Familienkonstellationen

Erschienen in: OSC 1/04 (11), S. 53-65)


Die Bedeutung von Familienkonstellationen im Coaching

1. Einführung

„Unser Herbert“, berichtet Frau Hübner, Mutter von drei Söhnen, „war immer schon Spielführer. Der hat seine kleinen Brüder überall mit hingeschleppt, hat im Hof jeweils den Ton angegeben, was gespielt werden soll, und später im Tischtennisclub wurde er sogar von seinen zum Teil sehr viel älteren Vereinskameraden zum Mannschaftsführer gewählt. Kein Wunder, dass heute im Beruf so viele auf ihn hören. Er wurde gleich nach seinem Studium die rechte Hand seines Chefs und wenige Jahre später dessen Teilhaber. Der Jüngste aber, unser Günther“, meint Frau Hübner sorgenvoll, „ist im Moment eigentlich nicht gut dran. Der hat sich gerade mit seinem Boss verkracht. Günther hatte immer so viele Ideen, mit denen er nicht landen konnte. Deswegen hat ihn die Wut gepackt, so dass er einfach kündigte. Dabei ist er aber nicht etwa verzagt. Er meint, dass er dann eben seine Ideen in einer anderen Firma unterbringen wird.“

Hinter dieser Aussage, die zunächst nach „einfachem mütterlichem Gerede“ klingt, verbirgt sich eine kompakte Sozialisationstheorie. Sie besagt, dass die Position, die jemand in der Geschwisterkonstellation seiner Herkunftsfamilie einnahm, für seine spätere Rolle im Beruf eine Prädiktorfunktion hat. Diesen Zusammenhang möchte ich im vorliegenden Beitrag anhand des Konzeptes der „Familienkonstellationen“ von Walter Toman (2002) darstellen und zum Coaching in Beziehung setzen.

• In einem ersten Schritt werde ich die Bedeutung der Familie als Sozialisationsagentur für das spätere Leben beleuchten.
• Danach stelle ich die Theorie der Familienkonstellationen in ihren Grundzügen dar.
• Daran anschließend thematisiere ich die Verwendbarkeit des Ansatzes fürs Coaching anhand einiger Beispiele.       

2. Die Familie als Sozialisationsagentur

Heute wird kaum jemand bestreiten wollen, dass menschliche Entwicklung aus einer komplexen Interaktion zwischen genetisch bedingten Anlagen und Umwelteinflüssen resultiert. Gene legen nie genau fest, wie wir uns im weiteren Leben verhalten. Wir werden aber mit einer Vielzahl von Entwicklungsmöglichkeiten geboren, die anschließend von der Umwelt, in der wir leben, ausgeformt werden. Vor allem die Muster menschlichen Sozialverhaltens sind weder angeboren, noch ein für allemal fixiert. Durch Umwelteinflüsse können sie vielmehr laufend verändert werden. Und dieser durch die Umwelt beeinflusste Veränderungsprozess wird von Psychologen wie Soziologen laufend beforscht und als „Sozialisation“ bezeichnet.

Sozialisation erstreckt sich über das gesamte Leben. Im Verständnis moderner Autoren eicht sie bis ins Greisenalter hinein (Geulen 2001). Es lässt sich aber zeigen, dass es im Verlauf des Lebens besondere sensible Phasen  gibt. Dabei handelt es sich um Entwicklungsstadien, die für die weitere Sozialisation und damit für das gesamte spätere Leben eines Menschen von besonderer Bedeutung sind. Das gilt vor allem für die frühe Kindheit. So konnten  Bowlby (1951) und Spitz (1976) sogar empirisch belegen, dass Kinder, deren kognitive Reife etwa um den achten Lebensmonat herum gerade das Erkennen der zentralen Bezugspersonen zulässt, in eine schwere Depression verfallen, wenn diese Personen dauerhaft aus ihrem Leben verschwinden. In diesem Stadium beginnt sich nämlich das Kind an seine primäre Bezugspersonen emotional zu binden und über diese Bindung erste Bereitschaften zur Übernahme von Normen und Standards zu entwickeln. Wenn das Kind in genau dieser Epoche traumatisiert ist, bleibt die gesellschaftliche Integration fraglich, oder sie ist zumindest erschwert.

