Interventionen aus der strategischen Familientherapie wahrscheinlich eher in eine Misstrauenshaltung umschlagen. Mit den ersten Ansätzen spricht der Professionelle die Klienten nämlich dialogisch als Subjekte an, mit den zweiten Arbeitsformen sollen sie dagegen „raffiniert“ als Objekte zu einem bestimmten Ziel hin gebracht werden. Ein solcher Methodenmix führt zur Irritation der Klienten in ihrer Beziehung zum Therapeuten (Dittmer 1982, Textor 1988).
Aus diesem Grund versucht man seit Anfang der 1980er Jahre Modellkonstruktionen zu entwerfen, die trotz angemessen großer Theorie- und Methodenvielfalt diese Probleme zu vermeiden helfen. Es handelt sich dann um spezielle Modellkonstruktionen, die als „Integrationsmodelle“ bezeichnet werden, weil sie eine konzeptionell fundierte Konklusion vielfältiger Theorien und vielfältiger Methoden erlauben (Herzog 1982, 1984; Hagehülsmann 1984; Petzold 1993, 1998; Schreyögg 1991, 1995).
1. Die Struktur von Handlungsmodellen
Modelle, so auch Handlungsmodelle dienen als strukturierender Rahmen, ursprünglich vage Vorstellungen zu präzisieren und gedankliche Muster theoretisch zu transformieren. Sie haben zudem die Funktion, zwischen wichtigen und weniger wichtigen Phänomenen und Phänomenkonstellationen zu differenzieren (Herzog 1984). Die Konstruktion von Handlungsmodellen muss prinzipiell bei normativen Grundentscheidungen starten, also bei anthropologischen und erkenntnistheoretischen Setzungen. Eine solche Vorgehensweise hat zudem den Vorteil, dass diese Prämissen dem Verwender des Modells transparent werden. Solche Prämissen müssen aber nach Meinung einschlägiger Autoren in eine so genannte Wissensstruktur eingebettet werden. Diese umfasst folgende Ebenen:
- Auf einer übergeordneten, einer Meta-Ebene, muss das Modell grundlegende anthropologische und erkenntnistheoretische Setzungen enthalten. Das ist die Basis eines jeden Handlungsmodells. Zwar wird bei den meisten Handlungsmodellen im Bereich von Psychotherapie, Supervision und Coaching das Meta-Modell nicht expliziert, ihnen ist aber prinzipiell eines unterlegt, dann eben nur implizit. Bei einer fortgeschrittenen Modellkonstruktion sollte dieses Meta-Modell aber expliziert werden.
- Auf einer zweiten Ebene, der Theorie-Ebene, sind Theorien anzugeben, mit deren Hilfe sich Ist- und Soll-Zustände der für das Handlungsmodell relevanten Phänomene und Phänomenkonstellationen erfassen lassen.
- Eine dritte Ebene sollte grundlegende methodische Anweisungen enthalten. (1) Das sind die Ziele des Modells, (2) die Art und Weise, wie Themen von Klienten in der Praxissituation rekonstruiert werden, (3) welche Wirkungsfaktoren dem Modell unterstellt werden, (4) der zu empfehlende Interaktionsstil und (5) Anweisungen, wie unterschiedliche Settings in der Praxis gehandhabt werden sollen.
- Auf einer vierten Ebene ist die Praxeologie des Modells zu konzipieren, d.h. seine einzelnen methodischen Maßnahmen und die prozessualen Anweisungen zur methodischen Applizierung.
- Das alles mündet schließlich auf einer fünften Ebene in konkretes praktisches Handeln von professionellen Akteuren.
Daraus ergibt sich folgende Grundstruktur:
Meta-Modell
I
Theorie-Ebene
I
Grundlegende methodische Anweisungen
I
Praxeologie
I
Konkretes Handeln des Coachs
2. Die Wissensstruktur eines Integrationsmodells
Wie ist nun die Grundstruktur eines integrativen Modells, das vielfältige Theorien und vielfältige Methoden enthält, zu konzipieren?
- Hier wird mit einem expliziten Meta-Modell gestartet, das anthropologische und erkenntnistheoretische Prämissen enthält.
- Wenn dann auf der zweiten Ebene vielfältige Theorien im Sinne eines Theorie-Universums in das Modell integriert werden sollen, ist jeweils zu prüfen, ob diese mit den Prämissen des Meta-Modells kompatibel sind, d.h., ob das ihnen unterlegte Menschenmodell zu den anthropologischen und erkenntnistheoretischen Positionen des Meta-Modells passt.
- Die grundlegenden methodischen Anweisungen wie etwa der Interaktionsstil oder die Wirkungsfaktoren sind dann so zu wählen, dass sie zu dem Meta-Modell, aber auch zu der Theorie-Ebene passen.
- Und für die Wahl der einzelnen methodischen Elemente (Tools, Interventionen usw.) und die Wahl der prozessualen Muster, also der Praxeologie gilt, dass sie mit allen vorhergehenden Ebenen kompatibel sein müssen. Erst dann ist konzeptionell sinnvolles Handeln zu erwarten.
3. Die Wissensstruktur eines Integrationsmodells für das Coaching
Nach welchen Gesichtspunkten ist nun die „Wissensstruktur“ eines Integrationsmodells für das Coaching zu konzipieren, und wie ist die Integration von unterschiedlichen Theorie- und Methodenansätzen zu denken?
