Charismatiker und ihre Nachfolger
Wie Wolfgang Schmidbauer anmerkt, präsentieren sich erfolgreiche Männer oft Gottähnlich (Schmidbauer 1999). Das korrespondiert mit der aktuellen Führungsdebatte in angelsächsischen Ländern. Dort avancierte persönliche Ausstrahlung unter dem Begriff “Charisma” zu einem wesentlichen Erfolgsfaktor in Unternehmen. Bei Durchsicht einschlägiger Publikationen beschleicht einen der Eindruck, nun sollten sich möglichst schnell und möglichst viele Führungskräfte zu “Visionären”, “Missionaren” oder “Helden” entwickeln. Abgesehen von Realisierungsproblemen bleibt zu fragen, ob das massenhafte Auftreten von Charismatikern überhaupt wünschenswert ist. Wie nämlich Analysen der organisatorischen Realität zeigen, ergeben sich durch derartige Phänomene erhebliche Risiken. Sie betreffen das Unternehmen, sie betreffen potentielle Nachfolger solcher Führungskräfte und sie betreffen sogar den Charismatiker selbst.
1. Die klassische Denkfigur “Charisma”
“Charisma” im Zusammenhang mit Führungsphänomenen wurde ursprünglich von Max Weber (1922) thematisiert. Er entlehnte den Begriff der christlichen Theologie, wo er außergewöhnliche Begabungen bezeichnet. Weber verwendet den Terminus, um einen außeralltäglichen Typ von Herrschaft, bzw. von Führungskonstellationen zu umreißen. Seine zentrale Fragestellung ist, aufgrund welcher Motive Geführte einem Führer Gefolgschaft leisten. Er ist damit der erste Autor, der Führungsphänomene eher als das Ergebnis spezifischer sozialer Konstellationen umreißt, während sie bis dato ausschließlich als Ausdruck der Persönlichkeit eines Führers betrachtet wurden. Nach Weber resultiert die spezifische Art von Führung aus einem Konglomerat von persönlichen Merkmalen des Führers und Rollenzuweisungen seitens der Geführten, die allerdings ihre Besonderheit immer erst in Relation zu bestimmten Situationen entfalten.
Als situativen Ausgangspunkt charismatischer Herrschaft begreift Weber von innen oder von außen verursachte Krisen eines Sozialsystems. Sie führen zu kollektiven Erregungszuständen, die mit Sehnsüchten nach “Rettung” einher gehen. Die Sehnsüchte erzeugen regressive Hingabebereitschaften an potentielle Helden, Missionare oder ähnliches. Als solche werden von einem Kollektiv diejenigen ausstilisiert, die eine glückhafte Wandlung verheißen. Sie erhalten von den Geführten nun sukzessiv Zuschreibungen von Außeralltäglichkeit. Das verunsicherte Kollektiv bedarf ja zu seiner Stabilisierung eines möglichst großartigen Menschen. Aus solcher Ettikettierung bezieht der Auserwählte seine gesamte Legitimation, die auch alle seine Handlungsstrategien bestimmt. Ihr Charakteristikum besteht im Nicht-Rationalen bzw. in gefühlshafter Beliebigkeit. So rekrutiert der charismatische Führer seine Helfer ausschließlich nach subjektiven Gesichtspunkten und trifft auch primär emotional geleitete Entscheidungen, die als ad-hoc-Entscheidungen für die Geführten oft nicht durchschaubar sind.
Dieser Führertyp muß sich allerdings laufend durch außergewöhnliche Taten bewähren. Als entscheidender Maßstab für die weitere Gefolgschaft gilt nämlich, inwieweit sein Handeln zum Wohle der Gemeinschaft beiträgt. Wenn er sich in den Augen der Geführten nicht entsprechend bewährt, schlagen die überhöht positiven Zuschreibungen in negative, also in Stigmatisierungen um. In Fällen allerdings, wo sich der Führer dauerhaft als würdig erweist und sich die Geführten langfristig an seine Wohltaten gewöhnt haben, spricht Weber von einer “Veralltäglichung” des Charisma. Auf diesem Weg führt sich das Charismatische schleichend selbst ad absurdum, d.h. es verliert seinen Glanz. So bleibt charismatische Herrschaft immer labil und stellt im Prinzip eine typische Anfangserscheinung sozialer Systeme dar.
Kontrastierend zur “charismatischen Herrschaft” arbeitet Weber zwei weitere Herrschaftstypen heraus, die “traditionelle” und die “legale”. Als traditionelle Herrschaft bezeichnet er eine Führungskonstellation, die sich aus der Sicht des Führers und der Geführten durch Geburt bzw. durch Vererbung definiert, wie wir es in Monarchien finden. “Legale Herrschaft” bezieht demgegenüber ihre Legitimation aus einer gesetzten Ordnung, wie sie Weber in Bürokratien bzw. organisierten Systemen beschreibt. Seiner Meinung nach stehen legale Herrschaftsphänomene innerhalb formaler Organisationen in scharfem Kontrast zur charismatischen Herrschaft. Wo nämlich Führer in Bürokratien ihre Legitimation auf eine rational fundierte Ordnung gründen, basiert charismatische Herrschaft auf der Negation von Rationalität bzw. im Irrationalen. Dementsprechend verneint Weber indirekt die Möglichkeit, daß Charisma auch in formalen Systemen auftreten kann (Steyrer 1995).
