Liebe am Arbeitsplatz

Erschienen in: Organisationsberatung, Supervision, Clinical Management (OSC) 2 (1), 1995, S. 73-87

 

Astrid Schreyögg, Berlin

 


Liebe am Arbeitsplatz stellt in allen beruflichen Feldern ein allgegenwärtiges Phä-nomen dar. Dementsprechend taucht es auch laufend in supervisorischen Dialogen auf. Was aber hier zu “Liebe am Arbeitsplatz” genau verhandelt wird oder verhandelt wer-den sollte, bleibt bislang eher im Nebel. In der einschlägigen Literatur finden wir jeden-falls noch kaum Anregungen, wie derartige Fragestellungen angemessen zu beleuchten sind. Dabei kann es Supervisoren als professionellen Dialogpartnern keineswegs gleich-gültig sein, nach welchen Kriterien sie Liebe in unterschiedlichen Organisationstypen, “Liebesmissbrauch” oder Liebe zwischen Vertretern verschiedener hierarchischer Ebe-nen wie verhandeln und vor allem, auf welcher normativen Basis sie derartige Erschei-nungen überhaupt zuordnen. Deshalb soll hier eine grobe Horizontstruktur für diesbe-zügliche Diskurse entfaltet werden.
Zuerst umreiße ich einen Rahmen zur Einordnung von Liebesphänomenen, sodann kläre ich das Verhältnis von Liebe und Arbeit in postmodernen Gesellschaften. Danach beleuchte ich Bedeutungsgehalte von Liebe in unterschiedlichen organisatorischen Zu-sammenhängen und Arbeitsfeldern. Den Abschluss bilden Anregungen, wie die Aufga-ben von Supervisoren im Hinblick auf “Liebe am Arbeitsplatz” aussehen könnten oder sogar sollten.

 


1. Varianten von Liebe im Abendland

 

Wenn in der Supervision Liebesphänomene thematisiert und im Hinblick auf ihre Bedeutung bzw. Konsequenzen für berufliche Praxis reflektiert werden sollen, ist zu-nächst zu klären, auf welche Erscheinungen sich die Erörterung im Einzelnen bezieht. “Liebesforscher” wie etwa Luhmann (1982), Sternberg (1994) u.a. argumentieren, dass das Verhältnis des Einzelnen zu “Liebe” als Sozialisationsphänomen zu begreifen ist. Und als solches resultiert es nicht nur aus der individuellen Genese, sondern auch aus Traditionen der lebensweltlichen Kontexte, denen die betreffenden Menschen angehö-ren. Liebe als Intimitätsphänomen wird nämlich in unterschiedlichen Kulturkreisen und Epochen je unterschiedlich codiert, und diese Codierungen schlagen sich auch in jeder Liebesbeziehung und ihrer Bewertung durch andere nieder (Luhmann 1982). Zwar prä-sentieren sich uns derzeit höchst unterschiedlich erscheinende Varianten von Liebe, in ihrer Tiefenstruktur lassen sie aber einige wenige traditionelle Grundkonfigurationen erkennen (Sternberg 1994). Je nach dem historischen Zusammenhang ihrer Genese wei-sen sie unterschiedliche Bezüge zu Sexualität, Freundschaft und Ehe auf. Diese Grund-konstellationen manifestieren sich in klassischen Liebesbegriffen. Und genau sie bilden auch Imaginationsvorlagen für Liebe am Arbeitsplatz.

 

1.1 Der griechische Eros

 

Der historisch älteste Liebesbegriff begegnet uns im griechischen Eros. Abgesehen von frühen mythischen Formen, wo ihm eine geradezu kosmische Dimension zugespro-chen wurde, gestaltete sich Eros in der Hochantike als homosexuelle, genauer als päde-rastische Liebesform aus. In dieser asymmetrischen Relation förderte ein älterer erfah-rener Mann einen jüngeren unerfahrenen. Im “Symposion” von Platon wird nun die spezifische Riskanz dieser Liebesform thematisiert: Wenn der vordergründig dominan-te, der werbende Partner vom umworbenen nicht erhört wird, entsteht eine umgekehrte Asymmetrie, d.h. der ältere “verzehrt sich vor Sehnsucht”. Wenn aber der jüngere den Werbungen, besonders in sexuellem Sinne nachgibt, wird er zum “gefallenen Engel”. Die Bedeutung von Eros liegt nämlich im Lieben selbst und nicht in der Erfüllung des Begehrens. Diese Liebesform ist also ursprünglich nichtsexuell gedacht, sie besteht eher “im Spiel mit dem Feuer”. Als dauerhaft unerfüllte Haben-Relation dient sie dem Lie-benden vielmehr als Motor für überdurchschnittliche Leistungen literarischer oder künstlerischer Art. Durch ihren unerfüllbaren Charakter ähnelt sie inzestuösen Bezie-hungen und befördert damit eine Vielzahl gegenseitiger Projektionen, die bis zu grotes-ken Formen der Wahrnehmungsverzerrung reichen (Pages 1968).
Diese Interaktionsstruktur dient heute auch als Folie für viele heterosexuelle Bezie-hungen. In ihnen sucht ein erfahrener älterer Mann, z.B. nach dem Muster von “My fair Lady” oder “Pretty Woman”, eine junge unerfahrene Frau zu fördern bzw. nach seinen Idealvorstellungen auszuformen (Böhme 1985). Es lässt sich sogar behaupten, dass die-se Konstellation ein gesellschaftlich besonders akzeptiertes Grundmuster von Liebe darstellt. Es wird von vielen Männern des öffentlichen Lebens vorgelebt. Mit einer “töchterlichen Kindfrau” an seiner Seite kann der betreffende Mann der Bewunderung aller ihn umgebenden Menschen gewiss sein. Diese Interaktionsstruktur bildet aber na-türlich auch die Basis für manifest inzestuöse Relationen zwischen Vätern und Töchtern oder für allerlei verdeckte und oft sogar durch Ehe legalisierte Beziehungen zwischen “Ersatzvätern” und “Ersatztöchtern”.
Eros stellt in seinen homo- oder heterosexuellen Varianten immer ein patriarchali-sches Interaktionsmuster dar. Dementsprechend wird hier, wie sich etwa am Don-Juanismus zeigen lässt, Liebe meistens von Herrschaftsphänomenen überlagert. Wenn ein umworbenes Liebessubjekt den Werbungen nachgibt, gerät es in die Machtsphäre des Werbenden, wird zum Objekt degradiert und verliert so seine ursprüngliche Anzie-hungskraft für den “Herrscher”.