3.1. Die Ebene des Meta-Modells
Für Coaching als Beratungsform für Führungskräfte ist bei der Auswahl von anthropologischen und erkenntnistheoretischen Prämissen zu bedenken, dass sie die Erscheinungsformen menschlichen Daseins, menschlicher Beziehungen - und beruflichen Handelns möglichst vielfältig einzufangen vermögen. Solche Anforderungen lösen bislang besonders Ansätze aus der phänomenologischen Psychologie (Strasser 1964, Graumann & Metreaux 1977 u.a.) und der phänomenologischen Soziologie ( Berger &Luckmann 2007; Bourdieu 1987; Coenen 1985 u.a.). Dabei handelt es sich um Konzepte, die zu je unterschiedlichen Phänomenbereichen einen je eigenen Beitrag geleistet haben. Sie decken sich aber in ihren Grundpositionen. Nachfolgend beschreibe ich je vier anthropologische und erkenntnistheoretische Prämissen, die sich für ein Coachingmodell eignen.
Anthropologische Setzungen
Inhaltlich müssen die anthropologischen Setzungen eines Handlungsmodells fürs Coaching folgende Bereiche abdecken: (1) Das Verhältnis des Menschen zu Individualität und Sozialität, (2) zu seiner Subjekthaftigkeit und seiner Determiniertheit, (3) zu seinem Lebensganzen und zu seinen Entfaltungsmöglichkeiten und zu (4) seinem Verhältnis gegenüber Institutionalisierungen und gegenüber Arbeit. Dabei müssen sie aber immer Antinomien beinhalten, also jeweils zwei Seiten eines Phänomens erfassen.
(1) Der Mensch ist gleichermaßen ein individuelles und ein soziales Wesen.
Phänomenologische Konzepte gründen sich auf die Überzeugung, dass jeder Mensch als je einmaliges, unverwechselbares Wesen zu betrachten ist und Handlungsfreiheit hat (Apel et al. 1984). Gleichzeitig gehen sie davon aus, dass sein individuelles Sosein von Anbeginn aus gelebten Interaktionen mit anderen Menschen resultiert. Sie gehen außerdem davon aus, dass der Mensch, besonders der berufstätige Mensch, Teil von sozialen Systemen ist. So muss der Coach seinen Klienten immer multiparadigmatisch erfassen als je einmaliges Individuum, als Interaktionspartner anderer Menschen und als Teil von sozialen Systemen. In der konkreten Arbeit ist dann einmal der eine, ein anderes Mal der andere Aspekt von Mensch-Sein zu akzentuieren.
(2) Der Mensch ist gleichermaßen Subjekt und determiniertes Wesen.
Jeder Mensch lässt sich als Wesen begreifen, das unabhängig von anderen Menschen eigene Ziele bestimmen kann und sich für oder gegen das eine oder das andere Ziel zu entscheiden vermag. Als Subjekt kann der Mensch auch prinzipiell eine exzentrische Position einnehmen (Plessner 1982), die es ihm erlaubt, seine eigene Lage und die Zusammenhänge, in denen er steht, zu durchschauen. So reflektiert und selbstbestimmt das eigene Handeln eines jeweiligen Menschen erscheinen mag, ist aber doch der Tatsache Rechnung zu tragen, dass es auf der Folie seines jeweiligen aktuellen und historischen Erfahrungshintergrundes steht. So kann das Geplante durch die individuelle Lebenserfahrung immer verunmöglicht werden. Ein Coach muss also immer damit rechnen, dass vom Klienten geplante Erfahrungen von ihm selbst durchkreuzt werden können.
(3) Der Mensch ist ein sich potentiell lebenslang entfaltendes Wesen.
Die Phänomenologie unterstellt dem Menschen umfassende Potentiale, die er sein Leben lang immer umfassender entfalten kann (Merleau-Ponty 1976). Das bestätigt sogar neuerdings die Neurologie, wonach der Mensch bis zu seinem Lebensende neue Nervenzellen bilden kann (Bauer 2006). Für das Coaching hat das seine Bedeutung darin, dass auch ältere Menschen, selbst wenn sie schon lange führende Positionen in Organisationen eingenommen haben, immer noch in der Lage sind, Neues zu lernen.
(4) Der Mensch ist gleichermaßen gesichert und bedrängt durch Arbeit und durch Institutionalisierungen.
Jede Berufstätigkeit, selbst die „Freie Praxis“, steht in unterschiedlicher Weise in institutionalisierten Kontexten. Aus phänomenologischer Sicht bilden sich im Prozess sozialen Lebens Institutionen heraus, d.h. regelgeleitete Formen menschlichen Zusammenlebens. In diesen entfalten Menschen unterschiedliche Rollenkonstellationen Dadurch schaffen sie sich einen berechenbaren Rahmen ihres Zusammenlebens, der Sicherheit garantiert. Dem Einzelnen fordern sie aber die Einhaltung von Regulativen ab. Dann muss er Bedürfnisbefriedigung zu Gunsten dieser Regulative aufschieben oder unterlassen. So wird der Mensch durch Institutionalisierungen gleichermaßen gesichert und bedrängt (Berger &Luckmann 2007). Das gilt auch für Arbeit. Sie fordert dem Menschen Disziplin ab, dass er elementare Bedürfnisse aufschiebt. Arbeit sichert aber gleichzeitig sein Überleben. Auch diese Antinomie muss ein Coach immer mit bedenken. Führungskräfte werden beispielsweise durch hierarchische Strukturen eingeengt, gleichzeitig aber auch in ihrer Identität gesichert.