2. Moderne Interpretationen charismatischer Führung
Gegen die strikte Dichotomisierung Webers in rational orientierte Systemphänomene auf der einen Seite und in dezidiert nicht rational geleitete auf der anderen regte sich bei etlichen Organisationstheoretikern Widerspruch. Schon anläßlich der Human-Relations-Debatte (Roethlisberger & Dickson 1939) zeigte sich, daß Betriebe in ihrem Innenraum keineswegs so rational “funktionieren”, wie Weber noch angenommen hatte. Eine Radikalisierung solcher Positionen finden wir in den 80er Jahren. Durch Auseinandersetzungen mit mikropolitischen Prozessen in Unternehmen (Neuberger 1995 a) und vor allem durch die Organisationskulturdebatte (Schein 1985) erlangten nicht rationale Erscheinungen in formalen Organisationen bei vielen Autoren eine geradezu selbstverständliche Bedeutung. In diesem Zusammenhang kreierten namhafte Autoren wie Peters & Waterman (1983), Pascal & Athos (1982) u.a. auch neue Führungskonzepte. Sie beschrieben nun “Helden” oder “Missionare”, denen es als “Kulturprotagonisten” gelang, in ihrem Handeln die Kultur einer Organisation exemplarisch zum Ausdruck zu bringen und dadurch ein gesamtes organisatorisches System zu ungeahntem Erfolg.
Zeitgleich erschien eine Fülle von New -Age-Literatur und von Publikationen, die das generelle Sinndefizit moderner Industrienationen beklagten. Alles dies mündete in die Suche nach Führungskonzepten auf nicht rationaler Basis, zumal die bisherigen Versuche, erfolgreiche Führung durch Rationalität zu fundieren, angesichts der zunehmenden Komplexität von Organisationen zum Scheitern verurteilt schienen (Neuberger 1995 b). Daraufhin wurde im anglo-amerikanischen Raum das Charisma Konzept aus seinem “Dornröschenschlaf” (Steyrer 1995, S. 45) wieder erweckt.
Seit dieser Zeit erschienen vor allem in anglo-amerikanischen Fachzeitschriften eine Vielzahl von Aufsätzen zum “Charisma Approach”. Es finden sich viele konzeptionelle Beiträge, aber noch häufiger empirische Untersuchungen. Charisma wird allerdings in diesem Milieu meistens nicht mehr als kategoriales Phänomen betrachtet, das existiert oder nicht existiert, sondern es wird als dimensionale Erscheinung gefaßt, die im Sinne von mehr oder weniger quantifizierbar ist. Dabei akzentuieren die Autoren je nach ihrer Grundorientierung unterschiedliche Aspekte der Weber’schen Konzeption (Steyrer 1995).
• Etliche interpretieren Charisma im Sinne “transformationaler Führung” rein “führer-zentriert und bleiben damit dem traditionellen Eigenschaftsansatz verpflichtet. Danach erkennt der Führer ein Defizit, entwickelt alternative Zukunftsvisionen, kommuniziert sie an die Mitarbeiter und realisiert mit ihnen gemeinsam neue Zielsetzungen (vgl. Burns 1978, House 1987 u.a.).
• Eine andere Gruppe von Autoren, die den Kognitivisten zuzuordnen ist, deutet Charisma geführten-zentriert aus (vgl. Lord/Maher 1989). Ihrer Meinung nach handelt es sich um ein Phänomen, das einem Führer seitens der Geführten apostrophiert wird. Aus der Sicht dieser Autoren resultieren charismatische Zuschreibungen entweder aus gruppendynamischen Prozessen oder aus Konflikt- bzw. Krisensituationen.
• Wieder andere fassen Charisma als kontext-spezifische Erscheinung. Diese Gruppe von Autoren (z.B. Roberts/Bradley 1988) beschäftigt sich allerdings meistens mit Charisma in sozialen Bewegungen oder in Sekten, nicht dagegen in Organisationen. Ihrer Meinung nach gehen von Charismatikern visionäre Angebote aus, die in Verbindung mit der entsprechenden Symbolik viele Menschen mit ähnlichen Bereitschaften zu einem Kollektiv verschmelzen. Der Charismatiker fungiert dabei als Katalysator. Im Prinzip handelt es sich meistens schon um interdependenz-orientierte Ansätze, d.h. um argumentative Zugänge, die zwei Aspekte von Charisma kombinieren. So werden bei kontextspezifischen Ansätzen meistens Bedingungen des Milieus zu Merkmalen von Führern in Beziehung gesetzt. Die Autoren unterstellen, daß eine Gemeinschaft jeweils denjenigen zu ihrem Führer ausstilisiert, der die zum Kollektiv passenden Persönlichkeitsmerkmale aufweist.
• Eine weitere Gruppe von Autoren, die interdependenz-orientierte Erklärungsmuster anbietet, kombiniert Merkmale von Führern wie Geführten und untersucht dann das Beziehungsgefüge zwischen beiden. Zu dieser Gruppe gehören Kets de Vries (1989; siehe auch Kets de Vries & Miller 1988) sowie Steyrer (1995). Diese Autoren unterlegen Deutungen der modernen Ich-Psychologie. Sie argumentieren im Anschluß an das Narzißmuskonzept von Kohut (1976), daß sich bei charismatischen Phänomenen Defizite von Führern und Geführten kollusiv (Willi 1982) verschränken.