Nun wird zwar von allen Autoren, die mit Sozialisationsphänomenen befasst sind, von Cooley über Piaget bis Mead, keiner die Bedeutung kindlicher Entwicklungsstadien leugnen wollen (vgl. Geulen 2001). Die Psychoanalyse von Sigmund Freud und seinen Nachfolgern lieferte aber entscheidende Argumentationsfiguren, warum das früh Erfahrene so besonders durchschlagende Wirkungen hat. Hier wird postuliert, dass die Persönlichkeit des Menschen erst in sozialen Prozessen entsteht. Der hilflose und fern jeder Sozialität auf die Welt gekommene Säugling wird von seinen Bezugspersonen zunächst nur über die Befriedigung versus Nicht-Befriedigung seiner Bedürfnisse gesteuert. Mit fortschreitender Reifung erfährt aber das Kind seine Bezugspersonen als einmalige Menschen und bindet sich, wie eben Spitz (1976) und Bowlby (1951) zeigen konnten, je nach ihrem emotionalen Befriedigungswert mehr oder weniger intensiv an sie. Dieses Phänomen wurde von Anna Freud (1936) als „Soziabilisierung“ beschrieben. Das bedeutet, ab diesem Stadium, mit acht bis zwölf Monaten, ist das Kind bereit, sich von seinen Betreuern sozial prägen zu lassen. Ab jetzt entwickelt es im Sinne einer „mütterlicher Identifikation“ (Freud, A. ebd.) erste Bereitschaften zur Übernahme von Normen und Standards. Im Zuge weiterer Reifungsprozesse, wenn das Kind mit vier bis fünf Jahren Geschlechtsunterschiede wahrzunehmen lernt, beginnt es sich am gleichgeschlechtlichen Elternteil zu orientieren und diesen in besonderer Weise als Modell zu nutzen. Dabei handelt es sich um den von Sigmund Freud (1905) als „Identifikation in der ödipalen Phase“ beschriebenen Vorgang. Die ab diesem Stadium übernommenen Normen und Standards beinhalten auch geschlechtsspezifische Komponenten. So konnte etwa Nancy Chodorow (1978 zitiert nach Geulen 2001) zeigen, dass schon kleine Mädchen für die Übernahme einer „bemutternden“ Rolle sozialisiert werden. Durch die größere Nähe zur Mutter erhalten sie eben ein anderes „Rollentraining“ als die Jungen. Die Psychoanalyse nimmt also an, dass die ersten Beziehungen das Modell für weitere Sozialisationsprozesse bilden und bis zu einem gewissen Grad auch die Vorlage für alle späteren Sozialbeziehungen.

Diese frühen Beziehungspartner sind es dann auch, an denen der Mensch sein Handeln auszurichten lernt und in deren Augen er sich als spezifisches Individuum erstmalig spiegelt. So wird in der Psychoanalyse prinzipiell angenommen, dass Erfahrungen aus frühen Kontexten nachhaltiger auf das weitere menschliche Leben wirken als spätere. In der klassischen Psychoanalyse nach Freud (1905), der menschliche Entwicklung stark an das infantile Triebschicksal eines Menschen gekoppelt sah, handelt es sich um die ersten fünf bis sechs Lebensjahre. Bei späteren psychoanalytischen Autoren, besonders bei Eric Erikson (1964, 1966), werden weitere sensible Phasen angenommen. So sei dann wieder die Pubertät von besonderer Bedeutung für die Identitätsentwicklung eines Menschen, also ein Stadium von zwölf bis fünfzehn Jahren.  

Im Allgemeinen stellt die Familie den ersten sozialen Kontext dar, mit dem ein Kind konfrontiert ist. Und die Familienmitglieder sind die ersten Interaktionspartner, an denen das Kind sein Handeln ausrichtet und in deren Augen es sich zu sehen lernt. Freud und die Mehrzahl seiner Anhänger thematisierten zunächst nur die Interaktion zwischen Kindern und ihren Eltern als maßgeblich für das weitere soziale Leben. Erst Adler (1933) berichtete anhand seiner therapeutischen Praxis über die Bedeutung von Geschwisterbeziehungen. Es handelte sich dabei allerdings um „klinisch-psychologische Gelegenheitsbeobachtungen des Ältesten, des Zweitältesten, des Jüngsten und des Bruders vieler Schwestern“ (Toman 1965, 234). Seit den 20er Jahren befasste sich dann eine ganze Reihe amerikanischer Autoren in empirischen Arbeiten mit Altersrangpositionen in Geschwisterreihen und ihren psychologischen Auswirkungen, wie sich etwa Erstgeborene in ihrem Verhalten von nachfolgenden Geschwistern unterscheiden. In manchen dieser Untersuchungen wurden auch die Effekte von Verlusten thematisiert, wie sich etwa der Tod des Vaters oder der Mutter auf die weitere Entwicklung eines Menschen auswirkt  (vgl. Toman ebd., 235 f). Alle diese Untersuchungen, so aufschlussreich sie im Einzelnen sein mochten, wiesen aber gewisse Schwächen auf:

• Sie legten weder eine Systematik der Geschwisterbeziehungen zugrunde,
• noch eine Systematik der innerfamiliären Verluste.
• Auch die Verschränkung zwischen den Generationen im Hinblick auf Geschwisterbeziehungen und im Hinblick auf Verluste findet sich kaum.
• Außerdem zielten ihre Prognosen im Wesentlichen auf Kinder und Jungendliche, in Ausnahmefällen auf  Menschen mit Psychopathologien. Effekte bei „normalen“ erwachsenen Menschen wurden jedoch selten erfasst.   

3. Grundzüge der Theorie der Familienkonstellationen

Alle diese Schwächen versuchte der Wiener Psychoanalytiker und Professor für Psychologie, Walter Toman, in seinem zunächst in den USA erschienenen Werk, „Family Constellations“ von 1961, zu umgehen. Dabei scheint es sich um eine relativ zeitlose diagnostische Grundlage für menschliche Interaktions- und Systemphänomene zu handeln, denn im Jahr 2002 erlebte das Werk seine siebente überarbeitete Auflage im deutschsprachigen Raum als Taschenbuch unter dem Titel „Familienkonstellationen“.