Erkenntnistheoretische Setzungen
Auch die erkenntnistheoretischen Setzungen des Meta-Modells resultieren aus phänomenologischen Positionen. Fürs Coaching sind hier folgende relevant: (1) Erkenntnis ist ein intersubjektiver Deutungs- und Strukturierungsprozess, (2) ein mehrperspektivisches Phänomen, (3) ein szenisches Phänomen eines Leib-Seele-Geist-Subjektes und (4) ein Vorgang, bei dem gegenständliche und nicht-gegenständliche Erscheinungen erfasst werden können.
(1) Erkenntnis ist ein intersubjektiver Deutungs- und Strukturierungsprozess.
In der phänomenologischen Literatur (Schütz 1981; Forster 1981 u.a.) wird betont, dass Menschen die ihnen begegnende Welt nie objektiv im Sinne von fotographisch erfassen, sondern sie auf dem Hintergrund ihrer bisherigen Welterfahrung subjektiv ausdeuten. Sie neigen dabei zu Strukturierungen, d.h. sie nehmen auf den ersten Blick nicht einzelne Elemente war, sondern sie fügen sie kognitiv und wahrnehmungsmäßig zu gestalthaften Konfigurationen zusammen. Diese dienen dann als „kognitive Schemata“ (Piaget 2003) zur Handlungsorientierung. Im Verlauf ihres Lebens entwickeln Menschen eine große Fülle solcher Schemata. Sie stellen dann einen personenspezifischen „Wissensvorrat“ (Berger & Luckmann 2007) dar, der sich allerdings für manche Lebenssituationen als untauglich erweist. Dann können die neuen Erfahrungen nicht in vorhandene Muster assimiliert werden. Jetzt müssen neue Muster im Sinne von „Akkomodation“ gebildet werden. Und das geschieht besonders durch Interaktion mit anderen Menschen. Idealerweise findet ein fließender Wechsel zwischen Assimilation und Akkommodation statt, was Piaget als „Äquilibrierungsprozess“ beschrieben hat. In vielen Fällen ist es die Aufgabe des Coachs, Klienten zu unterstützen, den Äquilibrierungsprozess wieder zu verflüssigen.
(2) Erkenntnis ist ein mehrperspektivisches Phänomen.
Flexibles, treffsicheres und umfassendes Erkennen ist an die Verfügbarkeit vieler unterschiedlicher kognitiver Schemata geknüpft. So sind komplexe Phänomengestalten nur mit einer großen Zahl kognitiver Schemata zu erfassen. Eine Anreicherung von solchen kognitiven Mustern kann entweder durch einen Wechsel des Standortes vorgenommen werden, damit ein Phänomen aus einer neuen Perspektive sichtbar wird. Anreicherung kann aber auch durch Dialoge mit anderen Menschen geschehen, wenn diese neue Sichtweisen an den Erkennenden herantragen. So ist es eine wichtige Aufgabe des Coachs, das Erkenntisrepertoire des Klienten durch neue Muster anzureichern, damit dieser zunehmend mehrperspektivisch wahrnehmen und erkennen kann.
(3) Erkenntnis ist ein „szenisches“ Phänomen von Leib-Seele-Geist-Subjekten.
Erkennen ist allerdings nie als rein kognitiver Akt zu begreifen. Menschliches Erkennen ist immer an den ganzen Menschen als ein Leib-Seele-Geist-Subjekt bekoppelt. Der Mensch nimmt seine Welt wahr und wird von ihr auch erfasst. Wie wir aus psychotherapeutischen Zusammenhängen wissen, wird Erlebtes, auch beruflich Erlebtes vom jeweiligen Menschen als Leib-Subjekt in erlebnishaften Konfigurationen, in „Szenen“ gespeichert (Lorenzer 2000; Petzold 1993). Diese höchst individuellen und dadurch emotional eingefärbten Szenen stellen eine spezifische Art der Ausdeutung von Situationen dar. Wenn diese Szenen von Schmerz oder gar von Panik begleitet sind, bilden sich starre kognitive Schemata, die das Erkennen in vergleichbaren Situationen erschweren oder sogar unmöglich machen. In solchen Fällen ist es Aufgabe des Coachs, die zugrunde liegenden blockierenden Erfahrungen dem Bewusstsein zugänglich zu machen, so dass der Klient wieder frei wird für neue Erfahrungen.
(4) Erkenntnis kann sich auch auf nicht-gegenständliche Phänomene beziehen.
Menschliches Erkennen ist allerdings keineswegs auf Auseinandersetzungen mit gegenständlichen Phänomenen beschränkt. Vielfach berichten Menschen über kaum zuordenbare Erfahrungen, die sie als „kühle“ oder „aggressive“ Atmosphären (Schmitz 1978) beschreiben. Solche Erscheinungen stellen oft sogar einen sehr relevanten „Schlüssel“ zum Verständnis von Situationen dar. So sollte auch der Coach solche Phänomene ernst nehmen.
3.2. Die Theorie-Ebene
Theorien kommt in sozialwissenschaftlichen Handlungsmodellen eine ganz zentrale Bedeutung zu, denn durch sie wird Handeln erst professionell. In einem integrativen Handlungsmodell sollten ihre Funktion, die Art ihrer Anwendung und vor allem ihre Auswahl expliziert werden.