Im Verständnis Kohuts durchläuft jeder Menschen frühkindliche Stadien, in denen er seine nächsten Bezugspersonen, meistens die Eltern, als allmächtig idealisiert und sich in Identifikation mit ihnen ein ebenfalls hoch idealisiertes Selbstbild im Sinne von Allmacht schafft. Wenn aber nun diese frühkindliche grandiose Selbstimago von den Eltern nicht entsprechend beantwortet wird, entwickeln Menschen dauerhaft eine unstillbare Sehnsucht, diese Grandiosität von anderen gespiegelt zu erhalten. Aus diesem Zusammenhang resultiert nach Meinung der genannten Autorengruppe die notorische Suche charismatischer Führer nach einem Publikum, das sie unterstützen und bewundern soll.
Die zum charismatischen Führer spiegelbildlichen, d.h. kollusiven Bewältigungsstrategien narzißtischer Defizite schlagen die Geführten ein. Sie fühlen sich gleichfalls von ihren Eltern narzißtisch enttäuscht , ziehen aber ihre libidinösen Energien von den Eltern ab. Das heißt, sie idealisieren sie nicht mehr, sondern sie suchen nach alternativen Idealpersonen, also nach “neuen Eltern”, die sie nun ständig bewundern können und von denen sie die heiß ersehnte Spiegelung im Sinne von Grandiosität erhoffen.
3. Eine Typologie charismatischer Führung
Neben der Genese von Charisma thematisieren etliche Autoren auch seine unterschiedlichen Manifestationen. Steyrer (1995) unterscheidet in Anlehnung an Neuberger (1995 b, S. 41-61) und dessen “Führungsarchetypen” vier Konfigurationen von Charisma mit ihren jeweiligen Dramatisierungsmustern: das paternalistische, das heroische, das missionarische und das majestätische.
(1) Der paternalistische Charismatyp orientiert sich an dem abendländischen Urbild des Vaters, das in der römischen Antike geprägt wurde. Der Pater Familias nahm eine moralische Herrscherstellung ein, wonach er für seine Familie mit allen seinen Kräften zu sorgen hatte. Gleichzeitig oblag ihm die Gewalt über Leben und Tod, d.h. ihm wurde sogar ein Tötungsrecht an den Seinen zugebilligt.
Paternalistisches Charisma beinhaltet deshalb immer polare Haltungen zwischen Despot und infantilisierendem Wohltäter sowie zwischen Schöpfer und rachsüchtigem Herrscher. Als Wohltäter und Schöpfer begegnet er seinen Anhängern verständnisvoll, verzeihend, wohlwollend und sorgend. Als Despot verhält er sich streng, fordernd, strafend, ja sogar kastrierend.
Aus diesem Grund löst der paternalistische Charismatiker bei seinen Anhängern oft ambivalente Gefühle aus zwischen Liebe und Haß, zwischen Vertrauen und Angst, zwischen Folgsamkeit und Rebellion. Äußerlich präsentiert er sich als betont Ich-stark, dabei sozial zugewandt, aber auch reglementierend.
(2) Für das heroische Charisma ist der “Held” der entsprechende Archetyp. Er bezeichnet im indogermanischen Sprachraum einen “Antreiber”, der seine Herde unter Einsatz seines Lebens gegen Menschen oder naturwüchsige Gefahren verteidigt. Der Begriff steht für einen einsamen, mutigen Kämpfer, der im Stile des Herkules unbeirrbar seinen Weg geht und alle seine Feinde zu besiegen vermag. Phänotypisch wirkt der heroische Charismatiker äußerst dynamisch und phallisch narzißtisch.
Heldengeschichten weisen kulturübergreifend eine homologe Struktur auf: Die Geburt des Helden ist geheimnisumwoben, er entstammt armen Verhältnissen, obschon ein Elternteil durchaus göttlichen Ursprungs sein kann. Er wird aber von seinen Eltern verstoßen oder verlassen. Zu Beginn seines Lebens wird er verkannt, im Verlauf seiner Jugend lassen sich an ihm aber außeralltägliche Talente erkennen. Dadurch findet er überragende Lehrmeister, die ihm helfen, sich weiter zu vervollkommnen. Dann endlich erhält er seine eigentliche Berufung zu großen Taten. Bei ihrer Realisierung läuft er allerdings Gefahr, sich selbst zu überschätzen. Sein eigentlicher Heldenkampf, die Tötung eines Drachens oder die Überwindung eines Dämon, gelingt ihm aber letztlich doch und er geht aus diesem Kampf vergleichbar einem Initiationsritus geläutert hervor. Als Lohn erhält er nun meistens wertvolle Geschenke wie etwa ein Königreich.
Schein (1985) wendet die Metapher des Helden vor allem auf Unternehmensgründer an, die erst nach einer Vielzahl von Mutproben und dramatischen Kämpfen ihren Erfolg sichern können.
(3) Das missionarische Charisma taucht als “prophetisches Charisma” schon bei Weber auf. Sein abendländisches Urbild ist der erlösende Messias. Wenn Heilsbringer in Mythen auftreten, stellen sie übermächtige Wesen dar, die Gott ähnlich über unerschöpfliche Reflektionspotentiale verfügen.