 


1.2 Die christliche Agape

 

Ein ganz anders gelagerter Liebesbegriff begegnet uns in der christlichen Agape. Seine etymologische Bedeutung als “Gernhaben” signalisiert eine geringere Emotionali-sierung als der Eros-Begriff. Agape resultiert aus der neutestamentarischen Tradition als “Gottesliebe”, die sich in der Gestalt Jesu manifestiert. In seiner Nachfolge sollen Men-schen “Hingabe an den Nächsten” üben. Auch hierin grenzt sie sich deutlich vom Eros ab. Der Gebende soll nämlich nichts für sich selbst wollen. Agape dient dann nicht nur als Folie für die traditionelle Brüderlichkeitsethik, die in sozialen Dienstleistungen oder in Almosen für andere ihren Ausdruck findet. Sie bildete auch lange die Vorlage für das Ideal “weiblicher Hingabe”, “weiblicher Opferbereitschaft”, “weiblicher Demut”, wie wir sie bis heute besonders verdichtet in den Sinnsystemen christlicher Frauenorden finden. Die christliche Agape bildete auch die Folie für das Frauenbild der viktoriani-schen Ara und förderte bekanntermaßen die Hysterie als dysfunktionalen Nebeneffekt zutage.
Auch dieser Liebesbegriff ist grundlegend asymmetrisch gedacht, und auch er birgt allerlei Risiken; denn derjenige, der Almosen erhält, wird leicht zum Objekt degradiert. Agape dient nämlich oft eher der Selbsterhöhung des Gebenden als demjenigen, dem gegeben wird (Böhme 1985). Als Vorbeugung gegen solche Phänomene forderte beson-ders der Pietismus die laufende Selbsterniedrigung des Gebenden, was allerdings zu nicht unbeträchtlichen Rollenkonfusionen auf beiden Seiten führen kann.
Eine Amalgamierung mit Sexualität ist bei Agape zunächst gar nicht vorgesehen. Wenn sie den Gebenden aber doch “überkommt”, geht sie bei “frommen Gemütern” mit besonders starken Selbstanklagen einher (Luhmann 1982), denn schon der auslösende Affekt selbst gilt ja als “sündig”. “Weniger Fromme” versuchen Sexualisierungen von Agape vor sich selbst zu verleugnen, zu rationalisieren, zu beschönigen und vor allem bei manifest sexuellen Durchbrüchen vor anderen geheim zu halten.

 


1.3 Die mittelalterliche Minne

 

Das bevorzugte Liebesschema des Mittelalters ist die Minne. Wie Eros und Agape stellt auch sie ein Konzept dar, das ursprünglich nur in “höheren Kreisen” relevant war. Ein Ritter oder Knappe bringt der Frau seines Lehnsherren seine Verehrung entgegen. Hier wird also eine ranghöhere Frau von einem rangniederen Mann verehrt. Aufgrund der basalen Konstellation muss auch diese Liebe von Anbeginn als “Liebe auf Distanz” (Böhme 1985) unerfüllt bleiben. Sie beflügelt dann wie der Eros den Ritter zu “großen Taten”. Es handelt sich gleichfalls um eine Haben-Relation, bei der sich der Ritter in den Augen seiner “Dame” als mehr oder weniger großartig widergespiegelt sieht.
Minne bildet bis heute die Vorlage für “Ritterlichkeit” von Männern gegenüber Frauen. Sie dient aber auch als Folie für “Schwärmereien” rangniederer Männer gegen-über ranghöheren Frauen. Wenn es dabei entgegen den Spielregeln doch zur Sexualität kommt, rückt auch diese Relation in die Nähe des Inzests, hier allerdings zwischen Mut-ter und Sohn. Derartige Konstellationen geraten umso eher zum Skandal, je patriarchali-scher das Umfeld ist. Denn im Patriarchat sollte ja immer der Mann in der rang-höheren Position stehen. Dementsprechend lässt sich bis heute eine tendenzielle Ächtung derar-tiger Relationen beobachten. Eine solche Bewertung ist implizit auch der Psychoanalyse unterlegt. Obwohl im realen Umfeld von Freud verdeckter oder manifester Inzest zwi-schen Vätern und Töchtern wahrscheinlich viel häufiger auftrat als der zwischen Müt-tern und Söhnen, wird von ihm die Ödipussage, also der klassische Inzest zwischen Mutter und Sohn, als Synonym für beide Formen von Inzest bemüht. Wo Freud die pat-riarchalische Variante, also den “Elektra-Komplex”, eher am Rande thematisiert, desig-niert er sein Gegenstück als den zentralen Kern von Psychopathie.

 

1.4 Die Leidenschaft der Romantik

 

Bei Leidenschaft oder “Passion” (Luhmann 1982) handelt es sich um eine relativ junge Variante des Liebesbegriffs. Sie entstand in der Romantik. Nach dem Rokoko, in dem Liebe und Sexualität oft getrennt wurden bzw. neben der Ehe planmäßig außerehe-liche Beziehungen üblich waren, finden wir seit der Romantik eine Bündelung intimer Phänomene, d.h. Freundschaft und Sexualität sollen nun in die rechtlich legitimierte Form der Ehe münden. Im Gegensatz zu den bisher beschriebenen Liebesbegriffen, Eros, Agape und Minne, ist Leidenschaft nun nicht mehr als Privileg höherer Stände definiert, sondern gleichlaufend mit der “Entdeckung individueller Subjektivität” einer-seits und der zunehmenden Vergesellschaftung des Einzelnen andererseits soll sie jedem Menschen maximale Intimität garantieren. Seit der Romantik fordern also auch untere soziale Stände das Privileg individualisierter Liebe ein (Elias 1976). Als grundlegend demokratisierte und symmetrische Liebesvariante treffen bei der Leidenschaft zwei Menschen aufeinander, um ihre existenzielle Einsamkeit zu überwinden (Pages 1968). Sie suchen im Anderen maximale Korrespondenz, d.h. sie wollen sich auf ein beidseitig entwickeltes Extremmaß intersubjektiver Verständigung einsteuern.
Das Risiko dieser Liebesform liegt fraglos in ihrer emotionalen und privatistischen Überfrachtung, die dann auch noch in einem rechtlich legitimierten Rahmen, also in der Ehe – oder heute oft in eheähnlichen Verhältnissen – realisiert werden soll. Die “roman-tische Liebe” ist so immer von Enttäuschungsreaktionen des einen oder anderen Part-ners bedroht. Wenn sich der zuerst geteilte Sinn als doch nicht so dauerhaft wie ge-wünscht erweist oder wenn er anfänglich zu stark überinterpretiert wurde, muss im Sin-ne dieses Liebesschemas eine neue Leidenschaft gesucht und eingegangen werden. Aus existenzialphilosophischer Perspektive problematisiert Pages (1968) Leidenschaft als Verleugnung existenzieller Einsamkeit. “Wahre Liebe” könne erst dann entstehen, wenn jeder der Partner seine eigene Einsamkeit akzeptiert und dann zum anderen als ebenfalls Einsamem ein solidarisches Verhältnis aufbaut.

 


1.5 Postmoderne Liebesbegriffe

 

Neuerdings finden wir Anzeichen scheinbarer emotionaler Verflachung von Liebes-phänomenen, die sich in Begriffen wie “Beziehung” oder “Beziehungskiste” verdichten. Sie entstanden vermutlich einerseits als Antwort auf die Riskanz der romantischen Lie-be, aus der generellen Liberalisierung von Sexualität und als Konsequenz zunehmender Vereinnahmung des Menschen durch versachlichte Lebenswelten. Wie aber Sternberg (1994) mutmaßt, manifestieren sich in postmodernen Liebesvarianten nur Oberflächen-phänomene. Bei eingehenden Analysen von Liebesfilmen oder -romanen lassen sich fast immer Grundkonfigurationen der klassischen Liebesbegriffe nachweisen. Sie äu-ßern sich heute lediglich “smarter” als früher.