(1) Die Funktion von Theorien
Menschen nutzen für ihre Erkenntnisprozesse viele Theorien, d.h. kognitive Schemata. Schütz (1981) differenziert Theorien erster und zweiter Ordnung. Im Verlauf der frühen Sozialisation in Elternhaus und Schule erwerben wir wie selbstverständlich einen „Wissensbestand“ (Berger & Luckmann 2007), den Bourdieu (1987) als „Habitus“ bezeichnet hat. Dieser ermöglicht uns spontanes Handeln im Alltagsleben. Das sind dann Alltagstheorien. Im weiteren Leben benötigen wir aber in Konfrontation mit komplexen beruflichen Anforderungen eben auch als Coach abstraktere Strukturierungsmuster, d.h. Schemata, die sich nicht mehr aus der handelnden Auseinandersetzung mit der Welt ergeben – das sind dann Theorien zweiter Ordnung. Ihre Funktion besteht darin, den ursprünglichen Erkenntnishorizont von Menschen zu erweitern. Über Theorien als kognitive Schemata, die wir nicht mehr selbst entwickeln, sondern die andere kreiert haben, lässt sich das, was uns ursprünglich „verborgen“ war, doch noch strukturieren und erkennen. Als öffentliche kognitive Schemata sind diese Theorien zweiter Ordnung einer großen Anzahl von Menschen zugänglich, so dass auf ihrer Basis flüssige Verständigung mit vielen Menschen ermöglicht wird. Wenn berufliche Phänomene im Coaching thematisiert werden, gelingt es durch die Strukturierung mit Hilfe von theoretischen Mustern oft überhaupt erst zu verstehen, um was es dem Klienten geht.
(2) Die Anwendung von Theorien
Die Anwendung theoretischer Konstrukte kann das Erkennen aber auch behindern. Dies geschieht, wenn Theorie voreilig oder einseitig angewandt wird. Theorie schafft dann einen „Tunnelblick“. Aus diesem Grund hatte Husserl, der Vater der Phänomenologie, gefordert, dass der erkennende Mensch sich mit einer möglichst offenen, unvoreingenommenen Haltung der phänomenalen Welt nähert. Wie aber viele Nachfolgende gezeigt haben, ist die von Husserl geforderte Einstellung nur ein Ideal. In der Realität werden Menschen das ihnen Begegnende immer auf dem Hintergrund von lebensweltlich erworbenen Mustern strukturieren. Verwender von Theorie, in unserem Fall der Coach, sollten in Annäherung an dieses Ideal vor jeder theoretischen Strukturierung die wahrzunehmenden Phänomene so unvoreingenommen wie möglich auf sich wirken lassen. Die Auswahl und Anwendung von Theorie ist dann auch immer im Hinblick auf die unmittelbare phänomenale Erfahrung zu überprüfen. Wie ich im Weiteren noch zeigen werde, entspricht das auch der Haltung bei der „Prozessberatung“, wie sie im Anschluss an Schein von vielen Coaches propagiert wird. Vor jeder expliziten Theorieanwendung sollte der Coach die Aussagen von Klienten so unvoreingenommen wie möglich auf sich wirken lassen und erst dann theoretisch strukturieren. Er sollte aber auch dem Klienten Unterstützung geben, dass dieser gleichfalls möglichst offen und theoriefrei seine Themen vorbringt.
(3) Kriterien zur Auswahl von Theorien
Eine Modellkonstruktion fürs Coaching, die beansprucht möglichst alle denkbaren Fragestellungen von Klienten abzudecken, muss unter pragmatischen Gesichtspunkten ein breit angelegtes Theorieuniversum zugrunde legen. Unter modelltheoretischen Gesichtspunkten ist dieses Theorieuniversum aber an den Prämissen des Meta-Modells auszurichten. Das heißt zunächst, die Auswahl hat multiparadigmatisch zu sein. Je nach der zu beratenden Fragestellung geht es ja einmal um individuelle Phänomene aktueller oder historischer Art, ein nächstes Mal um Interaktionen, also Beziehungsphänomene, auch wieder aktueller und historischer Art, und mindestens ebenso oft geht es im Coaching um Systemphänomene. Für alle diese Erscheinungen sollte das Handlungsmodell theoretische Konstrukte vorsehen. Das sind in einem Modell fürs Coaching theoretische Positionen aus der allgemeinen Psychologie, um individuelle Phänomene zu strukturieren, es sind Theorien aus der Psychoanalyse und der Sozialpsychologie, um Beziehungsphänomene zu fassen. Man benötigt aber auch Konzepte aus der Organisationssoziologie, um organisatorische Erscheinungen zu strukturieren. Außerdem sind Konzepte aus der Managementlehre einzubeziehen, um Führungskräfte bei ihrer besonderen Aufgabenstellung zu unterstützen. Darüber hinaus benötigt der Coach auch gesellschaftstheoretische Konzepte. Diese Ansätze sind aber nun alle auf ihre anthropologischen Implikationen hin zu überprüfen, ob sie z.B. den Menschen als Subjekt erfassen oder nur als Objekt, ob sie ihm die Möglichkeit lebenslangen Lernens unterstellen oder nicht, ob sie den Menschen schwerpunktmäßig als Herr seines Lebens sehen oder ob sie ihn primär als determiniert durch soziale Systeme begreifen usw. So erweisen sich beispielsweise klassische Übertragungs-Gegenübertragungsmodelle nur als begrenzt kompatibel, weil sie menschliche Beziehungserfahrungen auf frühkindliche Muster reduzieren. Im Gegensatz dazu unterstellt etwa das Konzept von Mead (1973) lebenslange Entwicklung von Beziehungen. Bei den Organisationskonzepten unterstellt z.B. das Mikropolitik-Konzept, dass Menschen grundsätzlich auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind (Neuberger 1994), während der Organisationskultur-Ansatz (Schein 1995) eine weitaus konstruktivere Sicht von Sozialität transportiert. Dementsprechend sind manche Theorien nicht oder nur gelegentlich in hervorstechenden Situationen anzuwenden.
