Für den Kongressband Wirtschaftspsychologie 2006
Becoming a leader
Die Bedeutung von Coaching für die Identitätsentwicklung von Führungskräften
Dr. Astrid Schreyögg
Seit der Frühindustrialisierung leiteten Führungskräfte ihr Selbstverständnis als Vorgesetzte ab aus der klassischen Hierarchie. Das erweist sich aber heute zunehmend als trügerisch. Hierarchien unterlagen nämlich bis heute einer generellen Erosion. Zum einen bildeten viele Unternehmen wie etwa Ebay organisationskulturelle Muster aus, wo sich Vorgesetzte eher als good friend denn als Vertreter einer Hierarchie präsentieren. Zum anderen finden wir heute zunehmend neuartige strukturelle Konstellationen jenseits der klassischen Hierarchie. Dies zeigt sich zunächst an Entwicklungen zur lean organization, in der Mitarbeiter weitaus eigenständiger handeln müssen als früher, oder an der Etablierung vieler Projektteams, in denen die Leiter meistens nur moderierende Funktionen übernehmen. Auch bei der Installierung von Bildschirmarbeitsplätzen oder bei der Vernetzung von mehreren Organisationen untereinander sind kaum mehr traditionelle hierarchische Verhältnisse anzutreffen. Was aber bedeutet das für Rolle des Vorgesetzten und die des unterstellten Mitarbeiters?
Der vorliegende Beitrag thematisiert in einem ersten Schritt die aktuellen Entwicklungen der Führungspraxis und deren Konsequenzen. Es wird zu zeigen sein, dass erfolgreiche Führung unter den heutigen Bedingungen sowohl bei Vorgesetzten als auch bei Mitarbeitern zunehmend eine selbstbestimmte Identitätsleistung erfordert. In einem zweiten Schritt will ich deutlich machen, dass diese „Identitätsarbeit“ (Keupp & Höfer 1997) durch Coaching von Führungskräften ganz erheblich zu fördern ist.
1. Warum büßen Führungspositionen ihre Stabilität ein?
In strikt hierarchischen Organisationen ist für Vorgesetzte wie für unterstellte Mitarbeiter klar, was sie voneinander zu halten haben. Ihre gegenseitigen Rollenerwartungen und Rollenzuschreibungen lassen sich relativ leicht präzisieren. Das heißt nun allerdings nicht, dass es hier keine Konflikte zwischen den Instanzen gäbe, sie lassen sich aber im Rahmen formaler Regelungen meistens relativ schnell beilegen. Die Akzeptanz von Vorgesetzten ist hier qua Legitimation formal vorgeregelt. So ist in traditionellen Hierarchien auch relativ klar vorbestimmt, was eine Führungsidentität ist oder wie sie idealerweise auszugestalten wäre. Das bedeutet umgekehrt, dass sich in Situationen, wo Unternehmen von klassisch hierarchischen Verhältnissen abweichen, die Frage nach dem Selbstverständnis von Führungskräften – und damit ihrer Führungsidentität – ganz neu stellt.
Wenn Firmen Projektorganisationen etablieren, werden Mitarbeiter verschiedener Funktionen aus unterschiedlichen Abteilungen und oft noch mit divergierenden hierarchischen Rängen für eine bestimmte Zeit zu einer Arbeitsgruppe bzw. zu einem Team zusammengebunden. Der Projektleiter hat dann nur für die Dauer des Projektes und meistens nur für die fachlichen Belange des Teams eine formale Vorgesetztenposition. Disziplinarische Linienfunktionen werden dabei meistens beibehalten. Auf diese Weise entstehen - wie bei der Matrixorganisation - duale Führungsstrukturen. Führungskräfte sind dann mit der Situation konfrontiert, dass sie Mitarbeiter zu optimaler Leistung veranlassen sollen, ohne aber über formale Sanktionspotentiale zu verfügen. Noch komplizierter wird die Lage, wenn eine jeweilige Führungskraft im einen Projekt die fachliche Leitung übernimmt und in einem anderen auf gleicher Ebene mitzuarbeiten hat. Wie soll sie sich dann verhalten, wie sich definieren, welche Erwartungen in der einen wie in der anderen Position bedienen?