 


2. Zum Verhältnis von Liebe und Arbeit

 

Es lässt sich behaupten, dass Liebe und Arbeit zwei diametral entgegengesetzte anthropologische Kategorien darstellen. Liebe ist in allen ihren historischen Begrifflich-keiten als emotionales Phänomen charakterisiert. Und sie weist, abgesehen von der klassischen Agape, immer Aspekte von Gefühlseskalationen auf. Besonders in der heute weithin verbreiteten romantischen Liebe bildet sich eine Intimitätsdichte, die automa-tisch andere ausschließt. In sexualisierten Varianten von Eros, Minne und vor allem von Agape tritt zu dem exklusiven Charakter häufig noch die Tabuisierung bzw. das Ver-bergen der Liebe vor anderen hinzu.
Arbeit dagegen bezeichnet strukturiertes Tätigsein. Sie fordert dem Einzelnen Dis-ziplin bzw. Selbstbedrängnis ab. Sie steht nicht auf der Basis von Gefühlen, sondern ganz im Gegenteil auf der Basis von Gefühlsregulationen. Und in “organisierten Gesell-schaften” (Willke 1989) findet Arbeit zumeist in organisierten Systemen statt, die vom Einzelnen grundsätzlich das Primat von Rationalität einfordern. Gefühlsmäßige Regun-gen sind dort nur insoweit akzeptabel, als sie die Aufgabenerfüllung nicht beeinträchti-gen (Böhme 1985).
So zieht Liebe am Arbeitsplatz immer potenzielle Irritationen bei den Liebenden und vor allem bei den umgebenden Interaktionspartnern nach sich. Trotzdem stellt aber in Arbeitsgesellschaften (ebd.) gerade der Arbeitsplatz denjenigen Ort dar, an dem sich die meisten Liebesbeziehungen anbahnen. Hierin manifestiert sich eine generelle Para-doxie moderner Gesellschaften. Liebe am Arbeitsplatz lässt sich dementsprechend auch als grundlegende Form des Widerstandes von Menschen gegen versachlichte Lebens-welten interpretieren.

 


3. Liebe in organisatorischen Zusammenhängen

 

Bei Liebesphänomenen handelt es sich um “Codierungen von Intimität” (Luhmann 1982). So stehen sie prinzipiell im Widerspruch zu sozialen Systemen, d.h. Liebende schließen durch ihre Intimität immer die anderen aus. In organisierten Zusammenhän-gen stellt sich dieses Faktum noch drängender, denn Liebende sondern sich durch ihre emotional fundierte Zweisamkeit von rational strukturierten Kontexten ab.
Auf diesem Wege werden sie automatisch zu Protagonisten einer “emotionalen Subkultur”, die aber atmosphärisch immer in das Gesamtsystem “abstrahlt”. Plötzlich “blühen” nämlich auch bei den anderen Emotionen auf, die bislang vielleicht nur müh-sam im Zaum gehalten wurden. Es entwickeln sich allerlei “Eifersüchteleien” und “Verdächtigungen”, was die beiden in ihrer “trauten Zweisamkeit” wohl “gegen die anderen ausbrüten”. Derartige Emotionen bleiben aber im Allgemeinen verdeckt, d.h. sie manifestieren sich nur hinter dem Rücken der Liebenden; denn “man” möchte ja vermeiden, sich offen als eifersüchtig oder als missgünstig zu zeigen. So entsteht in Systemen prinzipiell eine “besondere” Interaktionsdynamik zwischen den Liebenden und den übrigen Systemmitgliedern, die nicht selten paranoide Akzente aufweist.
Nun finden wir allerdings in unterschiedlichen Organisationstypen je unterschiedli-che Bewertungen von Liebesbeziehungen. Man kann sogar behaupten, dass in jeder Organisationskultur andere Normen maßgeblich sind. In bürokratischen Organisationen wie etwa in Verwaltungssystemen begegnen uns notorisch tabuisierte Formen. Jeder weiß, dass auch hier Liebe am Arbeitsplatz üblich ist, sie wird aber meistens nur “hinter verschlossenen Türen” verhandelt. In Organisationen mit stark versachlichten Kulturen, etwa in der pharmazeutischen Industrie, bittet man die Liebenden wie selbstverständ-lich, sich getrennt in neue Abteilungen zu begeben. Und in “smarten” Kulturen, wie sie heute z.B. viele Werbeagenturen hervorbringen, gelten Mitarbeiter, die darauf “ange-wiesen” sind, Liebespartner am Arbeitsplatz zu rekrutieren, geradezu als “jämmerlich”. Sie müssen dann meistens einen Statusverlust hinnehmen und manchmal sogar die Fir-ma verlassen. In anderen Organisationen dagegen, die stark emotionalisierte Sinnsyste-me ausgebildet haben, wie sie etwa in therapeutischen Milieus üblich sind, wird jede neue Liebesbeziehung nun wieder übermäßig enthusiastisch gefeiert.

 