Dieser Charismatyp ist in Gründungsstadien von Sekten oder vergleichbaren Gruppierungen anzutreffen (Gross 1994). In einer profanen Variante erscheint er als “transformationaler Führer”, der seine Mitarbeiter durch packende Visionen zu motivieren vermag. Wenn in der Organisationskulturdebatte von “Kulturprotagonisten” die Rede ist, sind ebenfalls meistens missionarische Charismatiker gemeint. Ihr Auftreten ist durch Extraversion, Direktheit, durch Ich-Stärke und, wie sich an vielen Sektengründern zeigt (Poweleit 1994), durch phallisch narzißtische Züge charakterisiert.
(4) Für das majestätische Charisma ist das maßgebliche Urbild der König. Majestätisches Charisma unterscheidet sich von den anderen drei Typen durch ein hohes Maß an Introversion. Jung (GW 14 II:1) betonte bei dem Archetyp des Königs seine Weisheit und seine tiefe Einsicht in weltliche und transzendentale Zusammenhänge. Seine Selbstpräsentation ist abgehoben, was sich an seinen Insignien manifestiert: Seine Krone spiegelt den Bezug zur strahlenden Sonne, sein mit Juwelen bestickter Mantel symbolisiert das Firmament und sein Thron steht für seine Erhöhung über die Menschen.
Der König präsentiert eine magische Quelle der Wohlfahrt und des Gedeihens von Mensch und Natur. Seine Weisheit manifestiert sich in grenzenlosem Wissen und Verstehen. Im Gegensatz zu den anderen Charismatypen strahlt er Ruhe aus, ist entspannt, selektiv weich, weise und sogar intellektuell.
Diese Typologie rekurriert ausschließlich auf männliche Archetypen. Das findet seine Entsprechung in der empirischen Forschung. Nach Durchsicht der einschlägigen Literatur kommt z.B. Steyrer (1995) zu dem Ergebnis, daß von weiblichen Charismatikern in Organisationen nur in seltenen Ausnahmefällen berichtet wird. Und auch die phänomenale Erfahrung lehrt, daß Frauen viel seltener soziale Dramatisierungen im Sinne eines ausgeprägten Charismas an ihrem Arbeitsplatz entfalten. Heldische und missionarische Charismakonstellationen wirken bei Frauen eher stigmatisierend. Diese beiden Typen basieren ja auf phallisch narzißtischen Attitüden, die bei Frauen schneller als bei Männern als “albern” oder “aufgesetzt” entlarvt werden. Das feminine Pendant zum paternalistischen Charisma, also maternalistische Charismakonstellationen, finden wir relativ häufig in sozialen Dienstleistungssystemen im Gewand der “Hausmutter”, der “Oberin” usw. Als tendenziell entsexualisierte Varianten von Frausein werden sie heute aber selten als attraktive Rollenmuster begriffen. Anders verhält es sich mit dem majestätischen Charisma. Dieses finden wir z.B. personifiziert in Coco Chanel, Elisabeth Arden, Anita Roddick (Gründerin der Body Shops) usw. Es ist besonders in der Mode- und Kosmetikbranche verbreitet.
4. Charisma in organisatorischen Kontexten
Die Auftrittswahrscheinlichkeit der vier männlichen Charismatypen läßt sich nach zwei Gesichtspunkten prognostizieren (Steyrer 1995):
• nach dem Lebenszyklus einer Organisation und
• nach dem Organisationstyp.
4.1. Charisma als organisatorisches Prozeßphänomen
Zur Beschreibung organisatorischer Prozeßphänomene werden in der Literatur vielfach Entwicklungsmodelle herangezogen, die den Lebenszyklus von Organisationen anhand von drei, vier oder fünf Stadien charakterisieren (vgl. Türk 1989). Es handelt sich dabei um Modellkonstruktionen, die organisierten Systemen wie komplexen Organismen, autonome Reifeprozesse unterstellen (Lievegoed 1974, Pümpin & Prange 1991). Im Verständnis dieser Autoren schreitet in Analogie zur Entwicklungspsychologie der organisatorische Prozeß über Krisen voran.
(1) In der Pionierphase befindet sich eine Organisation in ihrem Gründungsstadium. Sie wird meistens von einzelnen Personen ins Leben gerufen. Der Pionier mit heroischen oder missionarischen Zügen stellt den eigentlichen Motor des Systems dar. Er bestimmt die Strategie und initiiert alle relevanten Prozesse. Er investiert viel Zeit und Energie in die Entwicklung des Systems, das in diesem Stadium eng auf seine Person bezogen ist. Wie Steyrer (1995) anmerkt, bildet dieses Stadium für Führer wie Geführte einen geradezu idealen Nährboden zur Kompensation narzißtischer Defizite.
(2) In die Wachstumsphase tritt eine Organisation dann ein, wenn sie entsprechende Märkte erschließen und ihr Angebot auf diesen gut plazieren kann. Merkmale dieses Stadiums sind ein rascher Effizienz- und Motivationszuwachs bei allen Beteiligten. Durch das Wachstum erhöhen sich allerdings die Anforderungen ans Management dermaßen, daß der Pionier zunehmend Überforderungsreaktionen zeigt, sich sein Sendungsbewußtsein abnutzt und er dadurch einen Teil seiner früheren charismatischen Strahlkraft einbüßt.