Während bei der Projektorganisation der Leiter nur für eine gewisse Zeit als Leiter fungiert, finden wir heute auch zunehmend Organisationen, in denen - etwa auf der Basis von Leiharbeit oder auf der Basis von Freien Verträgen – externe Mitarbeiter nur für einen begrenzten Zeitraum zur Verfügung stehen. Sie sollen dann etwa als SAP-Berater bei der Implementierung neuer IT-Systeme beraten. Führungskräfte sind dann mit Mitarbeitern konfrontiert, die eigentlich gar keine „echten“ Mitarbeiter sind, von der Führungskraft aber doch mit ihrer jeweiligen Funktion ins Gesamtensemble der Firma zu integrieren sind. Spätestens in solchen Situationen kann sich die Führungskraft nicht mehr auf traditionelle hierarchische Verhältnisse stützen, jetzt müssen vielmehr alle Erwartungen und Handlungsstrategien eigens ausgehandelt werden.
Heute driften fachliche und hierarchische Kompetenzen auch immer häufiger auseinander. Viele Vorgesetzte sind mit der Situation konfrontiert, dass ihre Mitarbeiter über ein höheres fachliches Expertentum verfügen als sie selbst. Und da diese Mitarbeiter im Sinne von Wissensmanagement für eine Organisation von erheblicher Bedeutung sind und auf jeden Fall zu halten sind, müssen sie sehr sorgfältig geführt werden. Das stellt Führungskräfte sogar vor Anforderungen, bei denen sie lernen müssen, mit umgekehrter Asymmetrie umzugehen.
Alle diese beschriebenen Konstellationen werfen für Führungskräfte mehr als früher Fragen auf, wie: „Wer bin ich überhaupt in einer jeweiligen Situation? Wie kann ich mich angemessen verhalten? Werde ich mit meinem Führungsanspruch bzw. meinem Führungshandeln akzeptiert?“
2. Was ist unter „Führungsidentität“ zu verstehen?
Identität wurde lange Zeit als tief verankertes Persönlichkeitsmerkmal verstanden, das sich vor allem im Verlauf der Pubertät festigt. Eric Erikson (1965) umriss Identität als dauerhaftes und konsistentes Selbstbild einer Person, das sich an konsistenten Verhaltensweisen dokumentiert. Diese Sichtweise wurde auch auf die Führungsidentität übertragen. Die Identität einer Führungskraft galt dann als positiv, wenn sie stabil und in sich konsistent entwickelt war. Dies Verständnis von Identität wurde aber in den letzten Jahren zunehmend kritisch beurteilt. Um der erhöhten Komplexität aller unserer Lebensvollzüge gerecht zu werden, benötigen Menschen heute auch ein sehr hohes Maß an Variabilität, was eine ganze Reihe unterschiedlicher Identitäten erfordert. Außerdem wird Identitätsentwicklung heute als lebenslanger Prozess verstanden.
Sicher stellen den Ausgangspunkt jeder Identitätsentwicklung die in der primären Sozialisation in Interaktion mit Eltern und Geschwistern erworbenen Deutungs- und Handlungsmuster dar (Krappmann 2000). Sie werden auch über die Jugendphase hinaus beibehalten. Identität entwickelt sich aber laufend weiter, sie ist nach neuerer Auffassung eben nicht auf die Kinder- und Jugendzeit beschränkt. So zeigen auch neue Studien, dass die eigene Identität als Führungskraft immer wieder neu an unterschiedliche Anforderungen mit unterschiedlichen Interaktionspartnern angepasst wird und sich mit diesen Interaktionspartnern zum Teil völlig neu herausbildet (Gardner & Avolio 1987).
Die für die Identitätsentwicklung einer Führungskraft maßgeblichen Interaktionspartner sind zunächst die Mitarbeiter. Je mehr Spielraum ihnen die Organisation garantiert, umso umfassender können sie mit der Führungskraft in Interaktion treten und umso umfassender wird auch das Selbstverständnis der Führungskraft durch sie geprägt. Im Zuge dieser Interaktionsprozesse entwickeln dann die Mitarbeiter korrespondierende Identitäten, mit denen sie die Führungskraft in ihrem Sosein bestätigen – oder nicht. Neben den Mitarbeitern steht die Führung auch mit Vorgesetzten und Kollegen auf gleicher hierarchischer Ebene in Interaktion. Auch diese bilden im Zuge der Interaktionen entsprechende Identitäten aus, und auch diese beantworten die jeweilige Führungskraft mehr oder weniger deutlich in ihrem Selbstverständnis.