Bei Liebesbeziehungen am Arbeitsplatz ist allerdings von zentraler Bedeutung, in welcher Rollenkonstellation sich die Liebenden begegnen. Die Komplikationen sind vergleichsweise gering, wenn beide “noch zu haben sind”. Als problematischer gelten Liebesbeziehungen, bei denen ein Partner verheiratet ist oder in einer eheähnlichen Be-ziehung lebt. In kirchlichen Tendenzbetrieben stellt Ehebruch sogar einen fristlosen Kündigungsgrund dar. Solche Regelungen eröffnen den übrigen Systemmitgliedern automatisch einen Raum für “Erpressungen” der Liebenden. Derartige Situationen füh-ren aber auch zu Loyalitätskonflikten von Systemmitgliedern gegenüber der Obrigkeit, wenn sie als Kollegen von der Liebesbeziehung Kenntnis haben und sich aus Solidarität gezwungen fühlen, Vertuschungsstrategien des Liebespaares mitzutragen. Mildere For-men der Tabuisierung von Ehebruch finden wir in säkularisierten Tendenzbetrieben wie etwa in Gewerkschaftsmilieus. Aber auch hier bemüht man sich im Allgemeinen, derar-tige Relationen zu vertuschen. Innerhalb der betreffenden Sozialsysteme ergeben sich jedenfalls immer eine Reihe von Beunruhigungen, denn solche Beziehungen erhalten in fast allen sozialen Feldern den Odem von Devianz.
Eine besondere Variante von “Liebe am Arbeitsplatz” finden wir bei Liebe zwi-schen Vertretern verschiedener hierarchischer Ebenen. Handelt es sich bei Liebe auf gleicher hierarchischer Ebene häufiger um “romantische Liebe”, begegnen wir bei Rela-tionen aus unterschiedlichen Hierarchie-Ebenen meistens den anderen Formen. Wenn sie sexualisiert sind, werden sie von den Systemmitgliedern immer in die Nähe des In-zests phantasiert oder jedenfalls als “illegitime Bündnisse” gewertet. Sie stellen prinzi-piell einen stärkeren Unruheherd dar als andere Liebesbeziehungen. Und sie werden in aller Regel sowohl von den Liebenden selbst als auch von den übrigen tabuisiert. Selbst wenn sie sich in homoerotischer und/oder nichtsexueller Form manifestieren, geben sie Anlass zu vielfältigen Verdächtigungen und Intrigen. So kann etwa die besondere För-derung, die das Vorstandsmitglied einer Bank im Sinne von Eros einem Mitarbeiter, der drei Ränge unter ihm angesiedelt ist, zukommen lässt, umfassenden Neid bei den übri-gen Systemmitgliedern erzeugen. Dann kommt es z.B. seitens unmittelbarer Vorgesetz-ter nicht selten zu verdecktem Boykott gegenüber dem “Geliebten”, sodass der Geför-derte gar nicht umhin kann, den oder die Boykottierenden beim “hohen Herrn anzu-schwärzen”. Dadurch wird er intern als “Denunziant” gebrandmarkt, sozial ausgeson-dert und in seiner jeweiligen Abteilung vielleicht sogar zum “Mobbingopfer”.
Nun wäre es allerdings ein Irrtum anzunehmen, dass nur als “illegitim” definierte Beziehungen Belastungen für organisatorische Systeme darstellen. Oft gereichen gerade durch Ehe oder langjährige Beziehungen legalisierte Relationen für Systemmitglieder “zur Plage”. Ein ewig “clinchendes Pärchen”, ein “ständig eifersüchtiger Ehemann”, aber auch ein Paar, das immer zusammensteht, lassen Peinlichkeiten oder Verdächti-gungen entstehen. Durch ihren schon erworbenen Intimitätsgrad erzeugen feste Paare am Arbeitsplatz oft noch deutlicher als “frische Liebespaare” chronische Irritationen. Die organisationsinternen Beunruhigungen steigern sich noch um ein Vielfaches, wenn ein Teil des “festen Paares” hinter dem Rücken des anderen eine intime Beziehung zu einem Dritten am Arbeitsplatz unterhält. In solchen Fällen werden die übrigen System-mitglieder automatisch in kaum erträgliche Loyalitätskonflikte verstrickt.




4. Liebe im Bereich sozialer Dienstleistungen

 

Nun wurde oben schon deutlich, dass Liebesphänomene in unterschiedlichen Ar-beitsfeldern und Organisationstypen je unterschiedlich irritierende Konsequenzen für ein System nach sich ziehen. Das geschieht vor allem dann, wenn “Liebe” zwischen Vertretern verschiedener hierarchischer Ebenen stattfindet. Ausgesprochen prekäre Zü-ge erhalten derartige Relationen in agogischen und therapeutischen Arbeitsfeldern.

 


4.1 Liebe als Missbrauchsphänomen

 

Im Bereich sozialer Dienstleistungen finden wir prinzipiell zwei organisatorische Subsysteme, eines der professionellen Mitarbeiter und eines der “Klienten”. Von diesen soll das Professionelle auf die Klienten “günstig” einwirken. Wenn nun ein Vertreter des professionellen Subsystems zu einem Vertreter des Klientensystems eine sexuell eingefärbte Liebesbeziehung unterhält, handelt es sich grundsätzlich um eine illegitime Form. Die legale Basis aller dieser Relationen, die historisch als säkularisierte Varianten von Agape entstanden sind, muss eine gebende in dem Sinne sein, dass Professionelle ihre Bedürftigkeit gegenüber Klienten zu kontrollieren und einzudämmen haben. Wenn sich etwa gegenüber jungen Klienten eine sexualisierte Beziehung im Sinne von Eros entfaltet oder gegenüber gleichaltrigen eine im Stile romantischer Liebe, hat der Profes-sionelle sein berufliches Ziel an diesem Klienten verfehlt. Er beutet ja den Klienten für seine eigenen Belange aus, d.h. er objektiviert ihn.
Aus psychologischer Sicht stellen agogische und psychotherapeutische Interaktio-nen Sonderformen von Beziehungen dar. Sie sind nämlich immer durch Phänomene von Übertragung und Gegenübertragung eingefärbt. Professionelle werden von ihren Klien-ten im Sinne idealisierter Eltern phantasiert, und sie haben sich letztlich auch in diesem Sinne zu verhalten. Dementsprechend weisen sexuelle Beziehungen zwischen Professi-onellen und Klienten alle Aspekte von Inzest auf. Da aber nun professionelle Beziehun-gen in agogischen und therapeutischen Feldern per definitionem als entsexualisierte Agape angelegt sind, werden derartige Sexualbeziehungen von den betreffenden Profes-sionellen besonders eifrig vertuscht. Die umfassendsten Vertuschungsstrategien nicht nur Einzelner, sondern gesamter Kollektive finden wir dort, wo die Agape offiziell in ihrer reinsten Form propagiert wird, nämlich in kirchlichen Einrichtungen. Und am häu-figsten lassen sich derartige Übergriffe beobachten, wo qua Aufgabenerfüllung intensi-ve Gefühlsbezüge zu den Klienten gefordert sind, wo die Klientel ein ähnliches Alter aufweist wie die Professionellen und wo der äußere Rahmen nur schwach institutionali-siert ist. Das trifft, wie sich neuerer Literatur entnehmen lässt (Pope, Bouhoutsos 1992 u.a.), am deutlichsten auf “freie” psychotherapeutische Praxen zu.
Im Verständnis von Agape stellen allerdings selbst sexualisierte Interaktionen, die als solche nicht manifest werden, ein Unding dar. Der Professionelle hat ja prinzipiell die Aufgabe, seine Bedürftigkeit bei sich selbst zu regulieren. Auch Liebesbeziehungen, die erst nach Beendigung der professionellen Relation aufgenommen werden, müssen meistens als problematisch beurteilt werden. Elternübertragungen erweisen sich nämlich als äußerst resistent, weshalb sie auch später noch eine potenzielle Basis für Haben-Beziehungen bilden. Der Ausbeutungscharakter sexualisierter Interaktionen im sozialen Dienstleistungsbereich lässt sich auch nicht durch eine formale Beendigung der profes-sionellen Arbeit oder durch die Beendigung des Liebesverhältnisses ungeschehen ma-chen. Die Beschädigung des Klienten ist ja meistens schon in seiner Genese angelegt und wird durch die Übergriffe von Professionellen letztlich nur noch zementiert. Durch frühere Missbrauchserfahrungen erworbene Entfremdungserscheinungen oder mangeln-des Vertrauen in die eigene Wahrnehmung wachsen sich dann oft sogar zu schwerwie-genden Depersonalisationsphänomenen aus.