Der Autor eröffnet die Debatte mit Feststellungen, dass jeder Mensch in eine mehr oder weniger intakte Familie hineingeboren wurde, dass in 9 von 10 Fällen die Familie bis zur Adolenzens der Kinder zusammen bleibt, dass in 5% aller Fälle die Kinder eine Trennung durch Scheidung oder Tod erleben, dass dies in 8 von 10 Fällen der Vater ist usw. Bereits an dieser Stelle wird deutlich, dass der Autor im Gegensatz zum üblichen, rein hermeneutischen Vorgehen seiner Psychoanalytikerkollegen, seine Aussagen möglichst umfassend durch statistisches Material abzusichern sucht. Die Wurzeln dieses Vorgehens liegen in seiner „doppelten wissenschaftlichen Herkunft“: Als Psychoanalytiker versuchte er eine Versöhnung mit dem naturwissenschaftlich orientierten Erbe des Wiener Psychologen Rohracher (1965), dessen Schüler er ursprünglich war. Dementsprechend basiert seine Theorie auf umfassenden empirischen Untersuchungen. Seit 1951 bis in die 80er Jahre hinein untersuchten er und seine Mitarbeiter mehrere tausend Familien. Obwohl der Autor immer wieder einschränkend bemerkt, dass

• andere Bedingungen wie etwa das Wohnumfeld oder die Peergroup stark modifizierende Wirkungen auf die Familienkonstellation haben, außerdem
• die statistisch gefundenen Ergebnisse für den Einzelfall nur begrenzte Aussagekraft beanspruchen könnten,

bestand das Ziel aller Forschungen darin, aus der jeweiligen Familienkonstellation eine prognostische Landkarte für das spätere private und berufliche Leben eines Menschen zu gewinnen. Toman selbst machte davon ausführlich Gebrauch, indem er sein Konzept Fallbesprechungen und Supervisionen in Kliniken wie Beratungsstellen zugrunde legte.   
         
Seine Theorie lässt sich in drei Bereiche untergliedern, die sich
• mit Geschwisterkonstellationen
• mit Personenverlusten und
• mit verschiedenen Beziehungstypen befassen.

3.1. Geschwisterkonstellationen

Geschwisterkonstellationen differenziert Toman nach zwei Gesichtspunkten:

• nach der Rangreihe und
• nach dem Geschlecht.

Da sich von „Geschwistern“ erst ab zwei Kindern in einer Familie sprechen lässt, entstehen auf diese Weise nach den Regeln der Kombinatorik acht grundlegende Konstellationen. Das sind vier weibliche und vier männliche Typen:

s (s)  die ältere Schwester einer jüngeren Schwester
(s) s  die jüngere Schwester einer älteren Schwester
s (b)  die ältere Schwester eines jüngeren Bruders
(b) s  die jüngere Schwester eines älteren Bruders

b (b)  der ältere Bruder eines jüngeren Bruders
(b) b  der jüngere Bruder eines älteren Bruders
b (s)  der ältere Bruder einer jüngeren Schwester
(s) b  der jüngere Bruder einer älteren Schwester

Ich habe sie hier gleich mit der von Toman vorgeschlagenen Schreibweise präsentiert. Danach steht die Person, von der gerade gesprochen wird, außerhalb der Klammer und ihre Geschwister sind innerhalb der Klammer aufgeführt. Demnach ist beispielsweise der älteste Bruder von zwei Schwestern und einem noch jüngeren Bruder folgendermaßen darzustellen: b(ssb).

Zu den Grundtypen eruierte Toman regelrechte Portraits. Er versteht diese Typen ähnlich Horst-Eberhardt Richter (1969) als  Rollen. Die Eltern, Geschwister und andere Familienmitglieder projizieren unbewusst auf die Ältesten bzw. die Jüngsten ganz bestimmte Persönlichkeitsmerkmale als Älteste oder Jüngste, denen diese dann in ihrem Verhalten Rechnung tragen. Auf diese Weise bilden die betreffenden Kinder von früh an eine Identität als Älteste oder Jüngste heraus. Durch die tagtäglichen Interaktionen in der Familie üben sie dann bestimmte Handlungsmuster ein, die sie zumindest im Ansatz auch später zu realisieren suchen. Ohne hier auf besondere Details eingehen zu wollen, dazu sei auf den Originaltext verwiesen, lassen sich aber für unseren Zusammenhang, nämlich für berufliche Kontexte, zwei basale Hypothesen formulieren:

(1) Älteste Geschwister, so genannte Senioren oder Seniorinnen, neigen auch später zur Dominanz, jüngere dagegen haben eher gelernt sich unterzuordnen. So sind älteste Geschwister später eher bereit und in der Lage Führungspositionen zu übernehmen als jüngere.

(2) Geschwister, die nur unter Geschlechtsgenossinnen oder  –genossen aufgewachsen sind, neigen dazu, auch später Geschlechtsgenossen im Beruf zu präferieren. Das heißt beispielsweise, dass ein älterer Bruder von jüngeren Schwestern mit der Führung von Frauen leichter zu Recht kommen wird als ein älterer Bruder von Brüdern. Dieser wird allerdings wahrscheinlich in Männermilieus erfolgreicher führen können als der Bruder von Schwestern.         