Bei der Anwendung von Theorie in einem konkreten Anwendungsfall geht es zunächst immer um die Frage, ob die Theorie zum Thema passt, das verhandelt werden soll. Die Anwendung der „richtigen“ Theorie stellt sich manchmal gar nicht so einfach dar, denn die Klienten bringen ja im Coaching oft schon eigene Erklärungsmuster vor, die durch ihre bisherigen Erfahrungen verengt sind. Welche Theorie zur Anwendung kommt, klärt sich erst im Rahmen eines Dialoges von Coach und Klient.
3.3. Die Ebene grundlegender methodischer Anweisungen
Diese Ebene der Modellkonstruktion ist auf die
- Bestimmung von Zielen des Modells gerichtet, auf die
- Rekonstruktion eines Coaching-Themas,
- die Wirkungsfaktoren ,
- den zu wählenden Interaktionsstil und schließlich auf
- Anweisungen zur Handhabung unterschiedlicher Settings.
Die methodischen Anweisungen müssen in einem Integrationsmodell mit den Prämissen des Meta-Modells, aber auch mit der Theorie-Ebene kompatibel sein.
(1) Die Zielstruktur
Im Coaching werden von den Auftraggebern, den Klienten und auch von den Coaches viele unterschiedliche Ziele formuliert. In einer expliziten Modellkonstruktion, sind sie zu systematisieren und entsprechend dem Meta-Modell in eine Zielstruktur zu integrieren. Diese Zielstruktur lässt sich zunächst entsprechend dem multiparadigmatischen Theorie-Universum nach drei Prinzipien ordnen, einem individuellen, einem interaktionistischen und einem systemischen. Dabei geht es dann einerseits um die Beseitigung von Defiziten, andererseits in einem proaktiven Sinn um die Förderung von Potentialen. Außerdem sind neben der Steigerung von Effizienz auch immer Ziele zu verfolgen, die positives Mensch-Sein ermöglichen. Und das sind dann Humanisierungsziele (siehe genauer Schreyögg 2009: 23).
(2) Die Rekonstruktion des Kliententhemas
„Rekonstruktion des Kliententhemas“ ist eine vertiefte Darstellungsform, während derer Klienten ihre Anliegen in Coaching-Situationen mit Unterstützung des Coachs ausbreiten. Die Rekonstruktion dient als Grundlage für den weiteren Dialog zwischen Coach und Klient. Die Bedeutung von Rekonstruktionen ergibt sich aus erkenntnistheoretischen Positionen des Meta-Modells. Coaching-Klienten treten ja meistens deswegen in einen Coaching-Prozess ein, weil ihr „Wissensvorrat“ (Berger & Luckmann 2007), d.h. ihre Deutungs- und Handlungsmuster für eine aktuelle Anforderung nicht mehr ausreichen oder nicht mehr passend sind. Das erlebte Unbehagen oder Unvermögen artikulieren die Klienten dann aber auch nur auf dem Hintergrund ihres bisherigen Wissensvorrates. Das sind dann Muster, die sich gerade als untauglich erwiesen haben. Viele Führungskräfte sind z.B. irritiert, wenn ihre Mitarbeiter auf eine etwas schärfere Kritik völlig verstummen. Die Führungskräfte suchen dann laufend nach sachlichen Begründungen für diesen Umstand. Erst wenn sie der Coach darauf aufmerksam macht, dass jede soziale Situation unterhalb der offensichtlichen Kommunikation noch eine untergründige, emotional oft hoch aufgeladene Ebene als Subtext enthält, können sie ihr eigenes Handeln noch einmal neu erfassen und dementsprechend neu ausdeuten. Im Verlauf einer Rekonstruktion wird also eine vom Klienten berichtete Situation im Dialog noch einmal auf möglichst viele ihrer Implikationen hin abgetastet. Das Ziel von Rekonstruktionen besteht in der Entwicklung einer bündigen Problemdefinition, an der dann weiter gearbeitet wird. Im Anschluss an das Meta-Modell sollte die Rekonstruktion aber mehrperspektivisch und „szenisch“ sein, d.h. auch emotionale und leibliche Aspekte mit erfassen.
(3) Die Wirkungsfaktoren
Im Rahmen eines expliziten Handlungsmodells, das Veränderungen anstrebt, ist auch anzugeben, wie diese Veränderungen erreicht werden sollen. Das heißt, wie soll Coaching in diesem integrativen Modell wirken? Als grundsätzliche Veränderungsmechanismen, die mit den anthropologischen und erkenntnistheoretischen Prämissen kompatibel sind, lassen sich Veränderungen der Deutungs- und Handlungsmuster von Klienten begreifen.
- Dabei geht es in manchen Situationen, in denen der Wissensvorrat von Klienten zur Bewältigung einer neuen Situation nicht ausreicht, um eine Erweiterung von Deutungs- und Handlungsmustern. Schon bei einer eingehenden Rekonstruktion eines beruflichen Ereignisses ergibt es sich oft, dass der Klient das bislang Erlebte in einem völlig neuen Licht sehen kann und damit seine Deutungsmuster erweitert. In vielen anderen Fällen wird der Coach vorschlagen, eine neu zu bewältigende Situation, etwa das Führen eines Kritikgesprächs, im Schonraum des Coachings zu üben. Dann erweitert der Klient seine Handlungsmuster.
- Andere Wirkungen sind Umstrukturierungen von Deutungs- und Handlungsmustern. In vielen Fällen „kleben“ Klienten an bestimmten Sichtweisen oder an bestimmten Handlungsstrategien, obwohl sich diese aktuell nicht bewähren und die Klienten auch andere zur Verfügung hätten. Dann ist es die Aufgabe des Coachs, Klienten zu gewinnen, diese Muster zu verlassen zu Gunsten anderer, die sich in der jeweiligen Situation wahrscheinlich als effizienter oder als ethisch angemessener erweisen.