 


4.2 “Liebesmissbrauch” in therapeutischen Systemen

 

Nun wäre es allerdings ein Irrtum anzunehmen, dass sexuelle Übergriffe singuläre Ereignisse darstellen oder nur von einzelnen “Übeltätern” ausgehen. In den letzten Jah-ren mehren sich Berichte, wonach auch in größeren Systemen, insbesondere in solchen mit therapeutischen Zielsetzungen wie etwa in Therapieausbildungsinstituten oder the-rapeutischen Communities, entsprechende Übergriffe anzutreffen sind. Sie erhalten hier vielfach sogar einen ideologisch gestützten Charakter mit Zügen von Sektierertum.
Seit Ende der 60er Jahre entwickelten sich in diesen Milieus Sinnsysteme, die bis heute einen reichen Nährboden für “Liebesmissbrauch” bieten. Den Ausgangspunkt stellten Therapieansätze dar, die existenzialphilosophische Positionen mit denen von Reich zu verschmelzen suchten. Auf dem Hintergrund von Begegnungskonzepten der Existenzialphilosophie üben seitdem viele Therapieprofis, immer tiefer in die Psyche ihrer Klienten oder Therapieausbildungskandidaten einzutauchen. Auf der Basis von Reichianischem bzw. Neoreichianischem Gedankengut verbinden sie die Tiefenberüh-rung mit Aufforderungen zur sexuellen Befreiung. Wenn sie ihr therapeutisches Hand-werkszeug in den Dienst eigener narzisstischer Befriedigungen stellen, erzeugen sie bei ihren Interaktionspartnern fast automatisch archaische Sehnsüchte nach Verschmelzung psychischer wie physischer Art. Und diese Interaktionspartner werben dann leiden-schaftlich um ihren Guru. Sie dienen als willfährige Anhänger, die sich, solange das Charisma des Gurus “strahlt”, jedweder Form der Ausbeutung “hingeben”. Das Extrem solcher “Missbrauchskulturen” manifestierte sich in der therapeutischen Community AAO um den “sexuellen Revolutionär” Otto Mühl. Hier ließen sich nicht nur die “Groopies” bereitwillig ausbeuten, sie gewährten dem Führer auch das ius primae noctis an ihren minderjährigen Töchtern.
Eine solchermaßen rekrutierte Anhängerschar schützt ihren Guru vor Kritikern von außen und zementiert seine Vorrangstellung im Innenraum des Systems. Deshalb geht mit sexuellem Missbrauch immer Machtmissbrauch einher. Das dokumentiert sich auch an der immer wieder berichteten, z.T. sogar gerichtlich zu ahndenden materiellen Aus-beutung der Missbrauchsopfer (Spiegel Nr. 4/1995). Die “Pflege” einer Missbrauchs-kultur birgt allerdings auch für den Führer ein gewisses Risiko. Gelegentlich verstricken sich nämlich die “liebenden” Anhänger untereinander in Grabenkämpfe, wer dem “Großen Meister” am nächsten steht. Und in Ausnahmefällen wenden sich gekränkte und durch die “Sexkur beim Guru” (ebd.) auch nachweisbar geschädigte Anhänger so-gar gegen ihn. Sie “pfeifen” dann auf die ehedem “inhalierte” Ideologie und klagen ihn öffentlich an wegen sexuellen Missbrauchs und begleitender Ausbeutungsphänomene. Dann mutiert kollektive Hörigkeit gelegentlich zu kollektiver Ächtung.
Auch in diesbezüglich schwächer oder nur verdeckt ideologisierten Kulturen müs-sen die aus Therapie-Relationen resultierenden Liebesofferten als Ausdruck frühkindli-cher Wünsche interpretiert werden. Das gilt für Beziehungen zu Klienten, zu Ausbil-dungskandidaten und oft auch zu “Kollegen”. Liebesbekundungen sollten in diesen Szenarien jedenfalls nie unbesehen als Manifestationen reifer Liebe gewertet und be-antwortet werden.
Sexuelle Übergriffe in therapeutischen Ausbildungen sind besonders folgenschwer, denn sie erhalten ja Modellcharakter für die spätere Praxis von Psychotherapeuten. Übergriffige Therapieausbilder fungieren so letztlich als Multiplikatoren für Therapie-missbrauch. Nun lassen sich allerdings genau diese Übergriffe nicht so leicht als Miss-brauch identifizieren und ahnden. Durch selbsterfahrungsorientierte Lehrpraktiken ent-falten sich zwar auch hier oft stark sexualisierte Übertragungs- und Gegenübertragungs-Relationen, die ebenfalls hochgradig missbrauchsanfällig sind und von Therapieausbil-dern gar nicht selten in diesem Sinne genutzt werden. Anders aber als “normalen” Klienten ist Kandidaten in Therapieausbildungen immer ein höherer Grad an Mündig-keit zu unterstellen. Die meisten einschlägigen Institute sehen vor Beginn der Ausbil-dung Aufnahmeverfahren vor, in denen gerade dieser Aspekt ausgelotet wird. Dement-sprechend lassen sich Ausbildungskandidaten für Psychotherapie vergleichsweise schwerer als Missbrauchsopfer definieren, bzw. Missbrauch in therapeutischen Ausbil-dungen ist als solcher oft nicht justiziabel. Formal handelt es sich hier eher um “Un-zucht mit Abhängigen”, auf jeden Fall aber um “Verstöße gegen berufsständische Nor-men und Standards”, die von entsprechenden Ethikkommissionen zu problematisieren und zu ahnden wären.

 


4.3 Zum Verhältnis von sexuellem Missbrauch und Gesellschaft

 