Neben den oben beschriebenen Grundtypen gibt es selbstverständlich auch mittlere Geschwister, Einzelkinder und Zwillinge. Über mittlere Geschwister lässt sich sagen, dass sie je nach dem Altersabstand zu den anderen Geschwistern häufig eher Grundkonstellationen zuzuordnen sind. So wird sich etwa die mittlere Schwester von einem älteren Bruder und einer jüngeren Schwester (b) s (s) eher als jüngere Schwester eines Bruders ausprägen, wenn der Altersabstand zum älteren Bruder nur zwei Jahre, der Abstand zur jüngeren Schwester dagegen 10 Jahre ist. Sie war dann bis zur Geburt der Schwester immerhin 10 Jahre ihres Lebens die jüngere Schwester eines Bruders. Schwieriger stellen sich gleichgeschlechtliche Konstellationen mit einem nur geringen Abstand dar wie etwa die folgende: (s)s(s). Wenn diese mittlere Schwester von zwei Schwestern zur älteren und zur jüngeren jeweils nur einen Abstand von zwei Jahren hat, wird sie in ihrer Kindheit möglicherweise Mühe haben, ihre Identität zwischen der Ältesten und der Jüngsten zu wahren und zu präzisieren. Vielleicht ist sie dann auch später immer wieder auf der Hut, übergangen zu werden. Im besseren Fall ist sie besonders gut in der Lage, sich im Sinne von Dominanz versus Unterordnung in soziale Systeme zu integrieren. Gerade bei Prognosen für mittlere Geschwister ist es wichtig, die familiäre Gesamtkonstellation zu rekonstruieren.

Bei Einzelkindern geht Toman davon aus, dass sie meistens von klein auf daran gewöhnt sind, im Mittelpunkt zu stehen und auf irgendeine Weise bedeutend zu sein. Außerdem neigen sie tendenziell dazu, die Geschwisterkonstellation des gleichgeschlechtlichen Elternteils zu übernehmen. So würde ein weibliches Einzelkind E mit einer Mutter, die die älteste Schwester einer Schwester war s(s), auch eher wie eine ältere Schwester von Schwestern in Erscheinung treten. Wenn allerdings auch die Mutter schon Einzelkind war, würde Toman annehmen, dass bei dieser Frau Merkmale des Einzelkindes besonders stark ausgeprägt sind.

Bei Zwillingen ist zu unterscheiden, ob es sich um ein- oder zweieiige handelt. Eineiige Zwillinge sind nicht nur zur gleichen Zeit geboren, sie haben jeweils auch den gleichen Entwicklungsstand. Deshalb sind sie meistens extrem stark aufeinander bezogen und haben es auch in späteren Jahren schwer, sich voneinander abzulösen. Bei zweieiigen Zwillingen sind die Beziehungen nicht ganz so dicht, besonders, wenn es sich um einen Jungen und ein Mädchen handelt. Die Kinder neigen dann in der Regel dazu, sich mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil zu identifizieren und damit auch Persönlichkeitsmerkmale von dessen Geschwisterkonstellation zu übernehmen.

3.2. Personenverluste

Nach Toman spielen Personenverluste bei der Analyse von Familienkonstellationen eine besondere Rolle. Als solche werden Verluste durch Tod, Scheidung oder andere Formen der Trennung verstanden. Der Verlustträger erlebt nämlich durch den Verlust einer emotional besetzten Person auch in der Beziehung zu anderen Personen seines Umfeldes eine gewisse Verunsicherung. Zunächst unterscheidet Toman hier, ob es sich um einen permanenten oder um einen temporären Verlust handelt, also um einen dauerhaften oder einen vorübergehenden. Die psychische Bedeutsamkeit von Verlusten versucht der Autor nach einer Reihe von Kriterien zu bestimmen (Toman 2002, 48). Sie werden entsprechend seinen Befunden umso schwerwiegender erlebt,

a. je kürzer sie zurückliegen,
b. je früher sie im Leben einer Person eingetreten sind,
c. je älter die verlorene Person ist (im Verhältnis zum ältesten Familienmitglied),
d. je länger die Person mit der verlorenen Person zusammen gelebt hat,
e. je kleiner die Familie ist,
f. je mehr das Gleichgewicht der Geschlechter in der Familie dadurch beeinträchtigt wird,
g. je länger die verbliebenen Familienmitglieder brauchen, um einen Ersatz für die verlorene Person zu beschaffen,
h. je größer die Zahl der Verluste und je schwerer die Verluste, die bereits vorher eingetreten sind.

Bis auf g. gelten alle Kriterien für dauerhafte wie auch für vorübergehende Verluste. Kriterium c. bedeutet, dass der Verlust eines Elternteils erheblich schwerer wiegt als der eines Geschwisters. Und dieser wiederum wiegt bei einem älteren schwerer als bei einem jüngeren. Das bedeutet insgesamt, je länger ein Mensch mit einem anderen zusammengelebt hat, als desto schmerzlicher wird dessen Verlust erlebt. Sehr bedeutsam ist für unseren Zusammenhang auch der Punkt f. Wenn beispielsweise in einer Familie mit drei Töchtern die jeweils im Abstand von zwei Jahren geboren wurden, der Vater kurz nach der Geburt der dritten Tochter ums Leben kommt und die Mutter keine neue Partnerbeziehung eingeht, bleibt das ein reiner Frauenhaushalt. Das bedingt für die Sozialisation der Töchter ein Defizit, dass sie nämlich zumindest im engen Familienverbund kein männliches Familienmitglied und natürlich auch keine heterosexuelle Beziehung aus nächster Nähe erleben konnten. Bei ihren späteren Interaktionen können sie dann jedenfalls nicht auf tief vertraute Muster gegenüber Männern zurückgreifen, was diesen gegenüber erhöhte Ängstlichkeit oder erhöhte Distanzlosigkeit erzeugen kann.