(4) Der Interaktionsstil
Der Interaktionsstil eines Handlungsmodells ist die spezifische Form, in der Professionelle im Verlauf ihrer professionellen Arbeit ihren Klienten begegnen sollen. Der Interaktionsstil eines integrativen Handlungsmodells hat sich auch wieder an den Prämissen des Meta-Modells zu orientieren.
In diesem Sinn besteht das anthropologische Ideal, an dem der Dialog im Coaching gemessen wird, in einer Subjekt-Subjekt-Beziehung zwischen Coach und Klient. Auf dem Hintergrund einer phänomenologischen Erkenntnishaltung nimmt der Coach gegenüber jedem Anliegen des Klienten eine „natürliche Einstellung“ im Sinne von Husserl ein. Er begegnet dem Klienten maximal offen, möglichst theoriefrei und primär non-direktiv. Im weiteren Verlauf des Coaching-Dialogs muss der Coach aber im Verständnis des hier unterlegten Rekonstruktionsansatzes sowie der postulierten Wirkungsfaktoren eine sehr variable Haltung einnehmen zwischen unterschiedlichen Dimensionen. Diese Flexibilität ist nämlich ein wesentlicher Gradmesser für seine Professionalität. Der Interaktionsstil realisiert sich durch die Person des Coachs, weshalb er das „entscheidende Instrument“ im Coaching darstellt.
Im Verlauf der gemeinsamen Arbeit - etwa bei Rollenspielsequenzen muss der Interaktionsstil phasen- und inhaltsspezifisch stark variieren zwischen den Dimensionen Direktivität versus Non-Direktivität, Symmetrie versus Asymmetrie sowie Authentizität versus Zurückhaltung. Im Verlauf der Rekonstruktion, wenn der Klient seine Fragestellung überhaupt erst entfaltet, wird der Coach weitgehend non-direktiv, zuerst passiv, danach aktiv zuhören. Da er die Fragestellung des Klienten anfangs erst langsam erschließen muss, besteht in diesem Stadium immer Asymmetrie zu Gunsten des Klienten. Denn auch bei ausgeprägter Feldkompetenz des Coachs muss sich dieser belehren lassen, um was es sich bei dem Klientenanliegen genau handelt. Am Ende der Rekonstruktion, wenn die „richtige“ Problemformulierung gefunden ist, stehen sich Coach und Klient symmetrisch gegenüber, denn nun gilt es im Dialog festzulegen, was im Weiteren genau bearbeitet werden soll. Bei der nun folgenden Arbeit muss der Interaktionsstil des Coachs je nach der angestrebten Wirkung zwischen den genannten Dimensionen variieren. Wenn es um eine Erweiterung von Deutungs- und Handlungsmustern geht, der Klient beispielsweise bestimmte Ressourcen von seinem Vorgesetzten zu erlangen sucht, wird der Coach zunächst wesentliche Parameter der Situation erfragen. Jetzt besteht wieder Asymmetrie zu Gunsten des Klienten. Wenn dann der Coach ein imaginatives Rollenspiel vorschlägt und mit dem Klienten durchführt, muss er wieder sehr variabel zwischen Direktivität und Non-Direktivität agieren. Das heißt, er schlägt direktiv eine bestimmte methodische Maßnahme vor und leitet den Klienten dann an. Im Verlauf einer solchen Sequenz muss der Coach aber immer wieder über große Strecken nur zuhören, d.h. nur den Ausführungen des Klienten folgen. Bei Übungs-zentrierten Sequenzen, wenn sich der Klient auf bestimmte Situationen vorbereiten möchte, wird der Coach prinzipiell direktiver agieren als wenn im gemeinsamen Dialog neue Deutungsmuster entwickelt werden. Bei der Umstrukturierung von Deutungs- und Handlungsmustern, wenn der Klient eine Verengung seiner Perspektiven oder Handlungsweisen überwinden will, ist der Coach allerdings meistens gefordert, relativ direktiv zu kommunizieren, denn gerade hier ist er ja als Feedback-Geber gefragt. Auch im Hinblick auf seine Authentizität sollte der Coach sehr variabel handeln. Denn das Postulat grenzenloser Ehrlichkeit kann im Coaching wie im sonstigen Leben zu Unhöflichkeit oder zu Verletzungen führen, die sich später nicht mehr auffangen lassen.
(5) Die Handhabung unterschiedlicher Coaching-Situationen
Seit einigen Jahren wird Coaching nicht nur mit einzelnen praktiziert, sondern auch in funktions- und hierarchiegleichen Gruppen- und gelegentlich sogar mit Teams.
In allen Coaching-Situationen muss der Coach diagnostizieren und handeln. Dabei wird er den zu diagnostizierenden Parametern, dem Kontext, den Beziehungen und dem Thema, mit einer phänomenologischen Grundhaltung begegnen und sich von diesen Phänomenen auch erlebnishaft berühren lassen. Er wird einerseits auf dem Hintergrund theoretischer Muster, andererseits auf dem Hintergrund seiner Alltagserfahrung deutend zu erschließen suchen, welche subjektive Bedeutung diesen situativen Parametern aus der Sicht des einzelnen Klienten zukommt. Er muss allerdings auch jeweils eine exzentrische Position gegenüber der Gesamtsituation einnehmen, um seine Rolle in der aktuellen Situation ebenfalls zu erfassen. Die Handlungen des Coachs zielen grundsätzlich auf einen intersubjektiven Dialog mit den Klienten sowie der Klienten untereinander. Der Coach sollte besonders sorgsam Kontextfaktoren zu erfassen suchen, denn sie färben nicht nur die Thematik im Coaching ein, sondern auch die Beziehung zum Coach sowie bei Mehrpersonen-Settings noch die Beziehungen der Klienten untereinander.