Am häufigsten begegnen uns derartige Übergriffe zwischen männlichen Dominanz-partnern und rangniederen Personen weiblichen Geschlechts. Die Beispiele sind Legion, wo sich männliche Therapeuten an ihren Klientinnen, Heimleiter an minderjährigen Mädchen oder Therapieausbilder an Ausbildungskandidatinnen vergreifen. Wie anhand der heterosexuellen Variante von Eros erläutert, weist allerdings gerade diese Rollen-konstellation Anschluss an ein allgemein akzeptiertes Grundmuster patriarchalischer Gesellschaften auf. Es wird lediglich durch die Konfundierung mit Formen von Agape skandalös. Die Tatsache, dass derartige Missbrauchsphänomene erst seit den 80er Jah-ren in breiterem Umfang ins Licht der Öffentlichkeit rückten, lässt die Vermutung zu, dass sie bislang eher als “Kavaliersdelikte” interpretiert wurden. Wahrscheinlich bedurf-te es erst eines fortgeschrittenen Feminismus, um solche Phänomene als das, was sie sind, nämlich als sexistische Ausbeutung anzuprangern. Als patriarchalische Erschei-nungen sind übrigens auch sexuelle Übergriffe zu werten, bei denen Frauen in ranghö-heren Positionen stehen. In Analogie zu anderen gesellschaftlichen Zusammenhängen adaptieren dann eben Frauen “altbewährte” patriarchalische Muster.
Die derzeit geführte Debatte um sexuellen Missbrauch erzeugt aber nun ihrerseits eine Reihe gesellschaftlicher Phänomene mit zum Teil konstruktiven, zum Teil gegen-läufigen Konsequenzen. Durch die generelle Enttabuisierung dieses Themenbereichs trauen sich derzeit immer mehr Opfer aus ihrer Deckung und klagen ihre ehemaligen Missbraucher öffentlich an. Allein schon die Tatsache, dass man ihnen heute bereitwil-liger als früher Gehör schenkt, Erfahrungen mitzuteilen, die sie oft über viele Jahre ver-schämt und schuldbeladen vor sich und anderen zu kaschieren suchten, hat vielfach hei-lende Wirkung.
Wie aber hei allen Themen mit hohem Publizitätswert brachte auch dieses geradezu skurril anmutende Exzesse hervor. Wie Tavris (1994) berichtet, entwickelte sich in den USA bereits bis Ende der 80er Jahre eine regelrechte “Missbrauchsindustrie” mit ent-sprechend spezialisierten Rechtsanwälten, Gutachtern, Psychotherapeuten usw., die jede Klientin, selbst wenn sie nur die vage Idee eines Übergriffs äußerte, zum Coming Out mit allen Rechtskonsequenzen anfeuerten. Diese Entwicklung bringt derzeit sogar Ver-bandsgründungen von unschuldig Beklagten hervor, die nun ihrerseits die Öffentlichkeit gegen den “Missbrauch mit dem Missbrauch” zu mobilisieren suchen (ebd.). Sie be-schäftigen ebenfalls Scharen von Rechtsanwälten, Gutachtern usw. In den meisten die-ser Fälle steht der Verdacht des Missbrauchs an kleinen Kindern zur Diskussion, der sich aber, wie viele Experten einwenden, juristisch schwer erhärten lässt. Gerade Kinder sind nämlich in hohem Maße suggestibel, d.h. sie neigen dazu, “Zeugenaussagen” zu produzieren, die ihre Interviewer oder ihre Bezugspersonen erwarten. Der Verdacht des Missbrauchs an Kindern dient heute oft als Ausgangspunkt breit angelegter Intrigen-spiele bei Ehescheidungen. Er wird aber zunehmend auch im Bereich der öffentlichen Erziehung erhoben. Hier richtet er sich meistens auf männliche Erzieher, die dann, He-xenprozessen vergleichbar, kaum noch eine Chance zu ihrer Exkulpation erhalten. Der inflationäre Umgang mit Missbrauchsverdächtigungen begünstigt derzeit ein gesell-schaftliches Klima der Veralltäglichung sexueller Missbrauchsphänomene. So zeichnen sich in der letzten Zeit leider schon wieder Tendenzen ab, derartige Vorkommnisse zu bagatellisieren.

 


4.4 Missbrauch in der Supervision

 

Was heute über sexualisierte Therapie-Beziehungen schon umfassender erarbeitet wurde, gilt im Grundsatz auch für supervisorische. Auch hier finden wir nämlich im-mer, wenn auch mildere Formen von Eltern-Übertragungen. Und auch hier handelt es sich im Prinzip um Agape-Beziehungen. Dieser Aspekt von Supervision wird allerdings meistens noch verkannt, denn sie wirkt ja im Vergleich zur Psychotherapie auf den ers-ten Blick weitaus “profaner”. Die Tradition von Psychotherapie speist sich aus magi-schen Riten, aus religiösen Praktiken und aus unterschiedlichen Formen von Priestertum (Schmidbauer 1975). Wie eben erläutert, entfalten sich deshalb in Psychotherapien häu-fig geradezu mystisch anmutende Heilserwartungen, die mit tiefgreifenden Übertra-gungs/Gegenübertragungs-Relationen einhergehen. Supervision dagegen stellt mit ihrer Zentrierung auf berufliche Fragestellungen eine typische Beratungsform der Moderne dar. Durch ihre Thematik erzeugt sie viel seltener stark asymmetrische Relationen und dementsprechend auch blassere bzw. schwächer emotionalisierte Formen von Autori-tätsübertragungen.
Nichtsdestoweniger begegnen uns auch in supervisorischen Zusammenhängen Phä-nomene von sexuellem Missbrauch. Sie finden in Analogie zur psychotherapeutischen Szene nicht nur im Verlauf von Supervisionen, sondern auch im Verlauf von Supervisi-onsausbildungen statt. Und auch hier begegnen uns sämtliche Varianten von Vertu-schungsstrategien. Die Basis für Autoritätsübertragungen mit allen potenziellen Miss-brauchsbereitschaften bilden allerdings in diesem Feld seltener frühkindliche Sehnsüch-te. Hier sind vermutlich eher unbewusste Statuswünsche maßgeblich, nämlich durch die Verbindung zum “Superguru” ein profundes Expertentum mit einer entsprechenden gesellschaftlichen Platzierung zu erlangen. Art und Qualität der Übertragungen richten sich wahrscheinlich nach dem zugrundeliegenden Supervisionsansatz. Je therapienäher das Supervisionskonzept ist, desto therapieähnlicher gestalten sich auch die Ü1bertragungen. Hier kommt vor allem dem Interaktionsstil des Supervisors zentrale Bedeutung zu. Je nachdem, ob er sich durch abstinente Haltungen “vergeheimnist” oder ob er sich und seine Kompetenzen wie selbstverständlich transparent macht, wird er bei seinen Supervisanden Autoritätsübertragungen mit allen potenziellen Konsequenzen begünstigen oder nicht.

 


5. Aufgaben von Supervisoren im Zusammenhang mit
Liebesphänomenen in der Arbeit

 

Liebesbeziehungen werden in der Supervision vor allem zu drei Fragenkomplexen thematisiert:

 

– Manchmal fühlen sich Supervisanden an ihrem Arbeitsplatz durch eine Liebesbe-ziehung anderer irritiert und wollen sie besser als bisher verstehen sowie ihr ange-messener als bisher begegnen.
– Gelegentlich beobachten Supervisanden mit Führungspositionen in ihrem Einfluss-bereich eine Liebesbeziehung, die starke organisatorische Irritationen nach sich zieht. Dann sind sie oft gezwungen, eine Entscheidung zu treffen, wie die Gesamtsi-tuation sinnvoller als bisher zu regeln ist.
– Wieder andere Supervisanden sind an ihrem Arbeitsplatz selbst in eine Liebesbezie-hung involviert und suchen Unterstützung, wie sie diese angemessen handhaben können.

 

Solche Fragestellungen werden allerdings in unterschiedlichen supervisorischen Set-tings je unterschiedlich thematisiert. Und bei ihrer Behandlung ist zu beachten, dass Liebesbeziehungen im sozialen Dienstleistungsbereich zwischen Vertretern des Mitar-beiter- und des Klientensystems grundsätzlich anders zu bearbeiten und anders zu be-werten sind. Deshalb soll an dieser Stelle auch zwischen der Behandlung von Liebes-phänomen am Arbeitsplatz und der von “Liebesübergriffen” Professioneller auf Klien-ten differenziert werden.