(3) Solche Komplikationen münden in eine Reifephase, in der organisationsinterne wie -externe Vorgänge zu Gunsten der Funktionsfähigkeit des Systems formalisiert werden. Das System pendelt jetzt eine neue Balance zwischen Innovation und Bewahrung des Status quo ein. Gegen Ende dieses Stadiums verliert das Management meistens den Bezug zur Basis, trifft dadurch zu formalistische Entscheidungen und gibt den Mitarbeitern zu wenig Raum zur Mitgestaltung und Eigeninitiative. Diese Machtbündelung korrespondiert in kleinen Organisationen wie etwa in Handwerksbetrieben mit der Entwicklung paternalistischer Charismakonstellationen, während sie in großen Systemen zur Ausbildung von “Majestäten” führt.
(4) Erstarrungen, die sich am Ende der Reifephase ankündigten, treten in der Wendephase voll zutage. Bei Führungskräften wie Mitarbeitern ist mangelnde Motivation zu erkennen, so daß das System immer weniger Effizienz erbringt. Aufgrund der Rigidität aller innerorganisatorischen Prozesse bzw. der mangelnden Innovationskraft besteht Gefahr, daß die Kapitalreserven nur noch dem Erhalt des Systems dienen und dadurch aufgezehrt werden. In solchen krisenhaften Stadien entwickelt sich meistens eine blühende Mikropolitik über Fragen, welche Korrekturen zum Erhalt des Systems vorgenommen werden müssen. Durch den Bedarf an strategischer Neuorientierung werden wieder kollektive Bereitschaften zur Zentralisation auf eine Person begünstigt. Dadurch ist das Feld für das Auftauchen neuer Heroen und neuer Missionare bereitet.
4.2. Charisma als organisationsspezifisches Phänomen
Die Auftrittswahrscheinlichkeit von Charismakonstellationen bzw. ihrer unterschiedlichen Ausgestaltung läßt sich auch nach dem jeweiligen Organisationstyp prognostizieren. Zur Differenzierung von Organisationen bietet sich ein Schema von Mintzberg (1991, nach Steyrer 1995) an. Danach ist die Gesamtheit aller Organisationen nach sechs Kategorien zu unterteilen in
• unternehmerische Organisationen,
• Maschinenorganisationen,
• diversifizierte Organisationen,
• Organisationen der Professionals,
• innovative und
• missionarische Organisationen.
(1) Als “unternehmerische Organisationen” bezeichnet Mintzberg kleine bis mittelgroße Handwerksbetriebe. An der Spitze dominiert ein Eigentümer eine relativ einfache, eher informell und flexibel gestaltete Struktur. In Pionierstadien finden wir besonders mit jungen Gründerpersönlichkeiten heroische Charismakonstellationen, bei langfristigem Bestehen der Systeme, wenn der Gründer älter geworden ist, paternalistische.
(2) Bei Maschinenorganisationen handelt es sich um Großbetriebe mit Massenproduktion etwa im Automobilbereich oder um Banken, Versicherungen usw. Hier bestehen rational orientierte formale Strukturen mit stark standardisierter Aufgabenerfüllung. Aufgrund der Dominanz des Rationalen finden wir hier selten Charismakonstellationen. Lediglich in Krisenzeiten treten heroische oder missionarische Charismatiker in Erscheinung.
(3) Diversifizierte Organisationen sind Systeme, die auf mehreren Markt- oder Produktfeldern operieren. Sie existieren z.B. in der Elektro- oder Pharmaindustrie. Die einzelnen Divisionen, die tendenziell Maschinenorganisationen ähneln, werden von relativ autonomen und meistens eher sachlich orientierten Managern geleitet. Dementsprechend finden wir hier auch selten soziale Dramatisierungen im Sinne von Charisma. In Krisenzeiten tauchen gelegentlich heroische Charismatiker auf. An der Spitze diversifizierter Organisationen ergeben sich aber meistens majestätische Charismaphänomene.
(4) Als “Organisationen der Professionals” bezeichnet Mintzberg einen Systemtyp, der primär von der Ausbildung seiner Mitglieder abhängig ist bzw. wo die Leistungserstellung ein hochqualifiziertes Fachwissen erfordert. Das sind Universitäten, Krankenhäuser oder Museen. Da die Fachlichkeit alle innerorganisatorischen Prozesse dominiert, begegnen uns hier nur in Ausnahmefällen charismatische Konstellationen. Dann handelt es sich allerdings um heroische oder missionarische Varianten, die wie etwa bei Herzspezialisten, ein gesellschaftlich höchst relevantes Fachgebiet betreffen.
(5) Mit “innovativen Organisationen” meint Mintzberg Servicebetriebe wie Softwarehäuser, Werbeagenturen, Unternehmensberatungen usw. Sie weisen fließende, oft dezentrale Strukturen mit multidisziplinären Teams auf. In diese Organisationskulturen sind am ehesten jugendliche Helden oder Missionare zu integrieren, deren Charisma sich allerdings nach kurzer Zeit abnutzt. Dann müssen sie neuen Helden oder Missionaren Platz machen.