Coaching-Situationen lassen sich nach dem Grad ihrer Institutionalisierung und der Anzahl der Personen, die am Coaching teilnehmen, unterscheiden in Situationen mit geringer, mittlerer und hoher Institutionalisierung. Einen sehr niedrigen Institutionalisierungsgrad haben Situationen, in denen sich eine einzelne Führungskraft einen Coach aussucht und ihn auch bezahlt. Das ist eine grundsätzlich komfortable Situation (Kühl 2008). Den höchsten Grad an institutioneller Anbindung weisen demgegenüber Team-Coachings auf, bei denen der gesamte Kader eines Unternehmens etwa zum Zwecke der Strategieberatung (Wolff 2005) von einem einzigen Coach gleichzeitig beraten wird und die Firma das Coaching auch finanziert. In Coaching-Situationen mit einer geringen institutionellen Anbindung besteht auf Seiten von Coach und Klient die größte Freiheit im Hinblick auf die Gestaltung der Situation, der Wahl des Themas, der Preisgestaltung usw. Hier besteht auch die größte Nähe zwischen Coach und Klient. Solche Coachings sind oft eher „Personal“- oder „Life-Coachings“ (Buer & Schmidt-Lellek 2008), denn alle Elemente des Kontrakts werden hier nur zwischen Coach und Klient ausgehandelt. Bereits ein Einzel-Coaching, das vom Arbeitgeber des Klienten finanziert wird, impliziert einen höheren Institutionalisierungsgrad. Als „Dreiecks-Kontrakt“ ist es immer durch Ziele der Organisation des Klienten mitbestimmt, denen der Coach Rechnung zu tragen hat. In diesem Setting ist Coaching als „Executive-Coaching“ schon deutlich eine Maßnahme der Personalentwicklung, bei der schwerpunktmäßig die Funktionsfähigkeit des Klienten gefördert werden soll. „Personen-Entwicklung“ (Neuberger 1994) im Sinne der Entwicklung individueller Potentiale ist im Kontrakt zwischen dem Coach und der jeweiligen Organisation dann eher nicht vorgesehen.
3.4. Die Praxeologie
Entsprechend der Komplexität von Coaching, seinen möglichen Settings und besonders seinen potentiellen Themen muss ein Handlungsmodell fürs Coaching über ein breites Methoden-Universum verfügen. Bei einem Integrationsmodell sind aber alle methodischen Maßnahmen und alle prozessualen Anweisungen auch wieder an seinen anthropologischen und erkenntnistheoretischen Setzungen zu messen.
(1) Die Methodik
Die Methodik eines Coachingmodells sollte drei Gruppen von Maßnahmen enthalten: Gesprächsführung, erlebnis- und handlungsorientierte Arbeitsformen, Medien.
Jede Beratungsform startet mit Formen professioneller Gesprächsführung. Im Coaching beziehen sich etliche Autoren (DBVC 2007) auf Gesprächsformen wie sie als „Prozessberatung“ von Edgar Schein (2003) schon seit etlichen Jahren propagiert werden. Dieser Autor knüpft an Formen der Gesprächsführung an, wie sie ursprünglich von Rogers angestoßen und dann im deutschen Sprachraum von Tausch & Tausch (1990) ausgearbeitet wurden. In diesen Gesprächen wird der Klient immer als Subjekt angesprochen, dessen Deutungsmuster der Professionelle zunächst konzentriert anhören soll und im Weiteren durch „aktives Zuhören“ zu präzisieren hat. Das Meta-Modell dieser Form der Gesprächsführung ist kompatibel mit den Prämissen des oben beschriebenen Meta-Modells.
Zur vertieften Auseinandersetzung mit dem beruflich Erlebten und besonders zur Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Handlungsmustern ist es dann aber sinnvoll, erlebnis- und handlungsorientierte Arbeitsformen aus dramatherapeutischen Verfahren wie der Gestalttherapie, dem Psychodrama usw. einzusetzen. Diese Verfahren sind in ihren anthropologischen und erkenntnistheoretischen Prämissen kompatibel mit der Gesprächsführung, die bei Rogers ihren Ausgang nahm. Sie sind aber auch untereinander kompatibel. Auch in diesen Verfahren wird der Mensch grundsätzlich als Subjekt begriffen, und auch in diesen Verfahren wird ihm lebenslanges Lernen unterstellt. Manipulative Strategien, die den Menschen objektivieren, sind auch hier nicht vorgesehen (Schreyögg 2004). Ansätze aus der „Selbstmanagement-Therapie“ von Kanfer et al. (1996) sind allerdings durchaus selektiv zu integrieren. Im Gegensatz zur reinen Gesprächsführung werden erlebnis- und handlungsorientierte Ansätze dem Menschen auch als Leib-Subjekt gerecht, denn hier geht es immer um Arbeitsformen, die den Menschen nicht nur mit seinen Emotionen ansprechen, sondern auch in seinen leiblichen Möglichkeiten. So gelingt es durch imaginative Verfahren das im Beruf Erlebte gegenwärtig zu setzen und im Coaching noch einmal neu auszudeuten. Mit diesen Arbeitsformen gelingt es nicht nur Vergangenes, sondern auch Zukünftiges gegenwärtig zu setzen. Das ist beispielsweise wichtig, wenn eine Führungskraft im Coaching neue Handlungsmuster einüben will. Dann kann sie der Coach animieren, aus ihrem vorhandenen Repertoire das aktuell passendste für eine neue Situation zu kultivieren. Oder er kann mit Klienten ganz neue Handlungsmuster erarbeiten.