 


5.1 Aufgaben des Supervisors im Hinblick auf Liebesphänomene
am Arbeitsplatz

 

Anhand aller bisherigen Ausführungen dürfte schon deutlich geworden sein, dass in supervisorischen Dialogen über Liebe am Arbeitsplatz jeweils vielfältige Parameter zu berücksichtigen sind. Deshalb lassen sich auch selten auf Anhieb bündige Bewertungen oder entsprechende Entscheidungen für die eine oder andere Handlungsweise treffen. Meistens muss erst eine umfassende erlebnishafte Rekonstruktion der in Frage stehen-den Liebesbeziehung unternommen werden. Dabei ist in einem multiparadigmatischen Verständnis nicht nur das Befinden der jeweiligen Individuen und die spezifische Rol-lenkonstellation, in die sie eingebettet sind, zu untersuchen. Im Allgemeinen muss auch das Umfeld, in der die Beziehung steht, beleuchtet werden. Dann sind Organisations-struktur und -kultur, die kulturellen Muster des Berufsfeldes, eventuell zu erwartende Intrigen, die möglichen Konsequenzen der Liebesbeziehung für die Systemmitglieder und eventuell auch die Konsequenzen für externe Interaktionspartner zu betrachten.

 

Am flüssigsten gestalten sich derartige Rekonstruktionen in der Einzelsupervision; denn sie bietet ja einen intimen Rahmen, der die Auseinandersetzung mit Tabuthemen erleichtert. In Gruppensupervisionen ist dagegen immer ein höherer Grad an Öffentlich-keit etabliert, der die Behandlung von Liebesphänomenen generell erschwert. Wenn sich die Teilnehmer schon vom “Hören-Sagen” kennen oder gar benachbarten Systemen angehören, vermeiden sie vor allem “Liebesthemen”, in die sie selbst verwoben sind. Aber auch Fragestellungen, wo unterstellte Mitarbeiter oder Kollegen in “Liebeshändel” verstrickt sind, wagen sie hier oft nicht vorzubringen. Wenn sie Entsprechendes prob-lematisieren, befürchten sie nämlich häufig, als “spießig” oder “moralinsauer” apostro-phiert zu werden. Am schwierigsten erweist sich die Behandlung von Themen “rund um die Liebe” in der Teamsupervision. Hier haben die Mitglieder oft schon vor Beginn der Beratung kollektive “Schweigearrangements” getroffen, die wie eine undurchdringliche Wand wirken und Supervisoren immer wieder “abrutschen” lassen. Liebesphänomene in einem Team sind im Allgemeinen erst dann zu verhandeln, wenn sie für Einzelne oder eine Subgruppe zur “Plage” geraten. Bei ihrer Bearbeitung ist allerdings äußerste Sensibilität geboten. Oft befürchten nämlich diejenigen, die ein “Liebesproblem” an-sprechen, ausgesondert zu werden. Das ist vor allem dann gerechtfertigt, wenn formale oder informelle Führer in eine tabubeladene Relation verstrickt sind oder sich zu verstricken drohen. In solchen Fällen müssen Supervisoren eine “Beschützerfunktion” gegenüber den “Tabubrechern” übernehmen und dafür Sorge tragen, dass die als “Tabu” definierte Thematik in möglichst vielen rationalen und emotionalen Verästelungen “auf den Tisch kommt”. Erst auf diese Weise lässt sich nämlich in Teams eine Veralltägli-chung von Liebesphänomen mit der Konsequenz genereller Enttabuisierung und Dia-logoffenheit einleiten.

 


5.2 Aufgaben des Supervisors bei “Liebesübergriffen” von Professionellen auf Klienten

 

Manifeste sexuelle Übergriffe von Professionellen auf Klienten sind immer umfas-send zu problematisieren und immer kritisch zu bewerten. Denn hier handelt es sich ja um ethisch inakzeptable Haben-Relationen. Ähnlich stellt sich die Bewertung bei Be-ziehungen von Professionellen zu “Ehemaligen” oder bei latent sexualisierten Interakti-onen zu Klienten, seien es Menschen gleichen oder anderen Geschlechts.
Aufgrund der hohen Tabuisierung solcher Relationen werden sie am ehesten in der Einzelsupervision thematisiert. Das gruppensupervisorische Setting dagegen beinhaltet in der Regel schon ein Zuviel an Öffentlichkeit, um Missbrauchsphänomene zu themati-sieren. In den letzten Jahren lässt sich allerdings beobachten, dass in der Supervision mancher Teams ein Missbrauch vor allem von Kolleginnen auf den Tisch “gezerrt” wird. Ein Beispiel:

 

Zwei Mitarbeiterinnen einer Beratungsstelle vermuteten, dass sich ihr Chef an meh-reren Klientinnen vergeht. Sie beschlossen, ihre “Ahnungen” in die Teamsupervision einzubringen, um sie im “Windschatten” der Supervisorin mit ihrem Vorgesetzten zu erhärten oder zu zerstreuen. Ihre Aktion mobilisierte bei dem Beklagten auffallend star-ke Widerstände. Sie hatte immerhin den Effekt, dass nun alle Mitarbeiterinnen des Sys-tems aufmerksamer als bisher die Aktionen des Leiters in privaten und beruflichen Zu-sammenhängen beobachteten. Unter anderem deshalb konnte er nach einiger Zeit we-gen Missbrauchs (nun allerdings an seiner minderjährigen Tochter) überführt und ent-sprechend bestraft werden. In diesem Fall hatte die teamsupervisorische Situation zu-mindest dazu beigetragen, den Schleier von “Unaussprechlichkeit” und “Undenkbar-keit” zu lüften.

 