Wie Toman (2002, 45) anmerkt, ist es ohnedies in 8 von 10 Fällen der Vater, der durch Tod, noch häufiger allerdings durch Scheidung, die Familie verlässt. Im Todesfall wird der Vater meistens positiv überhöht, so dass er für seine Kinder gar nicht selten als positives Modell imaginativ überdauert. Im Vorfeld einer Scheidung und auch im weiteren familiären Verlauf wird aber der Vater häufig äußerst negativ attribuiert, so dass kritizistische Zerrbilder von ihm gebildet werden. Im Sinne der Familienkonstellations-Theorie hat dieses Faktum für die spätere Berufstätigkeit der „verlassenen Kinder“ eine ganz erhebliche Bedeutung: Autoritäten ziehen, selbst wenn sie weiblichen Geschlechts sind, in den meisten Fällen Vaterübertragungen auf sich. Wenn die Vaterbeziehung der unterstellten Mitarbeiter ausgeglichen und befriedigend war, bringen sie auch ihrem Vorgesetzten gegenüber eher eine vertrauensvolle Haltung entgegen. Dieser wird dann mit größerer Wahrscheinlichkeit gleichfalls positiv reagieren. Wenn die Vaterbeziehung dagegen eine Enttäuschung war, wird auch diese Erwartung als negative Übertragung an den Vorgesetzten herangetragen. Solche Beziehungen gestalten sich - meistens allerdings verdeckt - als Misstrauensbeziehungen. Umgekehrt bildet eine gelungene Vaterbeziehung häufig die Basis für gelingende Führungspositionen. Und  eine enttäuschende Vaterbeziehung ist vielfach die Basis dafür, dass die Übernahme einer Führungsposition misslingt bzw. sich schwierig gestaltet.        

3.3. Beziehungen

Beziehungsphänomene differenziert Toman ähnlich Watzlawik et al (1969, 68 f) in „Komplementär“- und „Identifikationsbeziehungen“.

(1) Komplementärbeziehungen

Im Sinne des so genannten „Duplikationstheorem“ kann Toman (2002, 81) durch vielfältiges Datenmaterial belegen, dass neu angebahnte Beziehungen umso erfolgreicher und dauerhafter sind, je ähnlicher sie früheren und frühesten sozialen Erfahrungen der Betreffenden sind. Das bedeutet vor allem für Partnerbeziehungen, dass sie umso haltbarer sind, je mehr die jeweiligen Partner ihre frühere Geschwisterkonstellation in der neuen Beziehung wieder finden. So erweisen sich Partnerbeziehungen eines älteren Bruders von einer jüngeren Schwester b(s) mit einer jüngeren Schwester eines älteren Bruders (b)s als ausgesprochen haltbar,

• weil jeder der beiden sich schon in der Familie an das Zusammenleben mit einer Person des anderen Geschlechts gewöhnen konnte. Sie haben also nach Toman (2002, 87 ff) keinen „Geschlechtskonflikt“.
 
• Außerdem übt der ältere Bruder auch später wie selbstverständlich Dominanz aus, was für die jüngere Schwester als Juniorin durchaus akzeptabel ist. So haben sie also auch keinen „Rangkonflikt.“.

Die prognostisch ungünstigste Partnerbeziehung wäre demgegenüber eine, wo die Frau als älteste Schwester einer Schwester s (s) sich mit dem älteren Bruder eines Bruders b (b) liiert. Beide sind durch ihre Kindheit nicht gewöhnt, mit Personen des anderen Geschlechts in einem Familieverband zu leben. Sie können sich also nicht spontan in den anderen einfühlen oder seine heimlichen Wünsche erfassen So haben sie nach Toman einen „Geschlechtskonflikt“. Außerdem ist jeder von beiden von früh an gewöhnt zu dominieren, weshalb sie um die Dominanz in der Beziehung rangeln. Sie haben nach Toman also auch einen „Rangkonflikt“. Es sei allerdings bemerkt, dass Paare, die dauerhaft in solchen Konstellationen leben, meistens eine Vielzahl gemeinsamer Interessen entwickelt haben, die sie dann jenseits ihrer Geschwisterkonstellation zusammenhalten.

Was ich hier gerade für Partnerbeziehungen angesprochen habe, gilt bis zu einem gewissen Grad auch für berufliche Beziehungen. So wird sich der jüngere Bruder einer Schwester (s) b wahrscheinlich eher von einer älteren Schwester eines Bruders s (b) führen lassen, als von der älteren Schwester einer Schwester s (s). Die ältere Schwester des Bruders s(b) hat nämlich aller Voraussicht nach mehr Verständnis für die spezifischen Extravaganzen eines männlichen Juniors als die ältere Schwester einer Schwester s(s). Diese ist eher gewöhnt „kleine Prinzessinnen zu hüten als kleine Prinzen.“