(6) “Missionarische Organisationen” schließlich sind nach Mintzberg Systeme, in denen alle Prozesse von Wertvorstellungen oder von Ideologien überlagert sind. Hier handelt es sich um tendenzbetriebliche Systeme von Kirchen, Parteien oder Gewerkschaften, hier handelt es sich aber auch um viele therapeutische oder pädagogische Einrichtungen. Meistens ist das System einer missionarischen Gründerpersönlichkeit verpflichtet. In Krisenzeiten tauchen dann vielfach neue Missionare auf, um die sich allerdings hier schärfere Kämpfe als in anderen Organisationstypen ranken.
5. Risiken charismatischer Phänomene für Organisationen
Charismatische Führungskonstellationen erweisen sich in vielen organisatorischen Situationen als äußerst wirkungsvoll. Wie Steyrer (1995) anmerkt, können wohl postmoderne Gesellschaften aufgrund ihres Sinnverlustes auf ein gewisses Maß an sozialer Dramatisierung in der Arbeitswelt kaum verzichten. Sie scheinen ein sinnstiftendes Korrektiv zu primär rational bestimmten Systemzusammenhängen zu bilden. Durch ihre emotionale Einfärbung wirken sie vermutlich auch integrierend für berufliche Kollektive.
Entsprechende Extremisierungen stellen aber nach Meinung des Autors für jede Organisation ein Risiko dar. Ein ursprünglich ausgeprägtes Charisma, das sich durch tagtägliche Begegnungen der Interaktionspartner langsam veralltäglicht, erzeugt nämlich organisatorische Krisen. Mit dem Verlöschen seines Charismas zieht der Charismatiker auch das System in den Abgrund. Krisen, egal welchen Ausmaßes, können im Innenraum charismatischer Systeme kaum selbst reguliert werden. Charismatiker an der Spitze eines organisierten Systems verfügen in der Regel über eine umfassende formale Legitimation, die es ihnen erlaubt, alle relevanten Prozesse des jeweiligen Systems zu bestimmen. Sie sind maßgeblich für die Personalauswahl und die Ausgestaltung der Binnenstruktur. Als Mitarbeiter rekrutieren sie “Adjutanten” oder “Diener”, d.h. von ihnen emotional abhängige Personen, zu denen sie kollusive Beziehungen unterhalten. Diese garantieren dem Charismatiker seine Vorrangstellung. Bei solchen Mitarbeitern besteht kaum Gefahr, daß sie eigene Visionen entwickeln. Das aber birgt Gefährdungen für das System. Durch eine derartige Personalauswahl wird nämlich der innerorganisatorische Dialog einseitig konsensmäßig kanalisiert, so daß sich keine Fortentwicklung mehr ergeben kann. Bei “innovativen Organisationen” im Sinne Mintzbergs (1990) führt das zum raschen Untergang, bei den anderen Organisationstypen zur schleichenden Erstarrung. Wenn ein verkrustetes System in institutionalisierten gesellschaftlichen Segmenten verankert ist wie etwa eine Universitätsklinik, kann es beliebig lange “vor sich hindümpeln”. Bei einem privatwirtschaftlichen System wird das Tempo seines Niedergangs durch seine jeweilige Marktlage bestimmt.
Ein anderes Problem charismatischer Konstellationen betrifft die Etablierung angemessener Strukturen. In Fällen, in denen ein innovatives oder missionarisches System aufgrund seines marktgerechten Angebots höhere Wachstumsraten aufweist, ist ein Charismatiker bald mit der Koordination des Systems überfordert. Nun bestünde, um den Übergang in die Reifephase zu gewährleisten, die Notwendigkeit, formale Regelungen zu etablieren. Ausgeprägte Charismatiker, wie wir sie z.B. in missionarischen Organisationen finden, verleugnen aber aufgrund ihrer Grandiositätsphantasien lange ihre Überforderung. Außerdem befürchten sie durch formale Strukturen in ihren individuellen Handlungsspielräumen eingeschränkt zu werden. Aus diesem Grund finden wir bei ihnen die Neigung, die Organisation in Pionierstadien zu konservieren. Von den unmittelbaren Anhängern des Charismatikers werden solche Situationen in der Regel lange klaglos mit getragen, bei Mitarbeitern an der Peripherie mehrt sich dann aber der Unmut über automatisch zunehmende Pannen und Reibungsverluste. Das wiederum führt vielfach zur Stigmatisierung des Charismatikers mit den Konsequenzen einer schleichenden Destruktion des Systems.
6. Risiken für die Charismatiker selbst
Diese als konflikthaft erlebte Situation wird wie bei anderen Gelegenheiten, in denen Konflikte in Organisationen auftreten (Regnet 1992), von der Mehrzahl der Mitarbeiter personalisiert. Das heißt, im Laufe der Zeit fühlen sich selbst die früheren treuen Anhänger von ihrem “Guru” enttäuscht. Den interaktiven bzw. systemischen Charakter dieser Konfiguration erfassen sie nur in Ausnahmefällen. Wie vormals als Anhänger bleiben sie - nun allerdings in negativistischer Weise - auf die Zentralfigur fixiert. Ausschließliche Schuldzuweisungen an diese eine Person entheben sie auch der Notwendigkeit, sich mit den eigenen kollusiven Prädispositionen zu befassen. Alles das führt zu schleichenden Eskalationen. Im Sinne eines “kalten Konflikts” (Glasl 1994) wird der frühere Charismaträger nun zunehmend gemieden. Man redet hinter seinem Rücken, man umgeht oder unterläuft seine Anweisungen, man läßt ihn spüren, daß er einsam und nicht gerade willkommen ist.