Menschen bewegen sich aber heute mehr als früher in unterschiedlichsten Kontexten, für die sie entsprechend den jeweiligen Interaktionspartnern auch unterschiedliche Teilidentitäten entwickeln müssen. Mit Keupp (1997) spricht man deshalb von „Patchworkidentität“ oder mit Gross (1985) von „Bastel-Identität“. Man muss hier zwei unterschiedliche Formen der Identität unterscheiden: Auf der einen Seite entwickelt jeder Mensch eine basale, zeitlich überdauernde Identität, auf der anderen Seite aber eine positionsbedingte, die gerade heute in Anbetracht der Vielgestaltigkeit der Arbeitswelt höchst variabel sein muss. Dabei sollte allerdings das Selbstbild einer Führungskraft möglichst kompatibel sein mit dem Fremdbild; das andere von ihr haben. Die Identitätsentwicklung einer Führungskraft ist aber immer an einen Aushandlungsprozess mit den Menschen ihrer Umgebung gebunden. In diesem Sinn erhalten die tagtäglichen Interaktionen zwischen Führungskräften und ihren Mitarbeitern, Vorgesetzten und Kollegen eine zentrale Bedeutung für die Entwicklung ihrer Führungsidentität.
3. Welche Probleme tauchen bei der „Identitätsarbeit“ von Führungskräften auf?
Die beschriebene „Identitätsarbeit“ (Keupp & Höfer 1987) von Führungskräften gestaltet sich allerdings keineswegs immer unproblematisch. Im Gegenteil. Hier lassen sich mindestens drei Spannungsfelder unterscheiden (Schreyögg, G., Lührmann 2006):
a. Spannung zwischen Stabilität und Flexibilität
b. Spannung zwischen Konformität und Individualität
c. Spannung zwischen Einheitlichkeit und Verschiedenheit
Ad a. Die Person der Führungskraft muss einerseits verschiedene biographisch gebildete Identitätsaspekte integrieren, damit sie für sich selbst und für andere als konsistente Persönlichkeit in Erscheinung treten kann. Sie hat sich aber andererseits jeweils auf unterschiedliche situative Ansprüche einzustellen und für diese Teilidentitäten auszubilden.
Ad b. Führungskräfte sind heute auf Seiten der Mitarbeiter meistens einem starken gruppalen Konformitätsdruck ausgesetzt. Diese wollen nämlich umfassend an Entscheidungen partizipieren, gut motiviert werden und möglichst auf Augenhöhe mit der Führungskraft kommunizieren. Diese Art der Konformität wird auch von den meisten Führungskonzepten empfohlen. Als Agent der Geschäftsleitung hat aber die Führungskraft die Geführten – eventuell sogar gegen deren Widerstand - zu einer optimalen Arbeitsleistung zu bewegen. Und das wiederum kann sie nur als Individuum, das sich aus dem Kollektiv zu lösen vermag.
Ad c. „Identitätsarbeit“ steht aber auch laufend im Spannungsfeld zwischen Einheitlichkeit und Verschiedenheit. Die Führungskraft muss in unterschiedlichen Situationen unterschiedlich handeln, gleichzeitig muss sie aber alle ihre Handlungsstrategien doch zu einer Ganzheit bündeln.
4. Wie kann Coaching die „Identitätsarbeit“ von Führungskräften unterstützen?
Aus dem bisherigen sollte deutlich werden, dass „Identitätsarbeit in der Postmoderne“
- bei Führungskräften aus vielfältigen, unterschiedlich anspruchsvollen Interaktionen resultiert. Und es sollte deutlich werden, dass gerade diese Identitätsarbeit
- mit erheblichen Spannungen einhergeht. Diese münden gar nicht selten in Friktionen und im schlimmsten Fall in schwer auflösbaren Konflikten.
Idealerweise bemüht eine neue Führungskraft, die vielfältigen Rollenanforderungen etwa in einer Projekt- oder Matrixorganisation ausgesetzt ist, schon prophylaktisch einen Coach. Im Verlauf eines Coachings lassen sich nämlich alle Interaktionen sowie alle damit verbundenen Intentionen und Handlungsstrategien, die für die Entwicklung einer je angemessenen Führungsidentität in genau diesem Kontext maßgeblich sind, herausarbeiten.
Zu diesem Zweck verfügt der Coach idealerweise über methodische Kompetenzen aus dem Formenkreis dramatherapeutischer Verfahren wie der Gestalttherapie und dem Psychodrama. Mit Hilfe methodischer Maßnahmen aus diesen Verfahren lassen sich schon proaktiv aus dem Gesamtrepertoire an Deutungs- und Handlungsmustern, über die eine Führungskraft verfügt, die situativ jeweils passendsten herausfiltern und entsprechend einüben. Zu diesem Zweck kann die Führungskraft
a. alle ihre aktuell relevanten Interaktionspartner auf einem leeren Stuhl imaginieren und dann im Rahmen eines „imaginativen Rollentausches“ (Schreyögg 2004) auch deren Sichtweisen und Handlungsimpulse zu erschließen suchen.