(2) Identifikationsbeziehungen

Den anderen Beziehungstyp nennt Toman  „Identifikationsbeziehungen“. Hier geht es nicht um Ergänzung sondern um Ähnlichkeit. Dabei handelt es sich um narzisstische Wahlen: Jeder liebt sich im anderen selbst.  Diesen Typ finden wir bevorzugt bei gleichgeschlechtlichen Personen. So lässt sich beobachten, dass ältere Brüder von Brüdern b(b) als Vertrauensperson häufig auch wieder ältere Brüder von Brüdern b(b) aufsuchen. Oder jüngere Schwestern von Schwestern (s)s präferieren als Freundinnen vielfach auch wieder jüngere Schwestern von Schwestern (s)s. Toman zeigt außerdem, dass sich die Beziehungen zwischen Vater/Sohn sowie Mutter/Tochter ebenfalls nach dem Ausmaß der Identifikation positiv versus negativ gestalten. So wird ein Vater, der als jüngerer Bruder einer Schwester (s)b aufgewachsen ist, einen Sohn, der ebenfalls als jüngerer Bruder einer Schwester ((s)b aufwächst, leichter akzeptieren, als ein Vater der ein älterer Bruder von mehreren Brüdern ist b(bb). Sein Sohn wird ihm möglicherweise als „verzärtelter Bubi“ fremd bleiben. 

Auch bei Arbeitsbeziehungen begegnen uns positive Identifikationsbeziehungen. So können Kooperationen zwischen zwei älteren Brüdern von Brüdern (b(b) + b(b) in Pionier- also Aufbaustadien von Organisationen außerordentlich fruchtbar sein. Jeder findet im anderen die an sich selbst realisierte Dominanz und bejaht sie im anderen. Ähnliches lässt sich auch immer wieder bei älteren Schwestern von Schwestern beobachten s(b) + s (b). In der etwas „kernigen“ Dominanz respektiert sich jede der beiden in der anderen.

4. Die Verwendbarkeit der Familienkonstellationstheorie fürs Coaching

Im Coaching nutze ich den Ansatz von Toman vorrangig für zwei Anlässe,

• für die Rekonstruktion und Bearbeitung von Konflikten und
• für Prognosen bzw. für Anregungen bei der Karriereberatung.

4.1. Die Anwendung beim Konfliktcoaching

Viele Konflikte, die als „Führungsprobleme“ beschrieben werden, lassen sich bei genauerer Rekonstruktion auf  Komplikationen aus der familiären Sozialisation zurückführen.

(1) Heute sind besonders häufig Führungsprobleme zu beobachten, die aus Unverträglichkeiten mit Eltern resultieren. Bei der Generation der heute 40- bis 60jährigen besteht ohnedies eine historisch bedingte Ambivalenz gegenüber der Übernahme von Vorgesetztenpositionen. Diese Ambivalenz verschärft sich um ein Vielfaches, wenn der eigene Vater überwiegend als fordernde und vielleicht sogar als strafende Instanz mit sadistischen Neigungen erlebt wurde. Das geschieht gar nicht selten, wenn Väter als jüngere Brüder von Brüdern ((b)b mit ihren ältesten Söhnen, falls diese ältere Brüder von Brüdern sind (b(b)  laufend rivalisieren. Dem Sohn wird dann im Sinne einer Geschwisterübertragung das heimgezahlt, was dem realen älteren Bruder gegenüber nie angetan werden konnte, weil der Bruder im Gegensatz zum sehr viel jüngeren Sohn vielleicht dauerhaft überlegen blieb. Und nun wird am Sohn die alte Frustration ausagiert. Bei Führungskräften mit solchen Vaterbeziehungen besteht meistens die Idee, sie müssten in deutlichem Kontrast zum Vater ihren unterstellten Mitarbeitern prinzipiell als Freund oder Kumpel begegnen. Sie verbinden damit  die Hoffnung, dass diese dann dauerhaft ihre Aufgaben optimal erfüllen. Wenn, was allzu häufig geschieht, diese Strategie nicht aufgeht, sind solche Vorgesetzten vollkommen hilflos. Dann ist es sinnvoll, ihnen den beschriebenen Zusammenhang erlebbar zu machen und anhand konkreter Situationen einzuüben, wie sie langsam die Rolle eines formal fordernden, aber menschlich durchaus konstruktiven Vorgesetzten realisieren können. Dies sollte in den ersten Arbeitssequenzen in kontrastierender Abgrenzung zum biologischen Vater geschehen. Im weiteren Verlauf erlebt der Coaching-Klient nach mehreren Rollentauschen meistens schon selbst, dass er in den Augen seiner Mitarbeiter durch Akzentuierung  seiner formalen Rolle als Vorgesetzter eher an respektvoller Akzeptanz gewinnt.
 