Im Zuge solcher Entwicklungen geraten vormals charismatische Führungskräfte zunehmend unter Druck. Dieser kann so ansteigen, daß sie sich schweren Herzens entschließen, einen Coach zu konsultieren. Dabei stellt sich allerdings in der Regel schon die Auswahlprozedur als äußerst schwierig dar. Der Berater muß nämlich aus der Sicht des Charismatikers extrem hohe Anforderungen erfüllen nach dem Motto: “Wenn ich mich schon jemand anvertraue, dann muß es selbstverständlich der oder die Beste sein auf diesem Gebiet.”
Labilisierend für den Kontrakt wirken auch die Sozialisationserfahrungen des Charismatikers. Wer sich über Jahre, manchmal sogar über Jahrzehnte hinweg in einer fachlichen und womöglich noch menschlichen Top-Position wähnte, entwickelt ein Rollenselbstverständnis, das mit dem eines zu Beratenden konfligieren muß.
Das entscheidendste Hemnis für den Aufbau eines tragfähigen sozialen Beratungskontraktes stellt die narzißtische Persönlichkeitsdynamik von ausgeprägten Charismatikern mit ihren typischen Widerstandsformen dar (Kernberg 1988). Coaching beinhaltet ja immer eine kritische Auseinandersetzung mit dem jeweiligen beruflichen Kontext des zu Beratenden. Genau diese Intention mobilisiert aber beim Charismatiker die gesamte ihm zur Verfügung stehende Abwehr. Das wird sogleich verständlich, wenn wir uns deutlich machen, daß eine Führungskraft dieses Typs überhaupt nur dann Beratung beansprucht, wenn ihre berufliche Welt zu wanken oder gar zu zerbrechen droht. In diesem Stadium fühlt sie sich aber schon so umfassend existentiell gefährdet, daß sie sogar betont liebenswürdig angeleitete Analysen abwerten oder gar paranoid beantworten muß
Aus dieser Sackgasse entkommt der Charismatiker nur, wenn er über den Verlust seiner Außeralltäglichkeit trauert. Die Begleitung eines solchen, in der Regel sehr elementaren Trauerprozesses fällt aber nicht in die Zuständigkeit eines Coach, sondern in die eines Psychotherapeuten. Wie allerdings Kernberg (1988) anmerkt, gelingen solche Prozesse auch in der Psychotherapie nur in Ausnahmefällen.
7. Risiken für die Nachfolger von Charismatikern
Im Gegensatz zu Charismatikern finden wir bei ihren Nachfolgern eine ausgeprägte Bereitschaft, sich beraten zu lassen. Für Art und Ausmaß ihres Leidensdrucks ist allerdings von Belang, wie sie in die “Fußstapfen” des früheren Gurus gelangten.
(1) In diversifizierten oder in Maschinen-Organisationen finden wir vielfach Situationen, wo sich in einem Teilsystem charismatische Konstellationen bilden. Bei Ausscheiden der Führungskraft erfolgt eine Neubesetzung durch vorgesetzte Instanzen, die in die vormals etablierten sozialen Muster nicht verwoben waren, und die vielleicht sogar keinerlei Kenntnis von den vorherigen sozialen Verhältnissen haben. Hier sind dann Nachfolger unversehens mit ausgeprägten Erwartungen der Mitarbeiter konfrontiert, auf die sie in keiner Weise vorbereitet sind. Um Führungskräfte des beschriebenen Typs bilden sich nämlich in der Regel sehr spezifische Organisationskulturen, in die Nachfolger nur in Ausnahmefällen integrierbar sind.
(2) Noch größere Belastungen erleben Nachfolger von Charismatikern, wenn sie vorgesetzte Instanzen ausdrücklich als “bessere Alternative” zu ihrem Vorgänger auswählen. Diese Situation finden wir in Wendephasen von missionarischen Organisationen, wo ein Kuratorium oder ein Vereinsvorstand einen neuen, noch unverbrauchten “Missionar” bestellt, von dem man erwartet, daß er den “Karren aus dem Dreck zieht.” Hier muß sich der Neuling nicht nur mit spezifischen Kulturmustern der alten Ära herumschlagen, hier ist er auch noch bedrängt von Ansprüchen seiner Vorgesetzten, möglichst sofort eine neue Ära zu etablieren.