Viele Fragestellungen im Coaching weisen einen so hohen Grad an Komplexität auf, dass ein Coach, der auf rein sprachlichen Arbeitsformen besteht, schnell überfordert ist. Aus diesem Grund ist es sinnvoll unterschiedliche Medien wie Magnetplättchen, Bausteine, Stifte, Flipcharts usw. zu nutzen, um eine aktuelle Fragestellung transparent, d.h. verstehbar zu machen. Über diese pragmatische Bedeutung hinaus wohnt manchen dieser Medien wie etwa Kasperfiguren, Stofftieren, selbst gebauten Masken usw. die Aufforderung zur kreativen Gestaltung inne, so dass sie vielfach bei den Klienten neue Impulse zu wecken vermögen (Schreyögg 2003). Daneben sind auch immer wieder technische Medien wie Audio- und Videogeräte in einer allerdings menschlich sorgsamen Weise für die Förderung der Klienten zu nutzen.
(2) Prozessuale Anweisungen zur Methodenanwendung
Einzelne methodische Maßnahmen sollten allerdings nicht ohne einen prozessualen Leitfaden angewandte werden. Zu ihrer Einordnung bietet sich das psychodramatische Prozessmodell an mit seinen drei Phasen:
Das erste Stadium, die „Anwärmphase“ dient dazu, den Klienten für eine Methodenanwendung überhaupt erst bereit zu machen. Das ist die erste Phase von Coaching-Sitzungen, in denen Klienten ihr Anliegen erstmalig vorstellen. Der Coach gibt mit Hilfe von Formen professioneller Gesprächsführung im Dialog Unterstützung, eine bündige Problemformulierung zu finden, die dann die weitere Methodenwahl bestimmt. Wenn der Klient beispielsweise in der ersten Phase zu der Problemformulierung kommt: „Ich möchte mit dem Mitarbeiter X ein ernstes Kritikgespräch führen, ich weiß aber noch nicht, wie das gehen kann“, wird der Coach ein imaginatives Rollenspiel vorschlagen, um dieses Gespräch vorzubereiten. Wenn sich im ersten Gespräch allerdings als Problemformulierung herausschält, dass der Klient etwa als Newcomer in einer Abteilung ein Kritikgespräch notwendig findet, sich aber noch scheut, eines zu starten, wird der Coach vielleicht lieber mit Bausteinen oder mit dem Flipchart die Gesamtsituation, in der die Führungskraft steht, erkunden und dann dessen Gefühle, Einstellungen, Wahrnehmungen usw. in dieser Situation ausführlich thematisieren.
Wenn der Coach eine methodische Maßnahme vorschlägt und der Klient mit der Wahl einverstanden ist, beginnt die Aktionsphase. Wenn der Klient üben möchte, wie er mit seinem Mitarbeiter am besten ein Kritikgespräch machen kann, das einer aktuellen Situation angemessen ist und auch ihm selbst entspricht, wird der Coach den Klienten anleiten, den Mitarbeiter auf einem leeren Stuhl zu imaginieren, sodann zu der imaginierten Person zu sprechen. Danach ist es sinnvoll, den Klienten zu einem Rollentausch zu animieren, bei dem er nun als Mitarbeiter auf dem vormals leeren Stuhl versuchen kann wahrzunehmen, wie es dem Mitarbeiter in dieser Sequenz geht. Diese Rollentausch-Sequenz dauert so lange, bis der Klient eine für sich befriedigende Form der Gesprächsführung gefunden hat.
Nach einer solchen Aktion ist es dann die Aufgabe des Coachs, in einer so genannten Integrationsphase die vom Klienten neu entwickelten Deutungs- und/oder Handlungsmuster in dessen gesamtes Repertoire integrieren zu helfen. Zu diesem Zweck kann der Coach in unserem Beispiel fragen, wie der Klient bislang mit seiner Kritik umgegangen ist, wie er früher anderen Mitarbeitern gegenüber seinen Unmut geäußert hat usw.
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Dr. Astrid Schreyögg, Breisgauer Str. 29., 14129 Berlin
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Web: www.schreyoegg.de
Dipl.-Psych.; nach Tätigkeit in der Marktforschung mehr als 10 Jahre in leitenden Positionen im Sozialen Dienstleistungsbereich. Psychotherapeutische Ausbildungen in Gesprächs-, Gestalt-, Körpertherapie; Approbation als Psychologische Psychotherapeutin; seit 1985 freiberuflich tätig primär als Coach und Supervisorin; Wiss. Leitung an der Deutschen Psychologen Akademie des BDP für Supervision und Coaching; Lehr- und Beratungsaufträge im In- und Ausland (Österreich, Schweiz, Italien, Spanien) an Hochschulen und freien Instituten; Mitglied in verschiedenen Verbänden (BDP, Verband zur Förderung der Wirtschaftspsychologie (Wips), DGSv, DBVC, Academy of Management); Autorin von Lehrbüchern zu Supervision und Coaching; zahlreiche Publikationen in Sammelbänden und Fachzeitschriften; Herausgeberin der Zeitschrift OSC (Organisationsberatung, Supervision, Coaching) im VS-Verlag für Sozialwissenschaften.