(2) Viele andere Führungsprobleme ranken sich um Geschwisterbeziehungen. Die wahrscheinlich häufigsten Konflikte zwischen Vorgesetzten und unterstellten Mitarbeitern konstellieren sich als symmetrische Probleme, d.h. als Rivalitätskonflikte. Das geschieht häufig, wenn beide in ihren Familien Senioren waren und nun jeder die Vorrangstellung im Beruf beansprucht. Dann ist es nach einer Rekonstruktion im Coaching sinnvoll, unter Berücksichtigung der formalen Konstellation Möglichkeiten von Komplementarität zu ermitteln. Dabei kann es sinnvoll sein, dass der oder die Vorgesetzte ihre formale Vorrangstellung in der Weise nutzt, dass sie die Dominanzansprüche des Mitarbeiters kanalisiert. Dann sollte sie die Stärken ihres Mitarbeiters genauer erkunden und ihm in speziellen Bereichen ein Spezialistentum als „Dominanzbühne“ zugestehen. Problematisch können aber auch ursprünglich komplementäre Beziehungen werden. So geschieht es gar nicht selten, dass ein älterer Vorgesetzter, der als jüngerer Bruder in einer längeren Geschwisterreiche (sbsb)b aufgewachsen ist, einen neuen Mitarbeiter anheuert, der älterer Bruder in einer Geschwisterreihe ist b(sbs) ist. Zunächst versteht er sich mit diesem im Sinne von Komplementarität vielleicht ganz wunderbar. Nach einiger Zeit jedoch, wenn sich die Komplementarität unbemerkt vertieft, erlebt der Vorgesetzte zunehmendes Unbehagen. In der  Rekonstruktion im Coaching stellt sich dann vielleicht heraus, dass er in der Interaktion mit dem Mitarbeiter unbemerkt in eine Juniorenrolle regrediert ist, die mit seiner formalen Position und seinem Selbstverständnis in dieser heftig  kollidiert. Dann besteht auch wieder der erste Schritt im Coaching darin, die aktuelle gefühlsmäßige Konstellation aufzudecken, der zweite Schritt alternative Muster einzuüben. In diesem Fall wird es sinnvoll sein, den Klienten in seinen formalen Rollenmustern zu stärken ohne den Mitarbeiter unnötig zu frustrieren. Hier ist es besonders sinnvoll, anhand imaginierter Interaktionssequenzen mit dem Mitarbeiter neue Sprach- und Handlungsmuster zu erproben, so dass der Vorgesetzte langsam wieder formal adäquatere Beziehungsformen einsteuert.

(3) Manche Komplikationen im Führungsgeschehen resultieren aus frühen Verlusten. So stellte sich bei einer weiblichen Führungskraft aus der Personalabteilung einer Firma heraus, dass sie zwar laufend plante, vermehrt Aufgaben an ihre Mitarbeiter zu delegieren, dann aber doch jeweils viel zu viel selbst erledigte. Bei einer eingehenden Rekonstruktion, die auch biographische Anteile enthielt,  stellte sich heraus, dass sie im Alter von sieben Jahren einen drei-jährigen Bruder durch einen Unfall verloren hatte. Zwar war sie bei dem Unglück nicht direkt anwesend, in ihren Träumen quälte sie aber häufig die Frage, ob sie nicht doch  etwas versäumt hatte, ob sie den Bruder, den sie oft vom Kindergarten abgeholt hatte, nicht auch dieses Mal hätte begleiten müssen. Dieses Thema war auch bestimmend für ihre Schwäche beim Delegieren. Sie hatte immer wieder die Phantasie, dass die Dinge nur durch ihre unmittelbare Beteiligung „richtig sicher“ erledigt würden.

4.2. Die Anwendung bei der Karriereberatung

In der Karriereberatung ergeben Analysen mit Hilfe der Familienkonstellationstheorie  häufig Anregungen und Ermutigungen, in welche Richtung sich der oder die Betreffende orientieren könnte.

(1) Etliche dieser Fragestellungen haben mit dem Rang in der Geschwisterreihe zu tun. So fragte ein sehr erfahrener Journalist, der einen Stellenwechsel vorbereitete, welche von zwei Stellen er am besten übernehmen solle. Bei der einen Position handelte es sich um die überdurchschnittlich gut dotierte Stelle als  Geschäftsführer von einem renommierten Verband. In diesem bestanden allerdings gerade heftige Flügelkämpfe, und es war zu erwarten, dass er sich in Zukunft ausgesprochen wendig verhalten müsste, ohne anzuecken oder einseitig Partei zu ergreifen. Die andere Position wäre die sehr viel schlechter bezahlte Leitung in einem Journalistenbüro mit einigen freundlichen  Mitarbeitern aber fachlich etwas einseitigen Anforderungen. Im ersten Fall, den er eigentlich präferierte, würde er aber eine extreme Wendigkeit zwischen Über- und Unterordnung benötigen, im zweiten wäre er in einer unbestrittenen aber etwas „langweiligen“ Leitungsposition, wie er meinte. Im Verlauf einer umfassenden Rekonstruktion seiner bisherigen Arbeitsgeschichte kamen auch seine Stellung in der Familie und damit seine Geschwisterreihe zur Sprache. In einem Pfarrhaushalt aufgewachsen war er als mittlerer Bruder von zwei älteren Geschwistern, einer Schwester und einem Bruder, und drei jüngeren Geschwistern, einem Bruder und zwei Schwestern, jeweils in der Rolle eines Vermittlers zwischen den älteren und den jüngeren Geschwistern. Seine Position stellte sich folgendermaßen dar: (sb)b(sbs). Während er von seiner „Vermittlungsarbeit“ in der Familie erzählte, fiel ihm plötzlich ein, dass in dem Verband ein Generationenkonflikt bestand zwischen einigen Vorständen und den meisten Mitgliedern. „Irgendwie ist mir diese Art von Konflikten vertraut, „ meinte er zufrieden. „Als Geschäftsführer stehe ich auch zwischen Vorstand und den Mitgliedern.“ Nach einigen weiteren Überlegungen entschied er sich, die Stelle in dem Verband anzunehmen. „An solchem Gerangel habe ich Spaß“, meinte er, „und dass ich dabei noch gutes Geld verdienen werde, finde ich umso besser.“  