(3) In unternehmerischen Organisationen, die immer privatwirtschaftlich organisiert sind, wird der Nachfolger in aller Regel vom Charismatiker selbst “berufen”. Dieser Nachfolgetyp gerät in eine noch kompliziertere Situation als die anderen. Als potentielle “Thronerben” wählen Charismatiker vor ihrem Abtreten nur solche Personen aus, die über eine ausgeprägt kollusive Bereitschaft verfügen. Dadurch ist garantiert, daß sie keine alternativen Intentionen verfolgen und einem Vergleich mit ihrem Vorgänger nie standhalten können. Auf diese Weise suchen sich Charismatiker schon zu Lebzeiten ihre posthume Idealisierung zu sichern (Steyrer 1995). Wie Mintzberg (1991) postuliert, initiiert ein derartiger Nachfolger die Bildung verschärfter Kulturmuster, um das Gedenken an den Vorgänger durch Mythen und Symbole zu bewahren. Nun bestehen aber seitens der Gefolgschaft immer starke Äquivalenzansprüche, die ein Nachfolger auch bei extrem konformem Verhalten niemals befriedigen kann. Das erzeugt bei der Gefolgschaft zunehmend Unmut. Der “Erbe” gerät dadurch in ein Dilemma: Alle seine Versuche, den Charismatiker zu imitieren oder gar zu übertreffen, führen auf Seiten der vormaligen Gefolgschaft nur zu seiner Stigmatisierung und er sieht sich unversehens als lächerliche Figur gebrandmarkt. Das wiederum erzeugt beim Nachfolger einen hohen Leidensdruck, der oft zum Bedürfnis nach Beratung führt. Solche Beratungen gestalten sich allerdings ungleich schwieriger als bei den zuerst genannten Nachfolgetypen. Ähnlich der Arbeit mit Charismatikern sind hier ebenfalls narzißtische Widerstände, nun allerdings spiegelbildliche zu erwarten. Im Prinzip kann auch der Charisma-Nachfolger die Unterstützung eines Coach nur nutzen, wenn er seine aktuelle Situation ausgiebig betrauert. Nur dann wird es ihm auch gelingen, sich aus seiner psychischen Abhängigkeit zum Vorgänger zu lösen. Bei “Ko-Charismatikern” manifestiert sich die Abwehr eher in einer überhöhten Bereitschaft, auf soziale Kontrakte mit Beratern einzugehen; denn sie sind ja im Gegensatz zu ihrem Pendant für die Übernahme inferiorer Rollen sozialisiert. Das wiederum führt nicht selten zur naiven Unterwerfung und zur erneuten Abhängigkeit - jetzt allerdings vom Berater.
Ein zentrales Ziel muß es sein, den Nachfolger zu unterstützen, sich von der Selbstdefinition als Stellvertreter und Stadthalter zu lösen. Parallel dazu sollte er ermutigt werden, mit neuen Rollen, wie etwa mit der des Moderators zu experimentieren. Auf diese Weise könnte er z.B. andere Organisationsmitglieder animieren, weiterführende Visionen für das System zu entwickeln.
8. Empfehlungen zur “Charisma-Prophylaxe”
Wie oben angemerkt, können moderne Gesellschaften auf charismatische Phänomene im Sinne “transformationaler Führung” sicher nicht verzichten. So kann es bei Empfehlungen zur “Charisma-Prophylaxe” nur darum gehen, entsprechenden Extremen mit ihren dysfunktionalen Effekten vorzubeugen.
Solche Intentionen lassen sich in erster Linie über Maßnahmen der Personalentwicklung realisieren. Dabei ist zunächst an Schulungen und an Trainings für angehende Führungskräfte zu denken. Während dieser Veranstaltungen sollte man nicht nur über Spezifika von Charismakonstellationen aufklären, man sollte die Teilnehmer auch mit Hilfe von Rollenspielen unterstützen, ihre Interaktionen mit potentiellen Mitarbeitern zu untersuchen und mit unterschiedlichen Handlungsmustern zu experimentieren. Ein zentrales Ziel ist es hierbei, exzentrische Positionen gegenüber sich selbst zu entwickeln und dadurch die Fähigkeit zur Selbstkritik bzw. zur Selbstironie zu erwerben. Menschen mit solchen Haltungen bilden selten extreme Formen sozialer Dramatisierung aus wie sie für ausgeprägte Charismakonstellationen typisch sind. Sie finden diese nämlich vergleichsweise albern.
Wenn Manager oder Sozialmanager ihre ersten Führungspositionen antreten, bietet sich eine andere Maßnahme der Personalentwicklung an: das Coaching. Besonders wenn diese Beratungsform von Anfang an als selbstverständliche Unterstützung für Führungskräfte gilt, garantiert sie eine effektive Prophylaxe gegen Extremisierungen von Charismakonstellationen. Dann wird es für Führungskräfte zur Selbstverständlichkeit, sich mit den eigenen Wirkungen kritisch auseinanderzusetzen. Wenn Coaching in einem organisatorischen System von der Hierarchiespitze an das Image einer innovativen Form der Personalentwicklung erhält, wird es sogar von ausgeprägt narzißtischen Führungskräften beansprucht; denn es wird ihnen ja qua System signalisiert, daß sie als besonders o.k. gelten, wenn sie sich beraten lassen.
Autorin: Dr. phil. Astrid Schreyögg, Dipl.-Psych.; Psychotherapeutin und Supervisorin; Lehr- und Beratungsaufträge im In- und Ausland; Autorin von Lehrbüchern zu Supervision und Coaching; Herausgeberin der Zeitschrift “Organisationsberatung, Supervision, Clinical Management.”
Literatur:
Burns, J.M. (1978): Leadership. New York.
Glasl, F. (1994): Konfliktmanagement. 4. Aufl., Stuttgart.
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