b. Außerdem kann man unterschiedliche eigene Strebungen der Führungskraft im Sinne des „inneren Teams“ (Schulz von Thun 2003) untersuchen und eventuell integrieren
.Ad a. Durch die Methode des „imaginativen Rollentausches“ lassen sich Interaktionen des Klienten mit nicht anwesenden Personen thematisieren. Die Klienten werden dazu gebeten, sich diese auf einem leeren Stuhl vorzustellen. In einem ersten Schritt sollen sie die imaginierte Person genau beschreiben, sich innerlich möglichst intensiv auf sie einstellen und deren Wirkung auf sie selbst erlebnishaft erfassen. Wenn der Coach den Eindruck hat, dass der Klient sein Gegenüber intensiv erfährt, kann er ihn in einem zweiten Schritt bitten, nun selbst auf dem bislang leeren Stuhl Platz zu nehmen und sein Verhältnis zu seinem Gegenüber, also zu sich selbst, auszuspüren. Diese Methode des imaginativen Rollentausches dient zum einen dazu, die eigenen Deutungsmuster gegenüber dem Interaktionspartner sowie die des anderen intensiver auszuspüren und neue Identitätsaspekte zu integrieren. Die Methode dient zum anderen der Korrektur von Handlungsmustern. Wenn etwa die Führungskraft einem Mitarbeiter eine schlechte Nachricht zu überbringen hat, kann sie nun mit dem imaginierten Mitarbeiter auf dem leeren Stuhl solange sprechend üben, bis sie selbst den Eindruck, dass sie entsprechend verfahren möchte.
Ad b. Durch die Methode des „inneren Teams“ lassen sich unterschiedliche eigene Anteile thematisieren und externalisieren. Wenn die Führungskraft eine Situation beschreibt, in der sie Spannungen mit unterschiedlichen Impulsen wahrnimmt, kann sie gebeten werden, diese unterschiedlichen Impulse ebenfalls auf leere Stühle zu imaginieren. Auf diese Weise stellen Klienten oft eine ganze Reihe divergierender Anteile auf mehreren leeren Stühlen dar. Sie werden dann gebeten, mit diesen in einen Dialog einzutreten, selbst auf dem einen oder anderen leeren Stuhl Platz zu nehmen, um dann einmal die eine und ein anderes Mal die andere Strebung zu sein. Die Strebungen lassen sich auch nach ihrer Wertigkeit sortieren, sie können eventuell untereinander in Dialog treten und manchmal lassen sie sich auf diese Weise sogar integrieren.
Literatur:
Erikson, E. (1973): Identität und Lebenszyklus. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Gardner, W.L., Avolio, B.J. (1998): The charismatic relationship: a dramaturgical perspective. In: Academy of Management Journal (23) p. 32-58.
Gross, P. (1985): „Bastelmentalität: Ein postmoderner Schwebezustand”. In: Schmid, T. (Hg.): Das pfeifende Schwein. Berlin: Wagenbach.
Keupp, H., Höfer, R. (Hg.) (1997): Identitätsarbeit heute. Klassische und aktuelle Perspektiven der Identitätsforschung.
Krappmann, L. (2000): Soziologische Dimensionen der Identität. Stuttgart: Klett-Cotta.
Schreyögg, A. (2004): Imaginativer Rollentausch. In: Rauen, C. (Hg.): Coaching-Tools. Bonn: managerSeminare.
Schreyögg, G., Lührman, T. (2006): Führungsidentität: Zu neueren Entwicklungen in Führungskonstellationen und der Identitätsforschung. In: Zeitschrift Führung und Organisation. 1/06, S. 11-16.
Schulz v. Thun, F. (1998): Miteinander reden. Das „innere Team“ und situationsgerechte Kommunikation. Reinbeck: Rowohlt.
Autorin: Dr. Astrid Schreyögg, Dipl.-Psych.; nach Tätigkeit in der Marktforschung mehr als 10 Jahre in leitenden Positionen im sozialen Dienstleistungsbereich; Ausbildungen in Gesprächs-, Gestalt- und Körpertherapie; Approbation; seit 1985 freiberufliche Psychotherapeutin, Supervisorin, Coach; Wiss. Leitung an der Deutschen Psychologen-Akademie des BDP für Supervision und Coaching. Autorin von Lehrbüchern zu Supervision und Coaching; zahlreiche Publikationen in Sammelbänden und Fachzeitschriften; Herausgeberin der Zeitschrift „Organisationsberatung, Supervision, Coaching“ (OSC) im VS-Verlag.
Anschrift: Breisgauer Str. 29, 14129 Berlin
E-Mail:
Web.: www.schreyoegg.de