(2) Viele andere Fragestellungen in der Karriereberatung ranken sich um Geschlechterverhältnisse. Häufig geht es nämlich in der Karriereberatung oder –planung um Fragen, wie aussichtsreich Führungsarbeit für einen Mann in Frauenmilieus, und für eine Frau in den Milieus von Männern ist. Als grobe Orientierung lässt sich hier sagen, dass männliche Führungskräfte, die ältere oder jüngere Schwestern hatten, in Frauenmilieus wie etwa dem Krankenpflegebereich oder der Sozialpädagogik, von ihren Mitarbeitern aller Voraussicht nach leichter akzeptiert werden, als wenn sie nur Brüder hatten. Ein Mann, der in seiner Sozialisation erlebt hat, wie Frauen Konflikte austragen oder welche Vorgänge besondere Gefühle von Kränkung bei ihnen hervorrufen, wird solchen Phänomenen in seinem Führungshandeln intuitiv Rechnung tragen. Vergleichbares gilt für Frauen, die unter Männern aufgewachsen sind. Die ältere Schwester von Brüdern s(bb) wird aller Voraussicht nach eine Führungsposition in männlichen Milieus mit einer gewissen Selbstverständlichkeit bekleiden. Und eine jüngere Schwester von Brüdern (bb)s wird in Männermilieus möglicherweise besonders beliebt und erfolgreich sein, weil sie männlichen Belangen ganz geschmeidig Rechnung zu tragen weiß. So gelang es einer jungen, bislang ausgesprochen erfolgreichen Betriebswirtin, die sich aber durch den Konkurs ihrer Firma ein neues Betätigungsfeld suchen musste, sehr schnell zu einer überaus geschätzten Mitarbeiterin in einer typischen Männerdomäne zu werden. Durch einen „Zufall“ lernte sie einen älteren Herrn kennen, der eine Unternehmensberatung für technische Firmen leitete. Nachdem er sie bei der Abwicklung eines „schwierigen“ Kunden als ausgesprochen erfolgreich erlebt hatte, entschied er: „Immer wenn ein Beratungskunde sperrig ist, muss unsere junge Frau ran.“ Auf diese Weise erhielt sie eine Vielzahl von Beratungsaufträgen, die sie auch erwartungsgemäß erfolgreich abwickelte und an denen sie besser denn je verdiente.

5. Als Fazit eine Gebrauchsanweisung für den Ansatz

Gerade weil sich häufig ausgesprochen einleuchtende Beispiele finden, in denen die Familienkonstellationstheorie „funktioniert“, sei zur Vorsicht geraten. Toman selbst gibt zu bedenken, dass seine Befunde auf statistischen Erhebungen beruhen, die an einer Vielzahl von Personen erfolgt sind. Für den je individuellen Anwendungsfall haben sie deshalb nur begrenzte Gültigkeit. Wie er allerdings in seinen „Fallbesprechungen“ selbst immer wieder vorgeführt hat, dient sein Ansatz primär als Folie für die Hypothesenbildung. So kann der Coach im Verlauf von Beratungsgesprächen, wenn er den Eindruck hat, dass bei seinem Klienten aktuell biographische Phänomene eine Rolle spielen, durchaus auch nach der Geschwisterkonstellation fragen. Dabei handelt es sich immerhin um faktische Daten, die auf Seiten des Klienten keiner besonderen Entblößung bedürfen. Wenn diese „Fährte“ weder dem Klienten noch dem Coach ausreichend evident erscheint, wird sie eben wieder verlassen. In diesem Sinn hat sich der Ansatz in einen Pool von vielfältigen Theorien einzufügen, die der Coach im Sinne eines integrativen Coachingkonzeptes (Schreyögg 2003) im Bedarfsfall bemüht.

Zusammenfassung:

Im vorliegenden Beitrag wird die Familienkonstellationstheorie von Walter Toman in wesentlichen Punkten dargestellt und in ihrer Verwendbarkeit fürs Coaching beleuchtet. Als psychoanalytisch orientiertes Sozialisationskonzept kann sie zur Analyse biographischer Daten dienen. Im Gegensatz zu traditionellen Ansätzen der Psychoanalyse akzentuiert Toman Geschwisterbeziehungen, die bei ihm vor allem im Sinne von Rang- und Geschlechterrelationen beleuchtet werden.

 

Abstract: Family Constellation Theory   - the approach and its use on coaching

The author shows the approach of Walter Toman, psychoanalyst and scientist of psychology, in the most important aspects and in its use on coaching. As a psychoanalytic theory for the sozialization it is used for the analysis of biographic dates. In oposit to traditional approaches of psychoanalysts Toman emphisizes relationships between siblings in a sense of ranking and gender.

 


Literatur:

Adler, A. (1920): Praxis und Theorie der Individualpsychologie. München.

Bowlby, J. (1951): Maternal Care and mental health. London.

Erikson, E. (1964): Einsicht und Verantwortung. Stuttgart.

Erikson, E. (1966): Identität und Lebenszyklus. Frankfurt/M.

Kugemann, W.F., Preiser, S., Schneewind, K.A. (1985): Psychologie und komplexe Lebenswirklichkeit. Festschrift zum 65. Geburtstag von Walter Toman. Göttingen, Toronto, Zürich.

Freud, A. (1936): Das Ich und die Abwehrmechanismen. Int. Psychoanal. Verlag, Wien.

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