Im teamsupervisorischen Setting müssen allerdings Supervisoren heute auch einen “Missbrauch mit dem Missbrauch” antizipieren. Das aktuelle gesellschaftliche Klima begünstigt nämlich leichtfertige Missbrauchsvorwürfe, die dann den Ausgangspunkt für extremisierte Mobbingprozesse bilden. So ist hier immer in Betracht zu ziehen, dass kollektiv vorgetragene Missbrauchsvorwürfe, die sich nicht sogleich erhärten lassen, auch Ausdruck gruppendynamischer Exzesse mit “neuen Mitteln” sein können. In der-artigen Fällen ist der Supervisor gezwungen, vorübergehend die Rolle eines “Teamsta-bilisators” einzunehmen, damit die fraglichen Vorwürfe sachlicher als bisher diskutiert und vor allem ihre Genese rekonstruiert werden können.
Im Zuge der Auseinandersetzung mit Missbrauchsphänomenen treten aber sogar in der Einzelsupervision gefühlsmäßige Eskalationen bei Supervisanden auf. Die Dialoge sind am stärksten emotionalisiert, wenn Supervisanden selbst in ein hochgradig illegiti-mes Bündnis verstrickt sind oder sich gerade zu verstricken drohen. In gravierenden Fällen widersetzen sie sich schon dem Aufdecken solcher Verhältnisse, was gelegent-lich sogar zum Abbruch der Supervision führt und damit zum Abbruch des Dialogs, in dem ethische Auseinandersetzungen stattfinden könnten. Der Supervisor wird dann als “Feind” definiert, dem man nicht mehr trauen kann. Aus diesem Grund sollten Supervi-soren alle diesbezüglichen Vermutungen und Wertungen immer so behutsam wie mög-lich artikulieren; denn “Missbrauchsahnungen” stellen nicht nur einen Angriff auf die professionelle, sondern sogar die menschliche Kompetenz von Supervisanden dar. Missbrauch in therapeutischen und agogischen Arbeitsfeldern ist für die Professionellen selbst meistens hochgradig tabuisiert, sodass sie ihre diesbezüglichen Gefühle und Handlungen nicht nur zu vertuschen, sondern auch zu beschönigen suchen. Dies ge-schieht in der Regel unter Hinweis auf erosähnliche Förderungsabsichten, wodurch der Agape-Charakter solcher Relationen in ethisch unzulässiger Weise umgedeutet wird.
Wenn es bei solchen illegitimen Bündnissen, in die der Supervisand selbst eingebunden ist, überhaupt gelingt, einen Dialog über diese zu führen, ist auch wieder äußerste Sensibilität geboten. Da sich hier in aller Regel auch der “Täter” suchtartig an sein “Opfer” gebunden fühlt, muss es vorrangig darum gehen, den Supervisanden zu unter-stützen, wie er die Relation für sich und das Opfer verantwortlich be-enden kann. In Fällen, wo keinerlei Unrechtsbewusstsein besteht oder die Ereignisse nur beschönigt werden, sollten Supervisoren ihren Kon-trakt beenden.
In Fällen von fortgesetztem justiziablem Missbrauch an Minderjährigen oder Un-mündigen kann der Supervisor sogar rechtlich verpflichtet sein, übergeordnete Instan-zen einzuschalten. Ein solches Vorgehen ist auch aus ethischen Gründen gerechtfertigt. Durch den Kommunikationszusammenhang mit dem Supervisanden übernimmt der Supervisor nämlich automatisch Verantwortung für dessen Klienteninteraktionen, zu-mindest für die, die mit ihm verhandelt wurden. In solchen Fällen können sich Berater jedenfalls nicht mehr auf Positionen zurückziehen, wonach Supervisanden für ihr Han-deln gegenüber Klienten allein verantwortlich sind (Schreyögg 1991). Vor dem Ein-schalten von Rechtsinstanzen sollten Supervisoren allerdings unbedingt eine entspre-chende Beratung in Anspruch nehmen, damit ihnen nicht unversehens eine Anklage wegen “übler Nachrede” ins Haus flattert. Es ist nämlich nur in Ausnahmefällen zu er-warten, dass sich Missbrauchstäter widerstandslos zu ihren Taten bekennen. Grad und Ausmaß der Widerstände werden verständlich, wenn man sich deutlich macht, dass überführte Missbraucher ihre berufliche Reputation und in gravierenden Fällen sogar ihre gesamte berufliche Basis einbüßen.
Bei aktuellem Therapiemissbrauch von “Mündigen” und erst Recht bei Übergriffen von Therapieausbildern sind Supervisoren allerdings meistens gezwungen, sich mit ih-rer eigenen Ohnmacht zu arrangieren. Selbst wenn sie Rechtsinstanzen einschalten wollten, können diese bei formal mündigen Menschen nur dann aktiv werden, wenn Zeugenaussagen von unmittelbar Betroffenen vorliegen. Diese sind aber verständli-cherweise erst nach Beendigung des Liebesverhältnisses zu einem solchen Schritt be-reit. Auch die psychische Verarbeitung derartiger Erfahrungen dauert oft etliche Jahre, sodass die Delikte vielfach verjähren. Überdies handeln sich die Betroffenen bei Prozes-sen nochmalige Beschädigungen ein. Auch hier ist nämlich regelmäßig zu erwarten, dass die Beklagten jede erdenkliche Möglichkeit der Verteidigung nutzen. Und die ma-nifestiert sich meistens in Angriffen “unterhalb der Gürtellinie”. So setzen sich ehedem Missbrauchte einem erheblichen psychischen Druck aus, der durch Angriffe seitens verbliebener “treuer Anhänger” eventuell noch verschärft wird. In der Regel erstattet der Täter im Gegenzug Anzeige wegen übler Nachrede, sodass Betroffene durch even-tuell anfallende Prozesskosten auch in finanzieller Hinsicht oft bis zum Äußersten stra-paziert werden (Pope, Bouhoutsos 1968).
Bei verjährten Übergriffen ließen sich im Prinzip Ethikkommissionen von Thera-pieverbänden oder -instituten anrufen. Allerdings vermögen auch diese nur dann einzu-schreiten, wenn manifeste Zeugenaussagen vorliegen. Von den meisten Betroffenen wird aber auch diese Form der Veröffentlichung gescheut. Sie befürchten zu Recht, durch solche Verfahren ebenfalls rigorose Abwehrmaßnahmen beim Täter in Gang zu setzen. Eine bewährte Strategie, Klägerinnen vor Ethikkommissionen zum Schweigen zu bringen, besteht im Erwirken “einstweiliger Verfügungen”. Dann können entspre-chende Vorwürfe (außerhalb von Gerichten) nur noch um den Preis hoher Geldsummen wiederholt werden. Aussagen vor Ethikkommissionen, die ja keine offiziellen Rechtsin-stanzen darstellen, fallen ebenfalls unter dieses Verdikt. Durch geschicktes Taktieren können deshalb sogar notorische Missbraucher weitgehend unbehelligt bleiben und Ethikkommissionen auf die Beschäftigung mit Bagatellen verweisen. Aus diesen Grün-den erfüllen diese Instanzen in der Regel nur eine Feigenblattfunktion, nämlich ein vor-dergründiges Soliditätsimage von Verbänden oder Instituten nach außen zu sichern.

 


Literatur

 

Böhme, G. (1985): Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Elias, N. (1976): Über den Prozeß der Zivilisation. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Der Spiegel (1995): Psychosekte. Sexkur beim Guru. Nr 4/23.1.95, S. 188-190.
Luhmann, N. (1982): Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Pages, M. (1974): Das affektive Leben der Gruppen. Stuttgart: Klett (Orig. 1968).
Pope, K.S., Bouhoutsos, J.C. (1992): Als hätte ich mit einem Gott geschlafen. Sexuelle Bezie-hungen zwischen Therapeuten und Klienten. Hamburg: Hoffmann + Campe.
Schmidbauer, W. (1975): Vom Es zum Ich. München: dtv.
Schreyögg, A. (1991): Supervision – ein integratives Modell. Lehrbuch zu Theorie und Praxis. Paderborn: Junfermann.
Sternberg, R.J., Ernst, H. (1994): Die Liebe – eine Geschichte? Interview. Psychologie Heute 21 (12), S. 27-29.
Tavris, C. (1994): Der Streit um die Erinnerung. Psychologie Heute 21 (6), S. 20-30.
Willke, H. (1989): Systemtheorie moderner entwickelter Gesellschaften. Weinheim, München: Juventa.